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Reden 2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, beim Kongress anläßlich des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung am 12. Juni 2003 in Rendsburg "Teilhabe von Menschen mit Behinderung - eine politische Herausforderung"

Es gilt das gesprochene Wort

"Seit neun Jahren ist in unserem Grundgesetz das Diskriminierungsverbot gegenüber behinderten Menschen in Art. 3 verankert. 2002 trat - endlich - das Bundesgleichstellungsgesetz in Kraft. Erst kürzlich wurde die deutsche Behindertenpolitik von der EU-Sozialkommissarin Diamantopoulou als vorbildlich in der EU bewertet. Manche meinen, damit sei doch nun alles für die Behinderten getan.

Im Blick auf den Gesetzgeber mag das stimmen, aber natürlich steht die Umsetzung noch aus. Wir haben also noch längst nicht genug für behinderte Menschen getan. Noch gibt es die Barrieren im alltäglichen Leben - wenn zum Beispiel Rollstuhlfahrer vor unüberwindbaren Treppen stehen, wenn der Arbeitgeber der blinden Bewerberin trotz der vorhandenden Qualifikation eine Absage schickt. Die Summe der alltäglichen Erfahrungen Behinderter ist, als bedürftig und hilflos zu gelten, vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt zu werden, vor lauter Mitleid nicht wirklich ernst genommen zu werden. Die höchsten Barrieren für Behinderte stammen also aus falschen Vorstellungen vieler nicht-behinderter Mitbürger. Höchstleistungen behinderter Sportler, Musiker oder Schauspieler wirken dem entgegen, indem sie deutlich machen, wie "verrückt", wie übertrieben diese Vorstellungen von Begrenztheit und Beschränkung vieler Behinderungen sind. Dass zur Würde selbstverständlich auch des behinderten Menschen Teilhabe und Selbstbestimmung gehören, dem stimmen die meisten zu. Daraus aber alltägliche, praktische Konsequenzen zu ziehen, das müssen Viele noch lernen und begreifen.

Etwa 38 Millionen Bürgerinnen und Bürger der EU leiden unter einer Behinderung. In Deutschland leben rund 6,7 Millionen behinderte Menschen. Ca. 4 % von ihnen sind seit ihrer Geburt behindert. Die meisten werden es im Laufe ihres Lebens durch Unfall, Krankheit oder im Alter. Niemand ist davor gefeit. Das heißt: Behindertenpolitik ist keine Politik für Randgruppen, sondern eine soziale und bürgerrechtliche Politik für alle. Sie ist ein Prüfstein dafür, wie ernst die Beteuerungen zu nehmen sind, dass niemand in unserer Gesellschaft diskriminiert werden darf. Die humane Qualität einer Gesellschaft lässt sich daran ermessen, wie sehr und wie erfolgreich sie sich um den Ausgleich von Nachteilen, um Chancengerechtigkeit bemüht.

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass behinderte Menschen schon immer ausgegrenzt und in ihrer Würde verletzt worden sind. Entweder wurden sie als Sensationen ausgestellt und vorgeführt oder als Außenseiter versteckt und ausgeschlossen. Selbst die Aufklärung beendete diese Stigmatisierung nicht, sondern wechselte lediglich die Begründungen dafür aus. Ein pseudo-wissenschaftlicher Normalitätsbegriff verstärkte das soziale Leid Behinderter. Das mündete in monströsen Unworten wie "Ballastexistenzen" oder "Schädlingen", aber beschämenderweise war das doch noch nicht der Höhepunkt der Menschenverachtung. Die nationalsozialistische Politik der sogenannten "Rassenhygiene" verlangte die Vernichtung von angeblich "minderwertigen", "unwerten" Menschenleben und ermordete tatsächlich über 100.000 behinderte Menschen, weitere schätzungsweise 350.000 wurden zwangsweise sterilisiert.

