Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > PARLAMENT > Präsidium > Reden > 2000 >
Reden
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, beim Trauerstaatsakt für Josef Felder im Reichstagsgebäude in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort

"Wir gedenken heute unseres ehemaligen Kollegen Josef Felder. Am 24. August 1900 in Augsburg geboren, ist er im Alter von einhundert Jahren am 28.10.2000 in München für immer von uns gegangen. Nur selten umfasst die Lebenszeit eines Menschen ein ganzes Jahrhundert - und nicht oft steht ein Lebenswerk in so eindrucksvoller Weise unbeirrbar im Zeichen einer Idee. Der geradlinige und mutige Lebensweg, den Josef Felder durch die Abgründe dieses Jahrhunderts deutscher Geschichte gegangen ist, war stets bestimmt von demokratischen Tugenden, auf die unsere Zivilgesellschaft heute wie morgen dringend angewiesen ist. Deshalb wollen uns in dieser Stunde über die Parteigrenzen hinweg mit Dankbarkeit, Respekt und Bewunderung an eine demokratische Jahrhundertgestalt erinnern.
 
Im Kaiserreich geboren, verlebte Josef Felder die Kinderjahre in Augsburg, München und Mindelheim. Schon aus seiner Schulzeit ist ein bemerkenswertes Ereignis überliefert. In der dritten Klasse wollte der Schüler Josef Felder nicht einsehen, dass alle anderen Klassen "Hitzefrei" - in Bayern sagte man "Hitzevakanz" - bekamen, nur seine Klasse nicht, weil der diktatorische, jähzornige Lehrer dies ohne Begründung ablehnte. Der kleine Josef hat sich damals mutig bei der Schulaufsicht beschwert - und dafür von seinem brutalen Lehrer eine schlimme Tracht Prügel erhalten.

Diese kleine Schulepisode ist aus zwei Gründen erinnernswert, ja von symbolischer Bedeutung: der Deutschlehrer war kein anderer als Julius Streicher, der später zu Hitlers schlimmsten und brutalsten Gefolgsleuten gehörte. Und der Widerspruch des Drittklässlers gegen die kleine Ungerechtigkeit lässt schon jenes widerständige Grundelement im Denken und Handeln von Josef Felder erkennen, dem er auch gegenüber größeren und gefährlicheren Diktatoren treu blieb.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlernte Josef Felder das Handwerk eines Druckers und Setzers. Schon bald wechselte er jedoch ins journalistische Fach über - und er heiratete 1923 seine Frau Maria, die ihm und der rasch wachsenden Familie sechzig Jahre aufopferungsvoll zur Seite stand. Das Ende des Kaiserreiches und der Aufbau der Weimarer Republik weckten sein politisches Interesse und führten zu seiner Bindung an die Sozialdemokratie. In seiner politischen Arbeit - u.a. als Stadtrat von Augsburg - setzte er zwei Schwerpunkte: Einsatz für die junge Generation und entschiedenen Widerstand gegen den immer stärker werdenden Nationalsozialismus. Josef Felder hatte Hitler bereits 1920 im Münchener Hofbräuhaus erlebt und empfand seinen dumpfen Populismus schon damals als "abstoßend". Diese Einschätzung der Person wie der Partei sah er durch den hasserfüllten Kampf der Nationalsozialisten gegen die Weimarer Demokratie mehr und mehr bestätigt. Als Josef Felder 1932 für den Reichstag kandidierte, lautete sein Wahlkampfmotto deshalb kompromisslos: "Hitler bedeutet Krieg!"

Als Kandidat für den Reichstag erlebte unser verstorbener Kollege 1932 und 1933 eine Brutalisierung des politischen Geschehens, die man sich heute zum Glück nur noch schwer vorstellen kann. Es gab wahre Straßenschlachten und Wahlkampfversammlungen, bei denen scharf geschossen wurde. Josef Felder hielt Wahlkampfreden, bei denen er nur durch die Begleitung einer Schutztruppe zum Rednerpult und wieder sicher aus dem Saal hinaus gelangen konnte. Daran änderte seine Wahl in den Reichstag nichts, im Gegenteil: nach Recht und Gesetz gewählte Abgeordnete wurden damals zum Freiwild für die SA - Schlägertruppen. Sie konnten sich nicht mehr in ihre Wohnungen wagen und fürchteten um die Sicherheit ihrer Familienangehörigen. Der Reichstagsabgeordnete Josef Felder musste sich bei Freunden verstecken und auf verschlungenen Wegen nach Berlin reisen, um überhaupt an der Eröffnung des Reichstags teilnehmen zu können.

