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August Extra/2000
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Kunst für das Reichstagsgebäude

von Andreas Kaernbach

Ein 21 Meter hohes Rechteck aus farbemaillierten Glasflächen in den Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold von Gerhard Richter.
Ein 21 Meter hohes Rechteck aus farbemaillierten Glasflächen in den Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold hat Gerhard Richter für die Eingangshalle des Westportals geschaffen.

Seit das Reichstagsgebäude am 19. April 1999 als Plenargebäude des Deutschen Bundestages seiner Bestimmung übergeben wurde, kann der Besucher des Deutschen Bundestages nicht nur dessen von Lord Foster entworfene Architektur bewundern, sondern auch eine Reihe von Kunstwerken, die in- und ausländische Künstler und Künstlerinnen für das Parlamentsgebäude geschaffen haben. Für diese Kunst-am-Bau-Werke stand ein bestimmter Prozentsatz der Bausumme zur Verfügung. Bei der Entwicklung des Kunstkonzeptes, das alle drei Parlamentsbauten, Reichstagsgebäude, Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sowie das Jakob-Kaiser-Haus, übergreift, ließ sich der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages von Kunstsachverständigen in Abstimmung mit den Architekten und der Bundesbaugesellschaft Berlin mbH beraten.

Entsprechend diesem Kunstkonzept fanden für die Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes, das durch seinen besonderen historischen und politischen Rang ausgezeichnet ist, Werke international anerkannter Künstlerpersönlichkeiten Berücksichtigung, darunter, als Reverenz an den ehemaligen Vier-Mächte-Status von Berlin, Werke von Künstlern aus den USA, Frankreich und Russland. Großbritannien ist durch den Architekten Foster vertreten. Zu Entwürfen aufgefordert wurden insbesondere Künstler, die bereit waren, sich mit diesem Ort und seiner Geschichte produktiv auseinander zu setzen. Im Bereich des Jakob-Kaiser-Hauses und des Paul-Löbe-/Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hingegen sind als Ergebnis der Kunstwettbewerbe und der Vergabeverfahren überwiegend jüngere Künstlerinnen und Künstler beauftragt worden.

In der Westeingangshalle des Reichstagsgebäudes wird der Besucher von Arbeiten von Sigmar Polke und Gerhard Richter empfangen. Beide Künstler standen vor der schwierigen Aufgabe, jeweils über 30 Meter hohe Wände auszugestalten. Gerhard Richter hat ein Farbkunstwerk von 21 Meter Höhe und 3 Meter Breite in den Farben Schwarz-Rot-Gold entworfen. Die Farben werden auf die Rückseite großer Glastafeln aufgetragen und erinnern – nicht ohne Hintersinn – an die Farben der deutschen Bundesflagge. Aber sowohl das hochrechteckige Format als auch die spiegelnden Glasflächen machen deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer Flagge handelt, sondern um ein autonomes Farbkunstwerk. So ist es Gerhard Richter gelungen, mit sparsamen künstlerischen Mitteln eine zurückhaltende und gerade dadurch überzeugende künstlerische Gestaltung zu finden. Die großen homogenen Farbfelder sind harmonisch auf die Ausmaße der Wandfläche abgestimmt und bieten so in der riesigen Halle dem Auge des Betrachters einen optischen Ruhepunkt und zugleich geistigen Raum für vielfältige Assoziationen und Reflexionen.

Christian Boltanski, "Archiv der Deutschen Abgeordneten".
Christian Boltanski schuf für das Untergeschoss am Osteingang 1999 das "Archiv der Deutschen Abgeordneten": 5.000 Metallkästen, beschriftet mit den Namen aller Reichs- und Bundestagsabgeordneten, die zwischen 1919 und 1999 demokratisch gewählt wurden.

Sigmar Polke hingegen installiert an der gegenüberliegenden Wand der Westeingangshalle Leuchtkästen mit heiter-ironischen Bildzitaten aus Politik und Geschichte, so u.a. mit einer Darstellung des "Hammelsprungs" oder mit einer verfremdeten Ansicht der Germania des Niederwalddenkmals. Seine Arbeit verdichtet historisch-politische Aussagen auf mehreren Leuchtkästen an der großen Wandfläche in zweifacher Hinsicht: Einmal nehmen die Leuchtfelder einen relativ kleinen Raum ein. Zum Anderen wird in ihnen durch eine in der Wirkung der Holographie vergleichbare Technik – die der Vorliebe Sigmar Polkes zum Experimentieren mit ungewohnten Maltechniken entspricht – die optische Täuschung hervorgerufen, dass sich die einzelnen Bildmotive bewegen und übereinander verschieben, vergleichbar den historischen Erinnerungen, die sich bei Menschen im Laufe eines Lebens oder im Laufe von Generationen gedanklich überlagern. Auf diese Weise bezieht Polke auch formal eine Gegenposition zu der ruhigen, eher statisch wirkenden Arbeit von Gerhard Richter.

