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Reden 2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, auf dem 3. Bundeskongress Katholischer Schulen am 28. März 2003 in Bonn

(Anrede)

Wie macht man eine schulpolitische Konferenz im Schatten des Krieges? Können und dürfen wir angesichts der Bomben, die auch irakische Kinder töten, "einfach so" zur Tagesordnung übergehen, so tun, als sei dieser Krieg nicht auch ein Stachel in unserem Fleisch?

Krieg bewirkt immer menschliches Leid. Er verletzt ethische Prinzipien und christliche Optionen. Dieser Krieg rüttelt gehörig an unserem Weltbild, an unserem westlichen, "alteuropäischen" Wertekonsens, an unserer Überzeugung von der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, an unserer Auffassung vom Respekt vor der Würde anderer Menschen, anderer Völker, anderer Kulturen.

Es ist schmerzlich, einzugestehen: Wir sind mit unseren Bemühungen, den Irak-Krieg zu verhindern, gescheitert - politisch gescheitert, aber auch kulturell gescheitert. Die meisten Deutschen, die meisten Europäer haben diesen Krieg abgelehnt - nicht weil sie Freunde des Diktators sind, sondern ganz im Gegenteil: weil sie dem gebeutelten irakischen Volk neuen Blutzoll ersparen wollten. Und weil sie befürchten, dass sich die Lage in der sensiblen Region weiter zuspitzen und der islamistisch verbrämte Terror neuen Nährboden finden wird.

Wir können hier und heute nicht über Bildungs- und Erziehungsfragen, über soziale Kompetenzen und politische Verantwortung reden, ohne auch diesen Kontext unseres Redens und Handelns in Erinnerung zu rufen und mit zu bedenken.

Viele Schülerinnen und Schüler in unserem Land, jene an Katholischen Schulen allemal, sind politisch interessierte Menschen. Sie kümmern sich nicht nur um Musik, Computer, schicke Klamotten - um Konsumerlebnisse, sondern auch um Politik, Gesellschaft, Religion, jedenfalls dann, wenn es um die existentiellen Fragen geht - um Krieg und Frieden, um Terrorismus, um Gewalt gegen Minderheiten, um demokratiefeindliche Ideologien. Ich erinnere nur an die Demonstrationen und Lichterketten junger Menschen in den vergangenen Wochen.

Ihr Beispiel zeigt: Schülerinnen und Schüler sind nicht nur mit Lerninhalten, mit den mehr oder weniger klassischen Schulweisheiten befasst. Sie üben sich auch ein im Verstehen politischer Debatten und gesellschaftlicher Veränderungen. Sie üben den Umgang mit Nachrichten, die ihren eigenen Alltag und den Alltag ihrer Familien und Freunde betreffen. Und sie beobachten sehr genau, wie wir, "die Alten", auf Veränderungen reagieren, wie wir Erfahrungen des Erfolgs und des Scheiterns verarbeiten, wie wir mit Enttäuschungen umgehen. Sie prüfen, ob unser Verhalten übereinstimmt mit dem, was wir tagtäglich predigen, was wir von anderen einfordern, was wir ihnen, den Kindern und Schülern, zumuten. Sie wollen wissen, wie glaubwürdig wir sind - wir Lehrer, Eltern, Politiker, wir Christenmenschen - und wie viel Vertrauen wir verdienen.

Und da bin ich beim Thema dieser Tagung - der Qualität der personalen Beziehungen im Universum Schule, genau darauf zielt ja der Begriff "Erziehungsgemeinschaft". Die Beziehungen zwischen Schülern, Eltern, Lehrern entwickeln sich nicht in einem luftleeren, idealen, konfliktgereinigten Raum. Im Gegenteil: In der Schule kommt alles zusammen, was eine Gesellschaft ausmacht - im Großen wie im Kleinen, im Guten wie im Schlechten. Schulen sind immer Spiegelbilder einer Gesellschaft: Sie sind in der Regel kaum besser als diese, aber - und dies meine ich keineswegs als Trost - auch nicht wesentlich schlechter. Sie entsprechen ihr: Am Zustand, an der Qualität ihrer Bildungseinrichtungen kann eine Gesellschaft ablesen, was ihr die Zukunft ihrer Kinder und damit ihre eigene Zukunft wert ist. Dass diese "Lektüre" mitunter sehr unangenehme Wahrheiten ins Licht rückt, wissen wir - und zwar nicht erst seit PISA.

