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Januar 01/2001
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TITELTHEMA

Der Bundestag und die Jugend

Dialoge für die Politik von morgen

Die Opposition von heute kann morgen die Regierung sein. Und die Regierung von heute morgen Opposition. Mag dieser Grundsatz im politischen Alltag manchmal verdeckt sein, ein anderer ist noch weniger präsent, aber mindestens so wichtig: Demokratie hat nur Zukunft, wenn ihre Grundlagen von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Denn genau genommen werden Regierung und Opposition von morgen von der nächsten Generation gestellt. Ob es nun künftige Wähler oder künftige Gewählte sind – viele von ihnen drücken heute noch die Schulbank. Deshalb gehört es zu den sinnvollsten Zukunftsinvestitionen, die Jugend an das parlamentarische System heranzuführen. Mit einer breiten Palette von Programmen versucht der Bundestag, möglichst viele Interessen anzusprechen. Damit die Jugend von heute weiß, was morgen auf sie zukommt. Und wo sie heute schon gefragt ist.

Jugendliche auf der Besuchertribüne des Bundestages.
Jugendliche auf der Besuchertribüne des Bundestages.

Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Ende Januar wurde dies wieder besonders deutlich. Eindringlich mahnten Redner im Bundestag und an vielen Orten der Republik, die schrecklichen Verbrechen der NS-Herrschaft nicht zu vergessen und daraus Lehren für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Aber: Je länger Massenmorde, Rassenwahn und Verfolgung im "Dritten Reich" zurückliegen, desto wichtiger wird die Form des Erinnerns. Je weniger Einzelne einer Gesellschaft sich selbst an das Geschehene erinnern können, desto mehr Menschen müssen durch andere Formen angesprochen werden. Deshalb gehört gerade in diesem Bereich die Jugend an die Seite der aktiven Politik. Und genau so sah es auch bei der offiziellen Gedenkstunde im Plenarsaal des Bundestages aus: Neben gewählten Abgeordneten nahmen Jugendliche aus Deutschland, Polen und Frankreich auf den Sitzen der Volksvertreter Platz (siehe Seite 64).

Es war viel mehr als nur diese symbolische Geste. Die 200 jungen Leute engagieren sich überall im Lande in Verfolgtenverbänden, an Gedenkstätten, Geschichtsprojekten, Initiativen für Begegnungen und Aktionen gegen Rassismus. Diese Vielfalt an praktizierten Ideen ergänzte somit die Gedenkstunde. Und sie vermittelte in Gesprächen und Diskussionen einen Eindruck von künftigen Formen der Erinnerung. Sowohl Bundespräsident Johannes Rau als auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse setzten sich mit den Jugendlichen zusammen, um ihre Erfahrungen kennen zu lernen.

Patentrezepte standen naturgemäß nicht am Ende dieser dreitägigen Jugendbegegnung rund um den Gedenktag. Aber die Mitwirkenden nahmen viele Anregungen auf. Gerade diese Vernetzung verschiedenster Projekte stand für Gabriele Gün Gön Tank (24) von der Berliner Band "Böse Mädchen" im Vordergrund. Und auch Jan Schneider (16) von einem Münsteraner Internetprojekt fand es "unglaublich interessant, mit was sich die anderen so beschäftigen" – Fortsetzung folgt, und zwar auf der Homepage seines Projektes ( www.pasttopresent.de).

Immer wieder Reden zum Thema zu halten, sei wichtig, "aber noch wichtiger ist es", so Thilo Jörgl von der deutsch-israelischen Gesellschaft in Augsburg, "wie man das so umsetzt, dass es Jugendliche anspricht". Und dafür hat der 27-Jährige während des Drei-Tage-Programms des Bundestages interessante Hinweise durch die hochkarätigen Gesprächspartner und den Besuch einiger Gedenkstätten mit modern aufbereiteter Dokumentation erhalten. Mit im Programm: Die populäre Schauspielerin Iris Berben, die zusammen mit ihrem Sohn Oliver einen Dialog aus einem Auschwitz-Aufklärungsbuch las und schon in der Begrüßung klar machte, wie sie zu den Teilnehmern steht: "Liebe Verbündete" (siehe S. 10-11).

Politischer Praxistest: Junge Leute im Bundestag.
Politischer Praxistest: Junge Leute im Bundestag.

Ein ganz anderes Fazit zog Renata Bardzik: "Danke, dass Sie uns nicht vergessen haben – das tut uns gut", meinte sie namens der Jugendbegegnungs- und Gedenkstätten in Kreisau und Auschwitz.

Der internationale Aspekt wird auch bei anderen Jugendprogrammen des Bundestages besonders hervorgehoben. Zum Beispiel bei den Internationalen Parlaments-Praktika, kurz IPP. Seit den 80er Jahren läuft dieses Angebot für junge US-Bürger, die ihren ersten Studienabschluss bereits erreicht haben und das Funktionieren der deutschen Demokratie von innen kennen lernen möchten. Im Laufe der Zeit sind Absolventen aus immer mehr Staaten hinzugekommen, so aus Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Russland, der Slowakei, Tschechien, der Ukraine und Ungarn. Auch die südosteuropäischen Staaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und Slowenien werden von diesem Herbst an dabei sein. In einem Sonderprogramm tauschen die Humboldt-Universität zu Berlin und die französische Nationalversammlung jüngere Hochschulabsolventen direkt aus.

