Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > PARLAMENT > Präsidium > Reden > 2002 >
Reden 2002
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Bundestagspräsident Thierse stellt Kunstwerk Günther Ueckers zum 11. September vor

Sperrfrist: 26.2.2002, 14.00 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort

Bundestagspräsident Thierse stellt Kunstwerk Günther Ueckers zum 11. September vor Anläßlich der Vorstellung der Installation "Zeichen und Schriften" des Künstlers Günther Uecker am 26. Februar 2002 im Paul-Löbe-Haus hielt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse folgende Ansprache:

"Die schreckensvollen Ereignisse des 11. September vergangenen Jahres in New York liegen nun fast ein halbes Jahr zurück, und doch stehen uns die apokalyptischen Bilder im Gefolge jenes Anschlags immer wieder vor Augen. Zwar nehmen täglich die weltpolitischen Folgen dieser Tragödie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, doch wird unsere Erinnerung an dieses erschütternde Schreckensszenario und den grausamen Tod sovieler Unschuldiger dadurch nicht gemildert, ja an diese Erinnerung knüpft sich die Angst vor ähnlichen Untaten an nicht vorhersehbaren Orten.

Darum unternehmen politische und religiöse Autoritäten in vielen Beratungen den Versuch, Ursachen für solch irrationale Aggressionen zu ergründen, die Wurzeln hierfür aufzudecken und zu bekämpfen. Diese Versuche sind von politischen und militärischen Aktionen begleitet, und wir fürchten, daß diese Schritte allein nicht ausreichen, ähnliche Schrecken in Zukunft zu verhindern.

Können - diese Frage legt der heutige Tag uns nahe - können aus der Sphäre der Kunst vielleicht Kräfte der Besinnung, ja der Heilung erwachsen, Kräfte, die einen Beitrag zur Befriedung einer konfliktreichen Welt leisten ?

Es ist das Verdienst von Günther Uecker, sich dieser Frage zu stellen und uns hier den Versuch einer Antwort vor Augen zu führen. Er hat die von Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen artikulierten Friedensgebote auf Leinwänden festgehalten, voneinander getrennt zwar, und doch symbolhaft verbunden durch einen Raum der "Schmerzensstelen", wie der Künstler jene zersplitterten Holzpfähle nennt, die gleichsam anklagend aufwärts in den Raum ragen. Nägel sind in die Pfähle hineingetrieben, Leinwandbandagen umwickeln sie, als gelte es, Wunden zu bedecken oder wiederherzurichten, was zerstört wurde, als gelte es, Heilung zu bewirken, wo Heilung fast aussichtslos scheint.

Die Bildmächtigkeit dieser Installation berührt tief, denn sie drückt unseren Schmerz und unser Entsetzen über eine als friedlos erfahrene Welt in kargen, archaischen und darum so eindrucksvollen Bildern aus - und sie weckt Hoffnung, denn Schmerz und Entsetzen sind umfangen von den Friedensgeboten, den Friedenssehnsüchten der Religionen.

Und ein anderes wird durch diese Konfiguration deutlich: Der schicksalhafte 11. September ist nicht die bittere Frucht eines "Clash of Civilizations", wie der Titel von Samuel Huntingtons Buch nahelegt. Jeder Tag offenbart vielmehr das verbrecherische Unterfangen irregeleiteter Fundamentalisten, ihre aggressiven Ziele religiös zu bemänteln, religiösen Glauben zu Zwecken zu instrumentalisieren, die wahrer Religiösität zutiefst zuwiderlaufen.

Mit diesen Eindrücken und Empfindungen ist Ueckers Bildsprache freilich nicht ausgeschöpft. Ich begnüge mich mit der durch sie artikulierten Mahnung an die Gestalter von Politik und Wirtschaft in den westlich geprägten Ländern.

Wir werden, wenn wir nicht Symptome, sondern Ursachen für verheerende Konflikte und mangelnde Friedfertigkeit bekämpfen wollen, in einen Prozeß der Selbstprüfung eintreten müssen.

Lassen wir die Länder der dritten Welt erfahren, daß unsere Kultur mehr zu bieten hat als formale Institutionalisierung von Regeln des Zusammenlebens und eines durch angebliche Sachzwänge geprägten Wettbewerbs im Rahmen einer Globalisierung ?

