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Reden 2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Ausstellung "Dem Deutschen Volke - Die Geschichte der Berliner Bronzegießerei Loevy" am 20.03.2003 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort

"Bronzegießerei Loevy - dieser Firmenname war Anfang des vergangenen Jahrhunderts ein Begriff. In Berlin und weit darüber hinaus. So gut war die Reputation, dass der Betrieb 1916 den ehrenvollen Auftrag erhielt, für das Westportal des Reichstagsgebäudes die Lettern zur Widmung "Dem Deutschen Volke" in Bronze zu gießen. Ihr Ansehen, ihre allseits geschätzte Meisterschaft hat die Loevys aber nicht schützen können. Wie andere jüdische Familien erlebten sie Zurücksetzung und Diskriminierung, die sich bis zu den verbrecherischen Verfolgungen in der Zeit des Nationalsozialismus steigerten. In der Lebens- und Leidensgeschichte der Familie Loevy finden wir alle Stufen der Demütigung, der Entrechtung, der Entwürdigung, der Verfolgung und Ermordung, wie es sie auch bei Millionen anderen Juden gegeben hat. Und wir finden auch alle Formen des Versuches wieder, dem drohenden Schicksal zu entgehen - vom Versuch der Assimilierung über den Gang in die Illegalität bis zur Flucht aus Deutschland:

Als die Firma Loevy 1939 von einem niederrheinischen Geschäftsmann übernommen wurde - "arisiert", wie es im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hieß - gelang es einigen Mitgliedern der Familie, das rettende Exil zu erreichen. Dazu gehörte der Dirigent, Komponist und Musikkritiker Leo Kopf. Andere Familienmitglieder der Loevys blieben in Deutschland, in der tödlichen Fehleinschätzung, durch ihren Status als sogenannte "Mischlinge" oder "in Mischehe Lebende" geschützt zu sein. Dazu gehörte auch Erich Gloeden - der Sohn von Siegfried Loevy. Er führte nach 1933 eine Art Doppelleben. Als Mitglied der "Organisation Todt" äußerlich perfekt an die neuen Machtverhältnisse angepasst, half er zahlreichen Juden unterzutauchen. Als Anlaufstelle für Regimegegner bekannt, gewährte er später auch Fritz Lindemann Unterschlupf, einem der Generäle des 20. Juli 1944. Erich Gloeden wurde denunziert. Gemeinsam mit seiner Ehefrau und seiner Schwiegermutter wurde er vom sogenannten Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Und ein großer Teil der Familie Loevy kam in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie ums Leben.

II.

Lange war die Geschichte dieser Familie vergessen. Selbst der Name Loevy war allenfalls Fachleuten bekannt, die wussten, dass dieser Betrieb über Jahrzehnte hochbegehrte Bronze-Türdrücker herstellte (mancher, der in einem Berliner Altbau wohnt, hat sie vielleicht noch immer nichtsahnend täglich in der Hand). Die Wiederentdeckung der Loevys, ihrer Familiengeschichte und ihrer Verbindung zum Reichstagsgebäude ist vor allem der Neugier und der Beharrlichkeit eines Mannes zu verdanken: Armin Steuer hat die Geschichte dieser Familie jüdischen Glaubens recherchiert und dokumentiert. Daran knüpft das Jüdische Museum mit dieser Ausstellung über die Loevys an.

Dass es keine leichte Aufgabe war, diese Ausstellung zu konzipieren und zu füllen, davon dürfen wir ausgehen. Sind doch die Spuren der Familie Loevy ebenso stark verwischt wie die Spuren so vieler Nazi-Opfer - sofern überhaupt Spuren von ihnen geblieben sind. Den Tätern ging es nicht nur darum, ihre Opfer physisch zu vernichten, sondern sie zielten in perfider Konsequenz auch darauf, jeden Namen, jede Erinnerung, jede Lebenslinie aus dem Gedächtnis zu tilgen. Nichts, aber auch wirklich nichts sollte bleiben.