Für die Südeingangshalle wiederum greift Georg Baselitz in großformatigen Leinwandgemälden Motive des Malers der Romantik Caspar David Friedrich auf. Auch in diesen Bildern hat er, wie er es seit Ende der sechziger Jahre zu tun pflegt, seine Motive auf den Kopf gestellt, um die formale Gestaltung der Komposition in den Vordergrund zu stellen. Als Vorlage haben ihm Holzschnitte nach Caspar David Friedrichs Motiven "Die Frau am Abgrund", "Melancholie" und "Der schlafende Knabe am Grabe" gedient, die er in einer leichten und transparenten Malweise seiner künstlerischen Ausdrucksweise anverwandelt hat. Das jeweilige Motiv wiederholt sich vielfach in einer bordürenartigen Einfassung der Mittelfigur. Diese wird magentafarben hinterfangen und dadurch schwerpunktartig hervorgehoben. Die gleichsam im Wesenlosen schwebenden Mittelfiguren ebenso wie die nur in Grau- und Schwarztönen gehaltenen Rahmenfiguren erwecken im Betrachter eine melancholische Gestimmtheit.

"Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys, entstanden 1958/85, befindet sich vor dem Abgeordnetenrestaurant.
"Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys, entstanden 1958/85, befindet sich vor dem Abgeordnetenrestaurant.

Carlfriedrich Claus, ein in der ehemaligen DDR in die innere Emigration gedrängter Künstler, ist mit seinem "Aurora-Experimentalraum" vertreten. Der Künstler hatte noch kurz vor seinem Tod die Installation seiner Arbeiten bestimmen können. Er verstand sich selbst als überzeugten Kommunisten. Aber im Gegensatz zum dogmatischen Schulmarxismus beharrte er so entschieden auf einem mystisch verstandenen utopischen Charakter der Ideologie, dass er sich die Gegnerschaft des SED-Regimes zuzog. Mit dem Aurora-Raum, der das Morgendämmern der Utopie verkünden soll, will er seiner Sehnsucht "nach der Aufhebung des Entfremdetseins von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen" Ausdruck verleihen.

Carlfriedrich Claus hat seine vom Mystizismus, von der Kabbala und von marxistischer Philiosophie geprägten Gedankengänge auf Pergament oder Glastafeln sowohl auf deren Front- als auch auf deren Rückfläche notiert. Diese Schriftzüge verengen, überschneiden sich fortlaufend zu Schriftgestalten, eigenen ästhetischen Gestaltungen also, denen sowohl Schrift- als auch Bildcharakter eigen ist. Auf Bildtafeln übertragen, ragen diese symbolhaften Zeichen, erwachsen aus träumerischem Grübeln und poetischem Philosophieren, in den Raum. So hat Carlfriedrich Claus einen ganz eigenen und sich jeder kunsthistorischen Einordnung entziehenden Weg zwischen Poesie, Philosophie, Mystik und Schriftkunst gefunden.

"1840" von Markus Lüpertz spielt auf William Turners Rheinreise.
"1840" von Markus Lüpertz spielt auf William Turners Rheinreise in jenem Jahr an. Es ist bündig in die Stirnwand des Abgeordnetenrestaurants eingelassen.

Die umfassendste künstlerische Gestaltung im Reichstagsgebäude hat der Düsseldorfer Künstler Günther Uecker vorgenommen. Ihm war die schwierige Aufgabe gestellt, ein zeitgemäßes sakrales Interieur für den Andachtsraum zu entwerfen. Wenige Künstler dürften für diese Aufgabe so prädestiniert sein wie Günther Uecker, der sich schon in einer Reihe bedeutender Arbeiten mit Fragen der Gefährdung, der Hoffnung und der Rettung des Menschen beschäftigt hat. Ihm ist es gelungen, auf der Grundlage theologischer Überlieferungen mit sparsamen bildnerischen und architektonischen Ausdrucksmitteln einen Raum zu gestalten, der zu Meditation und innerer Einkehr anregt. Durch den Einbau einer zur Seite hin offenen Zwischenwand vor den Fenstern führt Uecker das Licht indirekt in den Raum, der auf diese Weise die mystische Aura einer frühmittelalterlichen Krypta gewinnt. Er erhält seine Akzentuierung durch kraftvolle skulpturale Elemente, wie den Altar aus sandgestrahltem Granit, durch eigens entworfene Stühle und Bänke sowie durch sieben hohe Holzbildtafeln, die in leichter Schräge an die Wände gelehnt sind. Auf diesen Tafeln hat Uecker mit Nägeln, Farbe, Sand und Steinen eine bildnerische Gestaltung vorgenommen. Die Tafeln visualisieren die Wüsten im Heiligen Land als dem Geburtsort jüdisch-christlicher Spiritualität. Tod und Auferstehung werden zu eindrucksvollen suggestiven Bildern verdichtet.