Mit PISA jedoch gewann die Schuldebatte in Deutschland endlich wieder an Brisanz. Wir dürfen der OECD durchaus dankbar sein. Sie hat uns mit ihren Vergleichsstudien wachgerüttelt. Jedenfalls jene Teile der Gesellschaft, die sich sonst um Bildung, um Bildungspolitik nicht sonderlich gekümmert haben. Die dramatischen Zahlen und Aussagen der PISA-Studien werden in Deutschland ernst genommen und weithin akzeptiert. Dank dieser Daten hat die lange Zeit schlingernde Bildungsdebatte in unserer Republik endlich einen tragfähigen Unterbau bekommen. Kaum jemand bezweifelt die Wissenschaftlichkeit und Methodenkompetenz der PISA-Studien oder stellt ihre Autoren unter Ideologie-Verdacht - was ja allzu häufig das Schicksal ungeliebter Studien gewesen ist.

Dank PISA reden wieder alle über Bildung und Erziehung, nicht nur die Kirchen (die sind schon lange dran am Thema), sondern auch Unternehmensberater, Chefredakteure, IHK-Präsidenten und - Politiker. Als ich 1990 in die bundesdeutsche Politik geriet, habe ich von Kollegen aus dem Westen noch gelernt, dass Bildungspolitik ein "weiches" Thema sei. Es hieß immer: die großen Hirsche, die befassten sich damit nicht, es gäbe Wichtigeres. Ich hoffe, das hat sich endgültig geändert.

Nach so viel Lob für das Unternehmen PISA muss ich aber auch vor übertriebener Euphorie warnen. Ich stehe ja nicht als Bildungspolitiker vor Ihnen, sondern als einer, der über Bildungs- und Erziehungsfragen als Betroffener redet - schließlich war ich wie jeder andere Schüler und Student, bin selbst Vater und verstehe daher Bildungspolitik als ein Schlüsselthema für unsere gesellschaftliche Zukunft. Und als Betroffener sage ich: Der Begriff von Bildung, wie ich ihn verstehe, geht in PISA nicht auf. Denn Bildung meint ja mehr als Lesen, Schreiben, Rechnen. Die in den PISA-Vergleichsstudien untersuchten Kompetenzen sind gewiss und unbezweifelbar Basiskompetenzen der Wissensaneignung. Sie sind grundlegend für die Lebensgestaltung. Sie sind aber selbstverständlich nicht ausreichend für die Beschreibung des Bildungsgrades einer Persönlichkeit oder die Beurteilung des Bildungsstandes einer Gesellschaft. Jedenfalls wenn man Bildung nicht gleichsetzt mit Ausbildung. Und ich finde, so altmodisch darf man sein.

Wer dies nicht beachtet, läuft Gefahr, mit PISA in eine neue schulpolitische Sackgasse zu geraten. Es wäre schlicht verantwortungslos, würden nun unter dem Druck künftiger PISA-Studien Fächer wie Musik, Kunst, Geschichte, Politik oder Sport abgewertet, weniger ernst genommen.

Nicht minder verantwortungslos wäre, die Ausbildung jener Qualifikationen zu vernachlässigen, die unverzichtbar sind für die individuelle Orientierung und Lebensgestaltung wie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Wertorientierung, Kritik- und Urteilsfähigkeit, soziale und ökologische Kompetenz, solidarisches Verhalten, die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Die Schule in einer demokratischen Gesellschaft darf sich nicht allein an der Vermittlung der Basiskompetenzen, an der Verfügbarkeit von Anwendungswissen messen lassen. Denn in einer demokratischen Gesellschaft muss Bildung als ganzheitliche Aufgabe begriffen werden. Und das heißt: Wissensvermittlung, Wertorientierung und Erziehung sind im schulischen Alltag nicht wirklich voneinander zu trennen, sie gehen Hand in Hand.

Und weil das so ist, denke ich, sollte unser Nachdenken über einen dieser Teilbereiche - über die Schule als Erziehungsgemeinschaft - eingebettet werden in das Nachdenken über die Konsequenzen, die wir für unser differenziertes Bildungssystem aus den dramatischen PISA-Befunden zu ziehen haben. Denn diese Dinge gehören zusammen, sie verweisen aufeinander, sind in praktischer Absicht nur gemeinsam zu denken. Das beste schulische Erziehungskonzept nützt nichts, wenn die Rahmenbedingungen vor Ort nicht stimmen.