Deshalb ist jeder einzelne Name, den wir dem Vergessen entreißen können, jede Lebensgeschichte, die wir rekonstruieren können, ein später, ein bescheidener Versuch, den Opfern wenigstens einen Teil ihrer Würde zurückzugeben. Wären die Namen, die Verdienste jüdischer Opfer tatsächlich auf immer aus der Erinnerung gelöscht - die Nazis hätten ihr schurkisches Ziel erreicht. Seit zwei Jahren hängt deshalb auch am Westeingang des Reichstagsgebäudes eine Erinnerungstafel, die an die Familie Loevy erinnert. Das ist als ein kleiner Akt ideeller Wiedergutmachung anzusehen: Die vielen Bürgerinnen und Bürger, die das Parlament täglich besuchen, werden beim Betreten des Gebäudes darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit der Inschrift "Dem Deutschen Volke" eine deutsch-jüdische Familiengeschichte verbindet. Im stummen Dialog zur Inschrift "Dem Deutschen Volke" steht dabei seit drei Jahren Hans Haackes Kunstwerk "Der Bevölkerung" in einem Innenhof des Reichstagsgebäudes. Als Kehrseite und gleichzeitig Ergänzung zur Portalinschrift und als mahnender Hinweis auf den Missbrauch des Wortes "Volk" durch die Nationalsozialisten. Mit ihren unmenschlichen Kategorisierungen haben die Nationalsozialisten Familien wie die Loevys in jüdische und nichtjüdische Deutsche eingeteilt, haben sich herausgenommen darüber zu befinden, wer in ihrem Sinne dem deutschen Volke angehören durfte und wer nicht. Es waren mörderische Kategorien, die über Leben und Tod entschieden - auch bei Familie Loevy.

III.

Meine Damen und Herren,
in diesem Jahr jähren sich wichtige Daten deutscher Geschichte: Vor 60 Jahren wurden die Mitglieder der Weißen Rose denunziert, verhaftet und hingerichtet. Ebenfalls vor 60 Jahren protestierten die Frauen in der Rosenstraße gegen die Verhaftung ihrer jüdischen Männer. Zehn Jahre zuvor, am 23. März 1933, entmündigte sich das Deutsche Parlament selbst, überließen die Demokraten den Nationalsozialisten die Macht - es war das Ende der Weimarer Republik. 444 Abgeordnete stimmten vor 70 Jahren für das Ermächtigungsgesetz, nur 94 Sozialdemokraten stimmten dagegen, die Kommunisten waren schon aus dem Parlament vertrieben. Ein schamvoller Tag für den Parlamentarismus in Deutschland. Heute wissen wir: Dass eine Familiengeschichte wie die der Loevys, dass Verfolgung, Unterdrückung, Ermordung möglich werden konnten, hatte auch etwas damit zu tun, dass die Demokraten in der Weimarer Republik das Feld ihren Gegnern überlassen haben. Wir haben - das hoffe ich jedenfalls - daraus gelernt, dass wir gegenüber den Feinden unserer Demokratie niemals zurückweichen dürfen.

Die zeitliche Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus wird mit jedem Tag ein Stück größer. Wir müssen uns deshalb fragen, wie wir die Erinnerung wachhalten, ohne in vollends ritualisierte Gedenkzeremonien zu verfallen. Wie tragen wir das Geschehene weiter? Wie vermitteln wir das, worauf es ankommt, an junge Menschen? Michael Blumenthal hat unlängst vom "Altweibersommer" des Gedenkens gesprochen. Altweibersommer sind die schönen Tage, an denen noch einmal ein warmer Wind weht, bevor es kalt und winterlich wird. Stehen wir tatsächlich in einer letzten spätsommerlichen Schönwetterperiode des sogenannten "organisierten" Erinnerns? Wird - wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sein werden - das Buch endgültig geschlossen? Man muss so provokativ fragen, denn in der Tat ist es an der Zeit, uns um neue Formen der Vermittlung zu kümmern, um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Jede Generation muss die Frage nach den angemessenen Formen der Erinnerung an das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte neu beantworten. Deshalb muss es auch immer wieder neue Formen geben - in der Sprache, in den Ausdrucksweisen, in den Wahrnehmungsformen der jeweils jungen Generation, für die die Realität des "Dritten Reiches" unendlich weit zurückliegt. Ausstellungen wie diese sind dabei, denke ich, unverzichtbar, weil sie Geschichte am konkreten Schicksal begreifbar machen, dem Leiden der Menschen unter Drangsalierung und Verfolgung ein Gesicht geben und die Verletzung menschlicher Würde nachempfinden lassen.