Den Sitzungsraum für eines der wichtigsten parlamentarischen Gremien, den Ältestenrat, hat der Stuttgarter Künstler Georg Karl Pfahler gestaltet. Farbige Rechtecke scheinen, mit einer geschickten optischen Täuschung inszeniert, von den Wänden herabzufallen, ja geradezu über die Holzpaneele des Architekten hinwegzutanzen. Souverän reagiert der Künstler auf die vorgegebenen starkfarbigen Holzpaneele und setzt ihnen ein durchdachtes eigenes Farbkonzept entgegen, das vom Gegen- und Miteinanderspielen der Farben, ihrer Überlagerung und Weiterentwicklung lebt und auf diese Weise eine eigene Farbräumlichkeit schafft. Durch Pfahlers spezifisch süddeutschen Akzent ist das Reichstagsgebäude um einen heiter-festlichen Raum reicher geworden.

Der "Aurora-Experimentalraum" von Carlfriedrich Claus soll das Morgendämmern der Utopie verkünden.
Der "Aurora-Experimentalraum" von Carlfriedrich Claus soll das Morgendämmern der Utopie verkünden.

Im Gegensatz zu der umfassenden Weltschau von Carlfriedrich Claus wendet sich die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer – in bewusster Beschränkung – der Geschichte des Reichstagsgebäudes zu. Sie lässt in der Nordeingangshalle auf einer Stele digitale Leuchtschriftbänder mit Reden von Reichstags- und Bundestagsabgeordneten ablaufen. In der Kuppel schließlich informiert eine Ausstellung über die Geschichte des Parlamentarismus, soweit sie sich im Reichstagsgebäude abgespielt hat. In der Ausstellung werden bisher wenig bekannte Fotos des berühmten Bildchronisten der Weimarer Republik, Erich Salomon, zu sehen sein, die – nicht gestellt – einen Eindruck von der alltäglichen parlamentarischen Arbeit im Reichstag der zwanziger Jahre vermitteln.

Weitere Künstler, darunter Katharina Sieverding mit der Gedenkstätte für die verfolgten Reichstagsabgeordneten, zeigen mit ihren Kunstwerken im Reichstagsgebäude einen lebendigen Querschnitt durch die aktuelle deutsche und internationale Kunstszene. Entsprechende Werke schufen u.a. Christian Boltanski, Ulrich Rückriem, Bernhard Heisig, Grisha Bruskin, Markus Lüpertz, Anselm Kiefer, Gotthard Graubner, Jürgen Böttcher-Strawalde, Lutz Dammbeck, Emil Schumacher, Rupprecht Geiger und Hanne Darboven. Von weiteren Künstlern erfolgten Ankäufe. Erst nach der Sommerpause wird das Kunstprojekt von Hans Haacke für den nördlichen Innenhof realisiert werden. Über die Frage der Realisierung dieses Projektes hatte es eine spannende und kontroverse Debatte im Plenum gegeben (Bericht Blickpunkt 4/2000).

Ein solch umfassendes und durchdachtes Kunstkonzept, wie es nunmehr im Reichstagsgebäude besichtigt werden kann, stellt ein beeindruckendes Bekenntnis des Parlamentes zur Kunst dar. Beide Bereiche, die Kunst und die Politik, nehmen auf diese Weise die Chance wahr zu einem geistig inspirierenden Dialog.





Zum Üben für zukünftige Kanzler: "Kleines Kanzleramt" der Berliner Künstlerin Christine Gersch auf dem Dach der Bundestagskita.
Zum Üben für zukünftige Kanzler: "Kleines Kanzleramt" der Berliner Künstlerin Christine Gersch auf dem Dach der Bundestagskita.

In Sichtweite des Reichstagsgebäudes liegt die Kindertagesstätte des Deutschen Bundestages. Sie wurde vom Wiener Architekten Gustav Peichl gestaltet und ruft – unmittelbar an der Spree gelegen – Assoziationen an ein elegant-verspieltes Schiff wach. Spielen können sollen auch die Kinder in diesem Gebäude, und so wurde von der Berliner Künstlerin Christine Gersch zusammen mit dem Architekten ein besonders kindertümliches Kunstprojekt entwickelt. Auf dem begrünten Dach, von dem aus das künftige Kanzleramt zu sehen ist, können die Kleinen durch eine Art Kasperletheater klettern, das wie das am Horizont sichtbare Kanzleramt gestaltet ist. Sie brauchen nicht am Zaun des echten Kanzleramtes zu rütteln, sie können gleich selber Kanzler spielen – und der Kanzler kann ihnen dabei vom Kanzleramt aus amüsiert zusehen. Ferner erweisen sich auf dem Dach der Kindertagesstätte vier farbenfrohe Skulpturen, die Kobolde darstellen, als wahre Schutzgötter. Sie akzentuieren nicht nur ästhetisch den Dachgarten, sondern hindern zugleich die Kinder, gefährliche Dachschrägen hinaufzuklettern. So hat die Künstlerin mit leichter Hand Politik und Kunst, Kinderspiel und Lebensernst vereint.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bpextra/extr044
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