Dort hat Josef Felder in einer für die deutsche Demokratie entscheidenden Stunde in vorbildlicher Weise Mut und Verantwortungsbewusstsein bewiesen. In seinem Buch "Warum ich Nein gesagt habe" sind die Ereignisse um den 23. März 1933 ausführlich beschrieben. Das von Hitler geforderte "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" ist als "Ermächtigungsgesetz" sehr viel treffender bezeichnet. Schließlich bedeutete es für das gerade erst gewählte Parlament faktisch eine Selbstentmündigung.

Die Nationalsozialisten wollten die notwendige Zwei Drittel Mehrheit mit allen Mitteln erzwingen - auch mit der Androhung nackter Gewalt. So mussten die SPD-Abgeordneten auf dem Weg zur Abstimmung einen wahren Spießrutenlauf durch eine bestellte Menge durchmachen. Auch fand die entscheidende Abstimmung unter parlamentarisch völlig unzulässigen, undemokratischen Umständen statt. Bewaffnete SA hielten sich bedrohlich in der Vorhalle auf, SA- und SS-Leute drangen sogar während der Debatte in den Plenarsaal ein und umringten drohend die Sitze der SPD-Abgeordneten. Diese Bilder müssen wir uns vor Augen führen, um den Mut und die Grundsatztreue würdigen zu können, die Josef Felder zusammen mit 93 anderen Abgeordneten der SPD bewies, indem sie - als einzige Partei - mit "Nein" stimmten. Er selbst hat sich zeitlebens gegen jede Glorifizierung seiner Person gewehrt und freimütig geäußert, dass er damals selbstverständlich um sein Leben fürchtete:

"Die bürgerlichen Parteien hatten Angst, wir hatten auch Angst. Wir waren auch Menschen und Familienväter (...) Aber wir waren uns klar darüber, dass wir den Parlamentarismus zu verteidigen haben, was auch komme, bis zuletzt."

Die Annahme des "Ermächtigungsgesetzes" durch den Reichstag am 23.3.1933 ist ein zutiefst beschämendes Datum unserer jüngeren Geschichte. Es war - so hat es Josef Felder formuliert - "der Tag, an dem die Demokratie in Deutschland kapitulierte". Die Frage, ob nicht mehr und entschlossenerer Widerstand der Demokraten die grauenhaften Folgen - dreizehn Jahre schlimmsten Terror, den Zweite Weltkrieg mit Millionen von Toten und Ermordeten - hätte verhindern können, hat unseren verstorbenen Kollegen bis an sein Lebensende nicht losgelassen.

Mit knapper Not aus der Kroll-Oper und aus Berlin entkommen, musste Josef Felder schon bald aus Deutschland fliehen. Von Wien aus setzte er den Kampf gegen die neuen Machthaber fort und betonte immer wieder: "Es muss Widerstand geleistet werden! Wir haben das in Deutschland versäumt...". Aus Österreich flüchtete er nach Prag. Als es ihm nicht gelang, seine Familie nachzuholen, kehrte er 1934 heimlich nach Deutschland zurück. Er wurde denunziert, verhaftet und in das KZ Dachau abtransportiert, wo er zwei Jahre inhaftiert war: Sadistische Wärter versuchten, ihn in den Selbstmord zu treiben. Der widerständige Demokrat Josef Felder hat sich auch solchem Druck nicht gebeugt. Durch die Unterstützung eines befreundeten Fabrikanten wurde er 1936 aus dem KZ entlassen und konnte - trotz weiterer Denunziationen und in ständiger Angst um das Wohl seiner Familie - die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstehen.

Nach 1945 kehrte unser verstorbener Kollege zunächst wieder in seinen angestammten Beruf zurück. Als Verleger und Chefredakteur des "Südostkurier" in Bad Reichenhall hat er große Verdienste um den Aufbau einer freien, unabhängigen, kritischen Presse. Ihre zentrale Bedeutung für die parlamentarische Demokratie hat er in der Erstausgabe vom 10. Mai 1946 so ausgedrückt:

"Der "Südostkurier" ist parteipolitisch unabhängig. Aber er ist nicht unpolitisch. Er wird alles und alle rücksichtslos bekämpfen, die auch nur um Haaresbreite den breiten Pfad der Demokratie verlassen."

Natürlich wurde ein homo politicus wie Josef Felder auch in seiner Partei wieder aktiv. Von 1955 bis 1957 war er Chefredakteur der Parteizeitung "Vorwärts". 1957 wurde der ehemalige Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Erlangen in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er bis 1969 angehörte. Er war zunächst 3 Jahre im Innenausschuss sowie im Ausschuss für Kulturpolitik und Publizistik tätig. In Erinnerung an die dunkle Rolle der Reichswehr bei der Zerstörung der Weimarer Republik engagierte er sich dann acht Jahre lang im Verteidigungsausschuss für eine vom Parlament kontrollierte, an den Grundwerten unserer Verfassung orientierte, demokratische Bundeswehr.