In Zusammenarbeit mit den sechs politischen Stiftungen erhalten die hoch motivierten Gäste zunächst einen Überblick über die historischen und sozialen Voraussetzungen des politischen Systems. Dann übernehmen die derzeit rund 80 jungen Damen und Herren in den Abgeordnetenbüros möglichst viele der Tätigkeiten, die auch die übrigen MdB-Mitarbeiter verrichten. Die deutschen Gastgeber haben viele von ihnen schon bald auf interessanten Positionen wieder gesehen, etwa als Berater von Parlaments- oder Staatspräsidenten, im Diplomatischen Dienst oder in der Wissenschaft. Dort zehren sie von ihren tiefen Einblicken und von dem fundierten Deutschlandbild, das sie während ihrer fünfeinhalb- bis neunmonatigen Aufenthalte gewonnen haben.

Aber auch in dieser Zeit ist das Kennenlernen schon keine Einbahnstraße. Ihre deutschen Kollegen und die Abgeordneten erfahren vieles aus dem Alltag der Herkunftsländer – und manchmal auch faszinierende Kulturtechniken. So erinnert sich eine Bürogemeinschaft noch gerne an die Mittagspausen, in denen die ganze Crew auf dem Boden liegend oder im Kopfstand unter Anleitung ihres jungen Gastes andere Formen der Entspannung und Konzentration erfuhr.

Die Abkürzung CBYX sagt den wenigsten etwas. Doch das dahinter stehende "Congress-Bundestag Youth Exchange Program" – in Deutschland als "Parlamentarisches Patenschafts-Programm" (PPP) bekannt – hat inzwischen schon 13.000 junge Leute über den großen Teich geführt. Vom US-Kongress und dem Deutschen Bundestag zum 300. Jahrestag deutscher Ansiedlung in Amerika 1983 ins Leben gerufen, bietet es älteren Schülern und jüngeren Berufstätigen einen einjährigen Aufenthalt im jeweils anderen Land, ein Leben in einer Gastfamilie und nähere Kontakte zum politischen Alltag. 400 Abgeordnete wählen jedes Jahr aus einem fast 20 Mal so großen Bewerberkreis 400 Mädchen und Jungen aus, die – unterstützt von professionellen Austauschorganisationen – auf die große Reise gehen können und dabei unvergessliche Eindrücke gewinnen.

Freizeit: Jugendliche beim Skaten.
Freizeit: Jugendliche beim Skaten.

Bei weitem nicht nur die Preisträger des Europäischen Wettbewerbs "Europa in der Schule" werden außerdem vom Bundestag eingeladen, das Parlament in Berlin zu besuchen. Unter den rund 500.000 Bundestagsbesuchern des vergangenen Jahres waren 93.000 Jugendliche und Studenten. Und das Interesse ist weiter steigend. In der Regel treffen sie die Abgeordneten ihres Wahlkreises, um mit ihnen das im Plenum Miterlebte besprechen und noch mehr von der parlamentarischen Praxis erfahren zu können. Auch die Fraktionen beteiligen sich an den Programmen, mit denen junge Leute den Bundestag live und auch hinter den Kulissen erleben können. Zum Beispiel in zahlreichen speziellen Seminaren für die verschiedensten Fachgruppen, wie etwa Studenten, junge Lehrer oder Journalisten, die in ein- oder mehrtägigen Veranstaltungen ein fundiertes Bild von der Arbeit des Bundestages gewinnen und dies als "Multiplikatoren" auch weitervermitteln können.

Aus regelmäßigen Fragestunden zu Jugendthemen entwickelte sich zudem die Reihe "Jugend und Parlament", in deren Rahmen jährlich rund 450 junge Frauen und Männer das Funktionieren der Demokratie aus ganz persönlicher Perspektive erfahren. Sie werden während ihres dreitägigen Aufenthaltes in Berlin von den Repräsentanten des Parlamentes und seiner Fraktionen in die Arbeitsweise der Profis eingeführt – und bilden sodann selbst ein Jugendparlament, das sich in Arbeitskreisen mit jugendnahen Fachthemen auseinander setzt und darüber im Plenum die große Aussprache sucht. Gewählte Abgeordnete begleiten die Gäste bei ihrem Praxistest und erfahren so auch selbst eine Menge vom Denken und den Problemen der jungen Besucher. Wie die "richtigen" Sitzungen des Bundestages werden auch diese Debatten in stenografischen Berichten festgehalten. "Beifall links sowie vereinzelt rechts" oder "Beifall rechts und vereinzelt links" lassen schon in diesen Berichten darauf schließen, dass der Nachwuchs mit großer Ernsthaftigkeit den Spuren der Abgeordneten folgt, sich manchmal in seinen Grundeinstellungen sogar an der Sitzordnung der Fraktionen orientiert.

Wie die Jugend selbst, sind aber auch die Jugendangebote des Bundestages nie abgeschlossen und selbst in Bewegung. So wird derzeit überlegt, eine "Werkstatt der Politik" neu einzurichten, in der die Jugendlichen die Abgeordnetenarbeit ganz unmittelbar begleiten können. Vor allem sind eigene Ideen der jungen Leute gefragt. Ganz konkret: Wer einen Vorschlag hat, wie die nächste Generation das Parlament noch besser begreifen und kennen lernen könnte, sollte ihn nicht für sich behalten (Adresse: Deutscher Bundestag – Besucherdienst/Stichwort "Jugendprojekte" – Platz der Republik, 11011 Berlin, oder einfach per E-Mail an michael.reinold@ bundestag.de)

 

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0101/0101006
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