In der laufenden Debatte wird immer gefordert, PISA nicht nur als Kritik, sondern vor allem als positive Herausforderung zu begreifen, als Chance zu grundsätzlichen Weichenstellungen. Das ist richtig. Wir müssen aber aufpassen, dass das schulische, behördliche und politische Handeln nach PISA sich nicht in bloßen Schnellschüssen erschöpft. Hier ein wenig an der Schraube drehen und da etwas reparieren - das mag schon richtig sein und helfen, aber das darf nicht alles sein. Der überall geforderte Aufbruch darf nicht in überhasteten Einzelkorrekturen versanden.

Wir brauchen vielmehr eine - darf ich das so im Politjargon sagen - strategische Diskussion über die langfristigen Ziele des Bildungssystems in Deutschland. Mit Streit darüber, ob 12 oder 13 Jahre zum Abitur notwendig sind, ist doch nichts geleistet. Wenn wir eine wirkliche bildungspolitische Debatte führen und sie auf das notwendige Niveau heben wollen, dann geht es zuerst um die fundamentale Frage: Was sollen Kinder und Jugendliche, was sollen Schüler lernen? Was sollen sie an Wissen, an Fähigkeiten, an Qualifikationen, an Einstellungen, an Kompetenzen erwerben - erstens - angesichts so vieler dramatischer, einschneidender Veränderungen am Ende des 20., am Beginn des 21. Jahrhunderts, die wir hinter uns haben und die wir vor uns haben. Und zweitens - angesichts der Explosion des Wissens, die wir erleben. Ich habe in der Schule noch gelernt, dass das menschheitliche Wissen sich alle fünfzig Jahre verdoppelt, ich höre, jetzt verdoppelt es sich alle fünf Jahre, manch einer behauptet gar: alle drei. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für die Vermittlung welchen Wissens? Das ist doch eine unerhört wichtige Frage! Und drittens: Was muss gelernt, was muss erworben werden angesichts der Notwendigkeit lebenslangen Lernens im Beruf - nein: in Berufen. Auch das wissen wir doch, dass die Zeit vorbei ist, in der man einen Beruf erlernt und diesen lebenslang ausübt.

Lernen ist einer der wichtigsten Momente und Bestandteile unseres Lebens geworden. Was folgt daraus? Wenn wir darüber nachdenken, dann könnte das doch die Schule von manchen Stoffmassen entlasten. Dann stellt sich die Frage nach dem Wesentlichen, nach dem nicht so schnell veraltenden Wissen neu. Und eine Frage, die immer als konservativ verschrien war, ist plötzlich wieder da - ich verwende ausdrücklich das konservative Wort dafür - die Frage nach dem Kanon, den es nie endgültig geben wird. Aber wir müssen uns darüber einig werden: Was ist denn das Wesentliche? Es stellt sich die Frage danach, wie wir Fähigkeiten, Einstellungen, Methoden, Werte in den Mittelpunkt von Bildungs- und Erziehungsprozessen stellen. Was ist Orientierungswissen? Was heißt Lernen lernen als die wichtigste Aufgabe von Bildungsprozessen? Was sind denn die Schlüsselqualifikationen, über die wir reden müssen? Was genau sind soziale Kompetenzen, Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit mitzuleiden, solidarisch zu sein, Freiheit als ein kostbares Gut zu begreifen, das zu verteidigen ist. Solche Werte, solche Einstellungen sind dann wichtig.

Und wenn wir uns über diese grundlegenden Fragen geeinigt haben, wenigstens vorläufig - endgültig werden wir uns in einer demokratischen Gesellschaft nie einigen -, dann können wir über Konzepte, Bildungskonzepte reden, über Bildungspläne für Kindergärten, für Schulen und über das, was wir mit einem - ich weiß: umstrittenen - Begriff "nationale Bildungsstandards" benannt haben. Das Wort "national" meint dabei, dass es nicht darum geht, für Nordrhein-Westfalen ganz andere Antworten zu finden als für Hessen oder Hamburg, Bayern oder Brandenburg. Es geht nicht um Gleichschaltung von oben, sondern um Vergleichbarkeit von unten.

Das ist der Kern der Debatte. Dann gibt es weitere Fragen: Was wollen wir erreichen in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren? Welche Strukturen müssen wir schaffen, um angemessen auf sich verändernde gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können? Wie gestalten wir künftig das Verhältnis von Staat und Schule, von Behörde und Schule, wenn die einzelne Schule vernünftigerweise größere Verantwortung für ihr Tun und für die Bildungsprozesse in ihr übernehmen soll?

