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06/2002
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Dialog

Streitgespräch über den Arbeitsmarkt

Mehr Jobs durch Reformen?

Die Reform des Arbeitsmarktes wird eines der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf sein. Sollen Flächentarifverträge so flexibilisiert werden, dass Betriebsräte und Geschäftsleitungen weitreichende Entscheidungen beispielsweise über Beschäftigungsfragen treffen können? Ist der Kündigungsschutz tatsächlich ein Hemmnis bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze? Der sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Brandner, und der Sprecher der CSU-Landesgruppe für Arbeit und Soziales, Johannes Singhammer, diskutieren darüber.

Johannes Singhammer
Klaus Brandner

Blickpunkt Bundestag: Die gegenwärtige Tarifrunde hat die Frage aufgeworfen, inwiefern eine Abkehr von strikten Flächentarifverträgen den Arbeitsmarkt beleben könnte. Herr Brandner, können kleine betriebsinterne Bündnisse für Arbeit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber die Beschäftigung in Deutschland fördern?

Klaus Brandner: Der Flächentarifvertrag hat eine hohe politische Bedeutung. Ihn durch die Hintertür auszuhöhlen, ist ein untaugliches Rezept, betriebliche Krisensituationen zu überwinden. Dennoch sind die Tarifparteien gut beraten, betrieblich mehr Flexibilität zu ermöglichen. Den Tarifparteien würde ich empfehlen: Sorgt dafür, dass in einer betrieblichen Krisensituation die Gestaltungsräume für Beschäftigungssicherung ausreichen.

Blickpunkt: Die Union sieht das anders?

Johannes Singhammer: Wir stehen zum Flächentarifvertrag, aber wir wollen mehr Spielraum. Selbst die Gewerkschaften überlegen derzeit, wie mehr Flexibilität erreicht werden kann. Uns geht es um die Änderung des Günstigkeitsprinzips, das arbeitsvertraglichen Regelungen Vorrang einräumt, wenn sie für den Arbeitnehmer besser sind als der Tarifvertrag.

Blickpunkt: Was genau wollen Sie ändern?

Singhammer: Im Kern geht es uns darum, dass in das Günstigkeitsprinzip auch die Beschäftigungsaussichten mit einbezogen werden. Das ist bislang nicht möglich. Damit können Flächentarifverträge erhalten bleiben und Arbeitsplätze gesichert werden.

Im Gespräch: Johannes Singhammer ...

Im Gespräch: Johannes Singhammer ...

Brandner: Das wäre ein sehr gefähr-liches Instrument. Der Betriebsrat würde zur eigenständigen Tarifvertragspartei, und die Gewerkschaften würden geschwächt. Damit wäre auch die Tarifautonomie geschwächt, weil es keine Balance mehr gäbe zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Deshalb soll das Günstigkeitsprinzip in der jetzigen Form beibehalten werden.

Blickpunkt: Welche Möglichkeiten sehen Sie derzeit generell zur Reform des Arbeitsmarkts?

Singhammer: Unser Anliegen ist zunächst, falsche Weichenstellungen zu korrigieren, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es geht um drei Punkte. Erstens das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit, das dazu führt, dass Arbeitsverhältnisse nicht mehr eingegangen werden. Zweitens das Teilzeitgesetz, das Einstellungen verhindert, weil Unternehmer das Gel- tendmachen von Teilzeitansprüchen fürchten. Drittens werden wir im Niedriglohnbereich die Mini-Jobs bis 400 Euro möglichst unbürokratisch gestalten. Die Geringverdiener-Jobs über 400 Euro sollen zudem attraktiver gemacht werden als der Empfang von Sozialhilfe. Deshalb sollten die Lohnnebenkosten für den Arbeitnehmer günstiger gestaltet werden.

Blickpunkt: Wie viele Arbeitsplätze schaffen Sie mit diesen Maßnahmen?

Singhammer: Wir glauben, dass wir allein durch die Neuregelung für die Mini-Jobs mehrere 100.000 Menschen aus der Schwarzarbeit zurückholen. Insgesamt würden die genannten Schritte bis zu 800.000 Arbeitsplätze neu schaffen.

Brandner: Ich teile diese Auffassung nicht. Das Stichwort "Aus der Schwarzarbeit zurückholen" zeigt, dass es keine zusätzlichen Arbeitsplätze gibt. Die Beschäftigungseffekte einer solchen Subvention des Niedriglohn-Sektors sind absolut gering, der Kostenaufwand langfristig riesig. Unter dem Gesichtspunkt scheint uns das kein Rezept zu sein, die Arbeitslosigkeit wirksam stärker zu bekämpfen.

Blickpunkt: Ihre Alternative?