Die Befreiung vom Nationalsozialismus bedeutete nicht, dass nun in Deutschland ein offener und unbefangener Umgang mit behinderten Menschen gepflegt wurde - weder in der DDR noch in der Bundesrepublik. Behinderte wurden versorgt, verwahrt, verwaltet. Das materielle Niveau änderte nichts daran, dass Behinderte allenfalls bemitleidenswerte Objekte, aber nicht anerkannte, gleichberechtigte Subjekte sein konnten. Mitleid, inszenierte Nächstenliebe, oft auch Angst vor dem Fremden und Ignoranz bestimmten über Jahrhunderte das Schicksal behinderter Menschen.

Erst allmählich - für die Betroffenen viel zu langsam - findet ein Bewusstseinswandel statt. Chancengleichheit, Integration, Teilhabe sind die Ziele moderner Behindertenpolitik. Behinderte Menschen wollten wohl selbst nie ausschließlich Objekt wie gut auch immer gemeinter Fürsorge sein. Sie wollen Subjekte sein und die Chance nutzen können, nicht nur ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen, sondern auch an den politischen, gesellschaftlichen Entscheidungen gleichberechtigt mitzuwirken. Erst recht, wenn sie selbst Betroffene dieser Entscheidungen sind - so lautet das Motto des Europäischen Jahres "Nichts über uns ohne uns". Behinderte Menschen sind nicht besser, kreativer, demokratischer als nicht-behinderte - aber auch nicht schlechter. Sie sind anders und haben deshalb andere Erfahrungen. Und damit sind sie ein Gewinn für uns alle.

Rechtliche Rahmenbedingungen sind nun endlich vorhanden. Ich nenne sie hier nur stichpunktartig, weil Sie alle hier bestens damit vertraut sind:

· 1983: Verabschiedung der Rahmenbedingungen zur Herstellung der Chancengleichheit durch die Vereinten Nationen;

· 1994: Benachteiligungsverbot in Art 3 Abs. 3 GG; es folgen entsprechende Regelungen in den Landesverfassungen, auch in Schleswig-Holstein;

· 2002: Bundesgleichstellungsgesetz;

· 2001: das neue Sozialgesetzbuch Neuntes Buch, in dem das Rehabilitationssrecht und Schwerbehindertenrecht zusammengefasst worden sind, tritt in Kraft;

· auf europäischer Ebene: Nicht-Diskriminierungsklausel in Art. 13 des EG-Vertrages, entsprechende Bestimmungen (Art. 21, 34, 35, 36) in der Charta der Grundrechte der EU, finanzierte Programme aus dem Europäischen Sozialfonds, EQUAL-Programm (Aktivitäten gegen Diskriminierung von Behinderten), grenzüberschreitende Projekte wie Eurecard (Leistungen können grenzüberschreitend in Anspruch genommen werden)

Alle diese Regelungen sind entscheidende Schritte weg von der Fremdbestimmung, hin zur Selbstbestimmung und Chancengleichheit von behinderten Menschen. Der Staat bleibt dabei in Verantwortung, aber er wird - selbst wenn Finanzen und Ressourcen der öffentlichen Hand nicht so begrenzt wären wie heute - allein keinen Erfolg haben.
Rechtliche Regelungen sind wichtig. Aber gesellschaftliche Gleichstellung, Akzeptanz und Toleranz entstehen letztlich erst in den Köpfen der Individuen, im Handeln der Institutionen und der Unternehmen.

Symptomatisch für viele in unserer Gesellschaft ist einerseits nicht nur die Unterschätzung der Leistungsfähigkeit der Behinderten, sondern andererseits auch die Tendenz zur Reduzierung aller Menschen auf ihre Rollen als Produzent und Konsument. Das wird keinem Menschen gerecht. Erst wenn wir wieder fragen, wer ein Mensch ist, statt ihn darauf festzulegen, was er ist, welche in Geld bemessenen Leistungen er erbringt, werden wir der Vorstellung von der Würde des Menschen gerecht.