Je mehr wir Klarheit haben über unsere Ziele von Bildung und wir so etwas wie "Standards" beschreiben können, um so größere Freiheiten können wir den einzelnen Schulen lassen. So unterschiedlich wie Kinder sind, so unterschiedlich können dann Schulen arbeiten, wenn wir uns über diese Ziele einig geworden sind.

Ich denke, wenn wir unser Bildungssystem und seine Strukturen als Ganzes auf den Prüfstand stellen, wenn wir die Perspektiven, Inhalte und Ziele von Bildung und Erziehung insgesamt neu durchdenken, erst dann haben wir über die unmittelbare Reaktion auf den PISA-Schock hinaus den richtigen Weg gefunden.

Meine Damen und Herren,
es heißt immer, Maßstab der Bildungsreform müssen die Kinder und Jugendlichen sein. Ein selbstverständlicher Satz, doch meist konsequenzlos ausgesprochen. Was bedeutet er? Doch wohl zweierlei - fordern und fördern: jene herausfordern, deren Fähigkeiten wir bislang nicht genug aktiviert haben, und jene unterstützen, die Hilfe brauchen. Schule ohne Leistungsansprüche, ohne Herausforderungen - das macht keinen Sinn. Die Qualität der Erziehung, Bildung und Ausbildung unserer Kinder entscheidet darüber, wie leistungsfähig und innovativ, aber auch wie human, wie demokratisch, wie sozial unsere Gesellschaft in Zukunft sein wird. Die Maßstäbe derer, die künftig unsere Gesellschaft gestalten, die bilden wir jetzt aus.

Unverzichtbar für die Erziehungs- und Bildungsaufgaben sind und bleiben natürlich die Familien, vor allem die Eltern. Das muss ja in diesem Kreis nicht begründet werden. Wenn Politik darauf abzielt, die Gesellschaft kinder- und familienfreundlicher zu machen - und das ist ja unser Ziel und muss es sein, denn unsere Gesellschaft ist nicht kinderfreundlich und unser Wirtschaftssystem ist nicht familienfreundlich -, dann brauchen wir gemeinschaftliche, auch politische Anstrengungen, um Familien zu unterstützen: materiell und ebenso durch Herstellung von Chancengleichheit, Chancengleichheit auch für beide Eltern im Arbeitsleben. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Bildungspolitik immer auch Familienpolitik ist und umgekehrt.

Eine der wichtigen PISA-Botschaften lautet, dass wir in Deutschland großen Nachholbedarf in der Betreuung und Förderung unserer Jüngsten haben - qualitativ wie quantitativ. Wir brauchen deshalb einen Ausbau der Ganztagsangebote. Wir brauchen differenzierte Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen - in guter Qualität, zeitlich flexibel, bezahlbar und in qualifizierter Trägerschaft.

In der "Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz zu Ganztagsschulen" (vom 12. März 2003) wird diese Forderung mitgetragen und präzisiert: Die Erweiterung der Ganztagsangebote, so heißt es dort, muss von den Bedürfnissen und Erwartungen des Kindes und der Familie her konzipiert werden, weniger von den sie mitunter überlagernden politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die in der Stellungnahme anklingende Mahnung, dass mit Ganztagsangeboten nicht der "Einstieg in eine vom Staat verwaltete Kindheit und Jugend und eine Funktionalisierung von Bildung" verbunden sein dürfe, nehme ich ernst. Aber ich denke, diese Gefahr besteht nicht wirklich. Der Staat will nicht die "Lufthoheit über den Kinderbetten erobern", warum sollte er auch? Und vom fehlenden Motiv einmal abgesehen, der Staat könnte es sich finanziell gar nicht leisten.

Gleichwohl hat sich die Bundesregierung zu ihrer Mitverantwortung in der Betreuungsfrage bekannt. Sie wird Länder und Gemeinden beim Ausbau der Tagesbetreuung unterstützen - mit einem 4-Mrd.-Euro-Investitionsprogramm für den Aus- und Aufbau von bis zu 10.000 Ganztagsschulen bis ins Jahr 2007. Dies ist ein wichtiges politisches Signal für eine bessere Förderung der Schülerinnen und Schüler, insbesondere in den unteren Klassen.