Der Bundestagsabgeordnete Josef Felder war ein unermüdlicher Arbeiter, der sich allerdings nie in den Vordergrund drängte. Ein Detail kann dies verdeutlichen. Obwohl ein begnadeter Redner, hat er im Deutschen Bundestag nur eine einzige Rede gehalten. Auf diesen doch ungewöhnlichen Umstand angesprochen, antwortete er mit der ihm eigenen Deutlichkeit:

"Nicht jeder Abgeordnete muss im Bundestag große Reden schwingen. Genauso wertvoll, wenn nicht noch wichtiger, ist die Kleinarbeit und Kontrolltätigkeit in den Ausschüssen".

Nicht nur in diesem Sinne war er ein vorbildlicher Parlamentarier. Er bewies stets ein besonderes Sensorium für die Gefährdungen der Grundlagen unserer Demokratie. In einer Phase, in der viele diese Gefahren vor allem auf linksextremistischer Seite orteten, behielt er ebenso jene Bedrohungen im Blick, die der parlamentarischen Demokratie von rechts erwachsen. Beiden trat er entschieden entgegen und setzte sich nachdrücklich für eine wehrhafte Demokratie ein, die nicht noch einmal wie in der Weimarer Republik vor denen kapituliert, die sie zerstören wollen. Aus diesem Grund hat der Mann, der gegen Hitlers "Ermächtigungsgesetz" stimmte, 1968 trotz mancher Vorbehalte letztlich aus Überzeugung den "Notstandsgesetzen" zugestimmt.

Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag im Jahr 1969 ist Josef Felder politisch aktiv geblieben. Immer wieder suchte er den Dialog mit der jungen Generation, besuchte Hunderte von Schulen, diskutierte, solange es seine Kräfte zuließen, mit Jugendgruppen und vermittelte ihnen seine Erfahrungen. In seinen letzten Lebensjahren hat ihn der zunehmende Rechtsextremismus in Deutschland sehr beunruhigt. Er, der den Demagogen Hitler schon 1920 als eine elementare Gefahr erkannte, warnte noch 1994 nachdrücklich vor jeder Verharmlosung gegenwärtiger Tendenzen. Das Resümee seines politischen Lebens lautet: "Eintreten für die Freiheit steht über allen anderen politischen Interessen".

Josef Felder hat in seinem langen Leben ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte erlebt: den Fall des Kaiserreichs, den Aufbau und die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie, die Grauen der Nazi-Diktatur sowie die nachfolgende Teilung Deutschlands mit der Entstehung einer neuen Diktatur im Osten, aber eben auch die friedliche Revolution der Ostdeutschen und die deutsche Einheit. Dass er nach der Vollendung der deutschen Einheit an der ersten Sitzung des deutschen Bundestages am 4.10.1990 und als Wahlmann auch noch an der Bundesversammlung 1994 hier im Reichstagsgebäude teilnehmen konnte, hat ihn mit Glück und tiefer Dankbarkeit erfüllt.

In den letzten Jahren ließ ihm die Verschlechterung seiner Gesundheit immer weniger Möglichkeiten zu öffentlichem Auftreten und Wirken - und mehr Zeit für seine Familie. Er empfand es als Vorzug eines hundert Jahre währenden Lebens, nicht nur Kinder und Enkelkinder, sondern auch Urenkel und selbst zwei Ur-Ur-Enkelkinder erleben zu können. Dafür war er zutiefst dankbar - wie für die liebevolle und aufopferungsvolle Pflege durch seine nächsten Angehörigen gerade in den letzten Monaten.

Josef Felders Leben ist wenige Monate nach seinem 100. Geburtstag zu Ende gegangen. Sein Lebenswerk nimmt uns alle in die Pflicht, jeder Gefährdung unserer parlamentarischen Demokratie - von welcher Seite auch immer - mit dem Mut und der Entschlossenheit entgegenzutreten, die Josef Felder nicht nur am 23.3.1933, sondern ein Leben lang ausgezeichnet haben.

Der deutsche Bundestag gedenkt heute eines unbeirrbaren und unbeugsamen Demokraten, eines vorbildlichen Parlamentariers - und eines außergewöhnlichen Menschen. Der Familie des Verstorbenen gilt unser tief empfundenes Beileid.

Josef Felder hat sich um die Demokratie in Deutschland verdient gemacht."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2000/022
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion
AKTUELL