Auf diesem Weg sind wir derzeit aber nicht.
In einer im letzten Jahr erschienenen wissenschaftlichen Studie des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung über den "Seelenzustand" der Deutschen wurde festgestellt: Rücksichtslosigkeit, Fremdenfeindlichkeit und aggressive Einstellungen gegen Minderheiten und Schwache sind weit verbreitet und nehmen eher noch zu. Das Ausmaß an Intoleranz und Verantwortungslosigkeit, das sich darin widerspiegelt, ist Besorgnis erregend.

Wenn es offensichtlich in manchen Köpfen ideologische und rassistische Vorstellungen gibt, wie Menschen angeblich zu sein haben und übrigens auch ein suggestiver Druck beispielsweise durch Werbung hin zu Fitness, Schlankheit und eng definierter, jugendlicher Schönheit gibt, so berechtigt dies auch erhebliche Zweifel an den modernen Möglichkeiten der Humangenetik und der pränatalen Diagnostik. Wenn das Abweichende, das Andere als scheinbar vermeidbar gilt, wird - so ist zu befürchten - die Akzeptanz behinderter Menschen eher abnehmen. Ich finde nicht, dass wir alles machen dürfen, bloß weil wir es können. Wir haben die Möglichkeit und die Pflicht, uns zu entscheiden und müssen das Richtige vom Falschen unterscheiden. Dazu gehört auch, ob die Folgen neuer Möglichkeiten akzeptabel sind oder nicht. Mich erschreckt die Aussicht auf Selektion. Erich Fried hat in einem Gedicht ("Die Maßnahmen") mögliche Folgen solchen Hochmuts drastisch formuliert. "Die Kranken werden geschlachtet, die Welt wird gesund."

Die Ehrfurcht vor jedem menschlichen Leben muss an höchster Stelle stehen. Nach dem Rückblick in die Geschichte, den ich eben gemacht habe, muss das gar nicht weiter begründet werden. Es ist offensichtlich, wohin jede Abweichung von dieser Norm führt. Wir haben kein Recht zur Selektion menschlichen Lebens. Aber wir haben eine Pflicht zur Solidarität und Mitmenschlichkeit. Wer noch nie ein Kind getröstet, noch nie einem älteren Menschen geholfen, noch nie einem Kranken zur Seite gestanden hat, der hat diese Werte noch nicht praktiziert. Aber individuelle Mitmenschlichkeit reicht nicht. Wir sind vielfach auf gesellschaftlich organisierte Solidarität angewiesen. Ein Beispiel ist die Integration behinderter Kinder in Kindergarten und Schulen. Die Kosten sind individuell kaum zu tragen. Aber der Aufwand lohnt sich! Wer in jungen Jahren erfährt, wie gut ein gleichaltriges Kind, das im Rollstuhl sitzt, Memory spielen kann, wie fantasiereich seine Bilder gemalt sind, wie spannend seine Geschichten sind, wird Behinderte ernst nehmen und diese Erfahrung weitergeben. Auch die behinderten Kinder lernen für's Leben, stärken ihre Persönlichkeit und erfahren, dass sie sich als Gleichberechtigte durchsetzen können.

Das "Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen" eröffnet die Chance, an dieses Beispiel anzuknüpfen. Dabei ist es sicher wichtiger, Nicht-Behinderten die Fähigkeiten der Behinderten nahe zu bringen, um Ignoranz und Fremdheit zu überwinden. Ob Malerei, Musik, Sport, Wissenschaft oder Politik - in allen Bereichen finden in diesem Jahr viele Veranstaltungen statt, bei denen behinderte Menschen zeigen, was sie können, über ihre Situation informieren, diskutieren, und das europaweit. Ich hoffe sehr auf das Gelingen, damit die beschriebenen Barrieren im Alltag und in den Köpfen der nicht-behinderten Mehrheit abzubauen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit."
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2003/018a
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