Ganztagsangebote an den Leitlinien der Subsidiarität, Vielfalt und Freiwilligkeit zu orientieren (wie von der Bischofskonferenz gefordert), ist vernünftig. Insbesondere den freien Trägern, den Kirchen kommt hier eine große Verantwortung zu. Pädagogisch verantwortete sinnvolle Ganztagsangebote sind nicht nur wichtig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sie nützen auch der individuellen Entwicklung der Kinder - sowohl im Schul-, als auch im Vorschulalter.

Ich meine, Bildung, Erziehung, Wertevermittlung, Integration - all das darf und muss einsetzen, bevor die Schultüten verteilt werden. Kindheit ist eben nicht die Schlafenszeit der Vernunft, wie manch einer noch immer glaubt. Die Lebensweisheit, dass für die Entwicklung des Kindes die ersten zehn Lebensjahre die wichtigsten sind, hat noch niemand widerlegt. In diesen Jahren lernen Kinder leicht, spielerisch und unglaublich schnell. Und sie haben sogar noch Spaß beim Lernen. Und weil das so ist, müssen wir uns schon in dieser frühen Phase sehr viel besser als bisher besonders um die sozial und kulturell benachteiligten Kinder kümmern.

Doch ich glaube, auf "Freiwilligkeit" allein können wir uns dabei nicht immer verlassen - wenn wir es denn mit der Chancengleichheit für Kinder ernst meinen. Ich denke etwa an Kinder aus Migrantenfamilien, die mitunter nicht einmal über einen Grundwortschatz der deutschen Sprache verfügen - mithin nicht schulfähig sind. Auf diese Familien wird jetzt in mehreren Ländern (zum Beispiel in Berlin) sanfter Druck ausgeübt. Es werden verbindliche Deutschkurse für diese Kinder eingeführt, in denen sie deutsche Begriffe aus ihrer unmittelbaren Lebenswelt lernen. Das nützt nicht nur diesen Kindern, sondern das nützt letztlich allen, die in der Erziehungsgemeinschaft Schule miteinander zu tun haben.

Ein Kennzeichen guter Förderung ist Verlässlichkeit. Schüler sollten möglichst lange zusammen bleiben. Das ist ja eines der Erfolgsrezepte jener Länder, die bei PISA die oberen Plätze belegt haben. Was spricht beispielsweise dagegen, auch bei uns verstärkt sechsjährige Grundschulen einzurichten? Die frühzeitige Selektion und das Verschicken der Kinder in unterschiedliche Schulformen führt doch nur dazu, dass sogenannte Problemfälle ausgesiebt und "nach unten" durchgereicht werden: vom Gymnasium in die Realschule, von dort zur Hauptschule und dann zur Sonderschule. Das deutsche System verführt dazu, sich problembeladener Schüler zu entledigen, statt Probleme dieser Schüler zu bearbeiten und lösen zu helfen. Es ist unsere gemeinsame Sache, aber auch vor allem Sache engagierter Lehrerinnen und Lehrer, dieser Verführung zu widerstehen.

Wer Lernschwierigkeiten hat, der benötigt ein größeres Maß an Zuwendung und Förderung, an Beratung und Motivation. Der benötigt ein auf Langfristigkeit angelegtes Lernumfeld, einen sozialen Raum, der überschaubar und berechenbar ist. Aus der Schulpraxis in anderen OECD-Staaten wissen wir, dass dies nicht nur ein möglicher, sondern auch ein erfolgreicher Weg ist. Ein junger Mensch, der seine Schullaufbahn nur aus der Perspektive eines ewig Scheiternden erlebt, der verlässt die Schule mit erheblichen Beschädigungen.

Die anstehenden Veränderungen in der Schullandschaft und in den Schulen bedürfen natürlich einiger Vorleistungen - materieller und organisatorischer, aber auch intellektueller und mentaler Natur. Wir müssen die Schulen so ausstatten, dass sie die von ihnen erwarteten Integrationsleistungen auch tatsächlich erbringen können. Das ist angesichts der Kassenlage oft nicht einfach. Es steigen aber auch die Herausforderungen an die Akteure vor Ort, an die Lehrerinnen und Lehrer: Auch sie müssen sich mehr und mehr qualifizieren, von manchen Gewohnheiten trennen, leistungsschwache Schüler besser fördern. Elternhäuser, Politik, Behörden dürfen die Lehrer allerdings nicht im Regen stehen lassen. Die Schule allein kann nicht das reparieren, was anderswo in der Gesellschaft längst vernachlässigt wurde oder womit manche Familien überfordert sind.