Brandner: Die von der Regierung eingeleiteten Reformen haben bereits eine Menge Impulse gegeben, dies gilt auch für die Zunahme der Teilzeit. Wenn es um die Veränderung von arbeitsrechtlichen Vorschriften geht, erinnere ich an die Schritte der Regierung Kohl zur Einschränkung des Kündigungsschutzes und zur Reduzierung der Lohnfortzahlung. Die Zahl der Beschäftigten in Kleinbetrieben stieg nicht an, sondern ging deutlich zurück. Das belegt, dass arbeitsrechtliche Vorschriften am wenigsten mit der Arbeitsmarktentwicklung zu tun haben.

Singhammer: Aber die derzeitige Situation ist doch schlimm und wird von allen auch so empfunden. Deshalb sind jetzt Maßnahmen nötig, um dieses Ziel zu erreichen.

Brandner: Ich sehe die gegenwärtige Lage anders. Wir sind zum ersten Mal in der Nachkriegszeit in einer Situation, wo wir aus einer Krise mit nicht so einer hohen Arbeitslosigkeit herauskommen, wie wir hineingegangen sind. Es ist erstmals der Fall, dass ein Aufschwung auf einem niedrigeren Sockel an Arbeitslosigkeit stattfindet.

Singhammer: Klar, dass Statistik unterschiedlich gewertet wird. Uns macht besorgt, dass wir erstmals seit der Gründung der Europäischen Union über dem Durchschnitt der EU-Arbeitslosenquote liegen. Wir nehmen also nicht teil an der günstigeren Entwicklung in den anderen Ländern Europas.

Brandner: Sie kennen die Gründe. Wenn Sie Westdeutschland als eigenen Wirtschaftsbereich betrachten, dann liegen wir in der Wirtschaftsentwicklung im oberen Drittel, wenn Sie Deutschland insgesamt sehen, dann liegen wir im Mittelfeld. Das hat natürlich mit den Folgen der Einheit zu tun.

Singhammer: Das kann nicht die Entschuldigung dafür sein, dass wir im wirtschaftlichen Vergleich hinter Portugal und Griechenland zurückfallen. Die Probleme liegen unabhängig von der deutschen Einheit in den falschen Weichenstellungen auf dem Arbeitsmarkt.

... und Klaus Brandner.

... und Klaus Brandner.

Blickpunkt: In Deutschland wird immer wieder der Kündigungsschutz genannt, wenn die Hemmnisse für Neueinstellungen aufgezählt werden.

Singhammer: Wir denken nicht daran, den Kündigungsschutz aufzuweichen.

Blickpunkt: In Ihrem Wahlprogramm steht das anders. Danach sollen ältere Arbeitnehmer durchaus eine Einschränkung des Kündigungsschutzes hinnehmen, wenn sie eine neue Stelle antreten.

Singhammer: Der Kündigungsschutz bleibt im Kern erhalten. In der Tat soll allerdings die Möglichkeit geschaffen werden, an Stelle einer Kündigungsschutzklage eine Abfindung zu vereinbaren. Dies soll in Form einer individuellen Vereinbarung geschehen.

Brandner: Das würde genau dazu führen, dass es keine Einstellungen gibt, wenn die Vereinbarung nicht zu Stande kommt! Diese Vereinbarung ist ja das Ziel der Union. Wahlfreiheit hätte der Arbeitnehmer keineswegs.

Blickpunkt: Die Union will die privaten Haushalte als potenzielle Arbeitgeber aktivieren und auf diese Weise Arbeitsplätze schaffen. Die SPD hat sich die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Ziel gesetzt. Ist dies damit nicht ein Thema, an dem Union und SPD am selben Strang ziehen können, Herr Brandner?

Brandner: Nein, gerade in diesem Punkt sind die gesellschaftlichen Orientierungen recht unterschiedlich. Die SPD will flexiblere Arbeitszeitregelungen, mehr Teilhabemöglichkeiten, mehr Teilzeit und mehr Möglichkeiten für Freistellungen. Wir werden allerdings in der nächsten Legislaturperiode in Augenschein nehmen, wie der haushaltsnahe Dienstleistungsbereich gefördert werden kann, um die Beschäftigungspotenziale besser erschließen zu können.

Singhammer: Die Union will hier sofort handeln. Wir wollen, dass die Frauen Wahlfreiheit haben und sich beispielsweise Betreuungsleistung einkaufen können. Aus diesem Grund schlagen wir das Familiengeld in Höhe von 600 Euro vor. Dies können Eltern einsetzen, um ihre Kinderbetreuung zu organisieren. Das Beschäftigungspotenzial wird immerhin auf 300.000 Stellen geschätzt.

Brandner: Die entscheidende Frage ist doch: Was sind Familien bereit, für solche Dienstleistungen auszugeben. Diese Gesellschaft ist noch keine Dienstleistungsgesellschaft, die massenhaft nach solchen Leistungen nachfragt. Man sollte das fördern. Aber mit Schnellschüssen und einem Riesensubventionsprogramm ist uns da nicht gedient.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0206/0206044a
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