Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > PARLAMENT > Präsidium > Reden > 2004 >
Reden 2004
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Weiße Rose" am 30.03.2004 in Berlin

Anrede,
im vergangenen Jahre waren es genau sechs Jahrzehnte her, dass Hans und Sophie Scholl sowie andere Mitglieder der Weißen Rose [Kurt Huber, Hans Leipelt, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf] vom nationalsozialistischen Unrechtsregime hingerichtet wurden. Sie hatten für etwas gekämpft, was uns – insbesondere den jüngeren - nach über mehr als 50 Jahren stabiler Demokratie als das Selbstverständlichste der Welt erscheinen mag: Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte sind aber keineswegs naturgesetzlich "da" und wir haben sie auch nicht auf Dauer sicher - die zwölf Jahre des nationalsozialistischen Terrors zeigen das und ein Blick heute in andere Teile der Welt ebenso.

Die Ausstellung über die Weiße Rose stellt ihre Ziele, die Aktivitäten und vor allem ihre Mitglieder vor – die bekannten, aber auch diejenigen, die einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Was die Mitglieder der Weißen Rose einte, war, dass sie in einer Zeit, in der in Deutschland Amoralität, Inhumanität und Willkür herrschten, versucht haben, das Empfinden für Recht und Unrecht neu zu entfachen. Das Streben der nationalsozialistischen Machthaber nach der totalen Gleichschaltung der Nation, der Rassenwahn, die kulturelle Engstirnigkeit, der Ungeist von Befehl und Gehorsam – das alles ließ sie zu entschiedenen Gegnern der Nationalsozialisten werden – am Ende wurden sie ihre Opfer.

Die Mitglieder der Weißen Rose waren – wie andere Widerstandsbewegungen – nicht erfolgreich (in diesem Jahr jährt sich das missglückte Attentat vom 20. Juli zum 60. Mal). Aber nicht Erfolg oder Misserfolg entscheiden darüber, was richtig, notwendig, anständig ist. Die Mitglieder der Weißen Rose haben zweifellos das Richtige getan, als sie sich dem Terror, dem Rechtsbruch und der Menschenverachtung entgegensetzten. Das Verteilen von Flugblättern mag uns aus heutiger Sicht naiv erscheinen – was sollten Flugblätter schon groß bewirken? - , damals war es ein außerordentliches, ja tödliches Wagnis. Die Mitglieder der Weißen Rose wagten es trotzdem. Ihr Mut speiste sich wesentlich aus jugendlicher Sehnsucht nach Menschlichkeit, aus jugendlicher Leidenschaft für Freiheit und Gerechtigkeit. Gerade das ist es, was uns die Weiße Rose auch über die Zeitdistanz von über 60 Jahren so nahe, so lebendig sein lässt.

Als Vermächtnis hinterlassen uns die Mitglieder der Weißen Rose die Aufgabe, in einer Zeit, in der es zwar nicht mehr um Widerstand, wohl aber um Widerspruch geht, politisch wach zu bleiben und Feinde der Demokratie frühzeitig als solche zu entlarven. Wir dürfen nicht vergessen, dass Hitler auch deshalb an die Macht kommen konnte, weil es in der ersten Republik zu wenige überzeugte Demokraten gab, zu wenige, die sich den Feinden der Demokratie in den Weg stellten. Es darf nie wieder dazu kommen, dass sich eine schweigende Mehrheit nicht zuständig fühlt für das, was in unserem Land passiert. Dabei reicht es nicht, Unrecht schweigend zu missbilligen. Innere Vorbehalte und stiller Protest sind gewiss eine honorige Haltung, doch bewirken tun sie nichts. Demokratie lebt nicht von innerer Haltung, sondern von überzeugtem Handeln.

Dass bei den jüngsten Wahlen (sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene) rechtsextremistische Parteien keine Chancen hatten, ist zwar ein ermutigendes Zeichen. Doch haben wir keinen Grund, uns entspannt zurückzulehnen. Mit wachsender Unsicherheit, mit dem subjektiven Gefühl sozialen Abstiegs, mit der Zunahme prekärer Lebens–, Arbeits- und Anerkennungsverhältnisse und auch mit der Furcht vor terroristischen Attacken wächst auch die Gefahr von emotional instabilen Situationen, in der sich viele politisch ohnmächtig fühlen und deshalb auf Parolen populistischer Polithasardeure hereinfallen. Gewiss – es wird keine Neuauflage des so genannten "Tausendjährigen Reiches" und seines Zustandekommens geben. Aber bestimmte Prozesse können sich durchaus wiederholen. Und Dämme können ein weiteres Mal – wenn auch in anderer Form – brechen.

Ich sage das auch bewusst mit Blick auf die schwierigen Umbrüche, die wir derzeit erleben. Wir sind mitten in schmerzhaften Reformen, die sicher Geglaubtes in Frage stellen und den Menschen einiges zumuten. Die Unsicherheit über das, "was kommt" erzeugt verständlicherweise Unzufriedenheit und Ängste. Je größer solche Ängste, desto größer ist auch die Sehnsucht nach einfachen, klaren Antworten. Und desto größer ist die Neigung, jemandem Glauben zu schenken, der vorgibt, eine einfache Lösung zu haben und der - angeblich - Schuldige benennen kann.

Mir liegt es fern zu dramatisieren. Deutschland ist kein Land, in dem wir von einer akuten Bedrohung der Demokratie sprechen müssten. Ganz im Gegenteil. Aber es gibt in Deutschland einen latent antidemokratischen Bodensatz. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass sich in Deutschland eine Mentalität ausbreite, Menschen zu verachten, die schwächer sind, die am Rande stehen, die einer Normalität nicht entsprechen. Wilhelm Heitmeyer hat dafür einen erschreckend entlarvenden Begriff geprägt: "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit."

Mit ihrem Streben nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit ist die Weiße Rose keineswegs ein Phänomen von lediglich historischer Bedeutung. Das, wofür die Mitglieder der Weißen Rose eingetreten sind, bleibt zeitlos gültig. Natürlich können die Märtyrer der Freiheit uns, die wir in Freiheit leben, nicht unmittelbar und konkret Vorbild sein. Aber das haben wir hoffentlich endgültig gelernt: Es gar nicht so weit kommen lassen, dass überhaupt Märtyrer notwendig werden, sondern im Gegenteil: Sinn für die Kostbarkeit und Verletzlichkeit der Freiheit entwickeln.

Treten wir also bereits den leisesten Anfängen von Unfreiheit, Rechtsbruch und Menschenverachtung entschieden entgegen. Ob Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Gewalt an Schulen, latente Bedrohung durch Terroristen: Sagen wir laut "Nein", überall dort, wo es notwendig ist. Der Kampf um die alltägliche Menschlichkeit und die Verteidigung ziviler Tugenden muss die Sache aller sein. Zivilcourage ist für die Demokratie wichtig, überlebenswichtig. Sie ist die Kraft, ohne die unser demokratischer Staat nicht leben kann. Diese Ausstellung schärft den Blick dafür. Deshalb ist sie hier, im Parlament, im Herzen der Demokratie, genau am richtigen Platz. Ich wünsche ihr viele aufmerksame Besucher.
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/006
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion
AKTUELL