Lehrer benötigen mehr Unterstützung - Unterstützung von Erziehern, Sozialarbeitern, Psychologen, von der Kirche, von ehrenamtlich Tätigen und Eltern. Lehrer brauchen eine sehr viel bessere, vor allem praxisorientierte Ausbildung und bessere Qualifizierungs- und Beratungsangebote als bisher. Sie müssen schon im Studium lernen, wie man einen differenzierten Unterricht macht, einen, dem nicht nur leistungsstarke Schüler folgen können, sondern der auch jene mitnimmt, die Lernprobleme haben. Methodik, Pädagogik, Psychologie, Motivationslehre - das sollte mindestens genau so wichtig sein, wie die wissenschaftliche Einführung in dieses oder jenes Fachgebiet.

Lehrer brauchen aber auch - und das sage ich nun als Politiker, der ja schon manche schlimme Äußerung gehört hat, aber hoffentlich nie selber eine solche getan hat - einen Imagewechsel für ihren Berufsstand. Sie selbst tragen zu diesem Imagewechsel bei - durch Leistungen, Engagement, Überzeugungskraft -, sie können ihn aber allein nicht schaffen.

Die in unserer Gesellschaft latent vorhandene Mißstimmung gegen Lehrer muss endlich beendet werden. Ich kann Sie beruhigen: Politiker sind noch viel schlechter beleumundet als die Lehrer, aber vermutlich können wir uns besser wehren. Wie sollen Lehrer ihre Schüler gut unterrichten, motivieren, fördern und in ihrer Selbstachtung stärken, wenn ihnen, den Lehrern, in der Öffentlichkeit mit Mißtrauen und Arroganz, statt mit Vertrauen und Offenheit begegnet wird? Ich wünsche mir, dass wir dieses Klima der wechselseitigen Vorwürfe überwinden, das ja nicht nur auf dem Gebiet der Bildungspolitik unsere Gesellschaft beherrscht.

Meine Damen und Herren,

die Katholischen Schulen in Deutschland haben auf einige der skizzierten Probleme früher reagiert als andere oder - besser noch - sie haben sie gar nicht erst entstehen lassen. Sie haben jedenfalls ihre Reformbereitschaft und Reformfähigkeit immer wieder unter Beweis gestellt.

Das Erfolgsgeheimnis kirchlicher Schulen klingt einfach: sie orientieren sich an Grundsätzlichem und eben nicht am Zeitgeist, nicht an dem, was gerade "in" oder marktkonform ist. Die Eigenschaften, die auf dem Markt Erfolg versprechen, reichen eben nicht aus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und um dem Einzelnen zu ermöglichen, menschenwürdig zu leben. In den Köpfen unserer Schüler muss mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Ich gebe zu, ich habe wenig Verständnis für einen Zeitgeist, der sich zur "Tugend der Orientierungslosigkeit" bekennt (so ein programmatischer Buchtitel), zu einer Behaglichkeit, die sich darin äußert, den oft quälenden Sinnfragen des Lebens einfach nicht mehr nachzugehen. Bei dem Gedanken an eine Gesellschaft von moralischen Analphabeten wird mir jedenfalls angst und bange. Im Gegenteil: Diese Gesellschaft muss ein vitales Interesse daran haben, dass die Menschen lernen, Sinnfragen überhaupt zu stellen, sich über Ziele zu verständigen, nach Werten und Tugenden zu fragen. Wenn es auch in Zukunft demokratisch zugehen soll, brauchen wir Erziehung zur verantworteten Freiheit. Die Kompetenz, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, das sind Schlüsselqualifikationen für eine demokratische Gesellschaft. Naturwissenschaftliche Kenntnisse, technische Fertigkeiten, die Beherrschung von Internet und von Fremdsprachen allein sind es nicht. In diesem Sinne sollte Schule nicht nur Sachkompetenz vermitteln, sondern auch Sinnkompetenz.

Unser Staat ist säkular, aber er ist keineswegs wertneutral. Die Politik hat deshalb ein lebendiges Interesse an Institutionen der Wertevermittlung und Wertetradierung, an Vermittlung von Wertvorstellungen und Motivation zur Werterealisierung - also zu einem Leben von Tugenden. Die Katholischen Schulen zeigen, dass das geht und wie es geht. Wir brauchen sie.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2003/008a
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