Eine Sorge will ich nicht verhehlen: Angesichts der Tendenz umfassender Kommerzialisierung auch der Kultur fürchte ich, dass schon in nicht all zu ferner Zukunft selbst das Thema Holocaust gnadenlos kommerziell ausgebeutet werden könnte - durch Triviales, Reißerisches, dessen Ziel nicht Aufklärung, Erzeugung von Empathie sein wird, sondern die Befriedigung voyeristischer Triebe. Darauf, dass das versucht werden wird, müssen wir vorbereitet sein, auch wenn es für mich eine Horrorvorstellung ist, dass die Gräuel der Nazi-Zeit auf diese Weise zu einem konsumierbaren - im wahrsten Sinne des Wortes - genießbaren Produkt umgemünzt würden. Tun wir also schon im Vorfeld solcher - möglichen - Versuche alles, um die Opfer des Nationalsozialismus vor Instrumentalisierung und neuerlicher Ausbeutung zu schützen. Auch deshalb ist es so wichtig, eine Kultur des würdigen Gedenkens und Erinnerns dagegen zu setzen. Zumal von Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit in unserer Gesellschaft überhaupt nicht die Rede sein kann. Es ist wohl auch nichts zu "bewältigen". Wie wenig wirklich erreicht ist, zeigt leider auch der epidemische Gebrauch von Nazi-Vergleichen. Kein politisches Lage ist frei von dieser Versuchung. Die Äußerungen sind bösartig und stets zu weit hergeholt. Der moralische Tiefpunkt der deutschen Geschichte wird missbraucht, um aktuelle Rechnungen zu begleichen. Solche Vergleiche sind eine Verrohung unserer politischen Sitten. Sie sprechen dem politischen Kontrahenten demokratische Qualität ab. Und noch schlimmer: Sie relativieren den Antisemitismus und verhöhnen die Opfer. Deshalb sind solche Nazi-Vergleiche einfach widerlich.

Auch der Vergleich unserer Situation mit der Stimmung in der Endzeit der Weimarer Republik ist absurd - gleichwohl wird immer wieder versucht, Parallelen zu ziehen. Dabei ist die Lage eine völlig andere: Zum Glück gibt es heute weder den Ruf nach dem starken Mann noch eine galoppierende Inflation.

Eine politisch riskante Erlösungssehnsucht gibt es gleichwohl. Ungeduld, Unzufriedenheit mit dem Tempo der Politik und mit ihrer Lösungskompetenz angesichts der angstvoll, wütend, bedrängend erlebten ökonomischen und sozialen Problemfülle und des Veränderungsdrucks führen dazu, dass das Erlösungsbedürfnis von allem dem besonders groß ist. Manche drücken es aus - durchaus mit einem latent antidemokratischen Unterton. Aber - daran ist zu erinnern - Politik ist nicht für Erlösung zuständig, ist kein Religionsersatz, sondern in ihr geht es um Lösungen, um jeweils etwas bessere Lösungen. Davon handelt jedenfalls der demokratische Streit.

Mit Erlösung kann Politik nicht dienen, hoffentlich aber mit Reformen! Demokratie verteidigen heißt deshalb, die notwendigen Veränderungen aussprechen, diskutieren, mehrheitsfähig machen und Schritt für Schritt verwirklichen. Das sind alles mühselige Vorgänge. Aber so ist Demokratie nun einmal. Mit Befriedigung von Erlösungsbedürfnissen hat das alles gar nichts zu tun, manchmal sogar mit deren bitterer Enttäuschung. Doch ist das alle Mal besser als jene schlimme Versuchung von säkularisierter Religion und politischer Heilslehre, wie sie für beide Diktaturen des 20. Jahrhunderts charakteristisch war. Die Ablehnung religiös verbrämter politischer Heils-Aktivitäten bleibt aktuell.

IV.

Meine Damen und Herren,
Elie Wiesel, einer der sensibelsten Interpreten der Gefühlslage nach dem Holocaust, hat zwei Erscheinungen als größte Bedrohung der Menschheit bezeichnet: Der Fanatismus der Massen und die Gleichgültigkeit des Einzelnen. Ellie Wiesel hat Recht: Ohne den Fanatismus der Massen und ohne die Gleichgültigkeit der einzelnen wäre Hitlers totale Diktatur nicht möglich gewesen, wäre die Geschichte der Familie Loevy völlig anders verlaufen.

Die Geschichte der Loevys - wir können sie nicht ungeschehen machen. Umso wichtiger, dass wir die richtigen Schlüsse für Gegenwart und Zukunft ziehen. Lassen wir es nie wieder dazu kommen, dass Menschen ausgegrenzt werden. Treten wir bereits den leisesten Anfängen von Unfreiheit, Rechtsbruch und Menschenverachtung entschieden entgegen. Der Kampf um die alltägliche Menschlichkeit und die Verteidigung ziviler Tugenden muss die Sache aller sein. Möge diese Ausstellung möglichst viele überzeugen - gerade auch junge Menschen - wie sehr es darauf ankommt, für Toleranz und Menschenrechte einzutreten.

Ich wünsche der Ausstellung viele Besucherinnen und Besucher."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2003/010
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