Sind wir bereit, eine nicht vermeidbare Liberalisierung, z.B. in Fragen des wirtschaftlichen Wettbewerbs, zu praktizieren im Geiste von Solidarität, ja der Brüderlichkeit ? Eine solche, auch religiös geforderte Haltung, könnte die Länder der dritten Welt vor einer bedrohlichen Überforderung bewahren, der sie durch die Geschwindigkeit der Globalisierung und der damit verbundenen Änderung ihrer tradierten Lebensweisen ausgesetzt sind.

Sind wir bereit, zum Schutz der Umwelt, unserer Umwelt und der ihrigen, wirtschaftliches Wachstum in vernünftigen Grenzen zu halten ?

Wir kennen die Anliegen und Bedürfnisse der armen Länder genau und wären durchaus in der Lage, mit ihnen eine partnerschaftliche Lebensgemeinschaft einzugehen.

Ein solches Ziel legt doch auch und vor allem der uns allen gemeinsame Wertekosmos nahe, die Übereinstimmung im Wertekanon der in Religionsgemeinschaften lebenden Völker: die sozialen Werte der Gerechtigkerit, der Solidarität, der Nächstenliebe, die moralischen Werte, wie Gutsein, Wahrhaftigkeit, Treue, Friedensliebe u.a.m. und nicht zuletzt die religiösen Werte, die die Gleichheit aller Menschen vor Gott und unser Gerichtetwerden durch eben jenen Gott bekunden.

Ein solches Ziel ins Auge zu fassen bedeutet für alle Völker der sog. zivilisierten Welt eine große Herausforderung. Es ist eine Binsenweisheit, daß, wer die Welt verbessern will, bei sich selbst beginnen müsse. So müssen wir uns denn fragen, ob wir - neben einer empfundenen Notwendigkeit - auch das Recht haben, auf fremde Kulturen Einfluß zu nehmen, sie gegebenenfalls zu reformieren.

Kultur ist die Summe aller gelebten Wertverwirklichungen einer ethnischen Gruppe. Werden in unserem Lande alle anerkannten Werte auch gelebt, z.B. der Wert der Toleranz ? Und gerade dieser Wert ist es, mit dem die Religionsgemeinschaften - bei vielen sonstigen Übereinstimmungen - sich schwertun. Neigen sie nicht dazu, diese Tugend stets dem anderen abzufordern ?

Noch andere Wertvorstellungen ließen sich aufzeigen, durch die die Religionen getrennt sind, und es muß nicht angestrebt werden, alle Unterschiede einzuebnen, aber das Hochhalten des Toleranzgebotes ist in den angestrebten Dialogen unverzichtbar.

Da die Gemeinsamkeiten in den Wertvorstellungen der Gruppen bei weitem überwiegen, darf ein Konsens zu Toleranz und Friedfertigkeit erhofft werden.

Günther Ueckers Installation "Zeichen und Schriften" ist ein beredter Ausdruck dieser Gemeinsamkeiten und dieser Hoffnung. In diesem Sinne möchte ich einen Gedanken des iranischen Präsidenten Chatami aufgreifen, der bei seinem Besuch in Weimar anläßlich der Einweihung des Denkmales für Goethe und den persischen Dichter Hafis ausführte: "In der Welt des Menschen gibt es kein absolutes Anderssein." Dieser Gedanke hebt jeden Absolutheitsanspruch und eine hieraus erwachsende Fremdheit der Religionen und Kulturen auf und stellt die Gleichheit der Menschen vor der Schöpfung und damit ihre Wertegemeinschaft in den Mittelpunkt. Mit bildnerischen Mitteln führt Günther Uecker uns seine Überzeugung von einer Wertegemeinschaft der Religionen sinnbildhaft vor Augen.

Ich danke ihm für sein Arbeit, der Galerie Gmurzynska für ihr Engagement, Herrn Konzertmeister Hans Maile und dem Schauspieler Dieter Mann sowie allen, die zum Gelingen dieser Vorstellung beitragen."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2002/003
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion
AKTUELL