160. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Wolfgang Thierse:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Helmut Rauber feiert heute seinen 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihm sehr herzlich.
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Volker Kauder als ordentliches Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Norbert Röttgen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Norbert Röttgen als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Sodann teile ich mit, dass die Kollegin Undine Kurth ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin die Kollegin Monika Lazar. Sind Sie auch damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Lazar als Schriftführerin gewählt.
Durch eine Gesetzesänderung wurde das aus neun Mitgliedern des Bundestages bestehende Gremium nach § 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes aufgelöst. Dafür muss gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes ein neues Gremium – ebenfalls bestehend aus neun Mitgliedern des Bundestages – gewählt werden. Hierfür schlägt die Fraktion der SPD die Kollegen Florian Pronold, Christian Lange (Backnang), Dr. Rainer Wend und Uta Zapf, die Fraktion der CDU/CSU die Kollegen Ruprecht Polenz, Christian Schmidt (Fürth) und Dr. Andreas Schockenhoff, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Kollegen Hans-Christian Ströbele sowie die Fraktion der FDP den Kollegen Dr. Max Stadler vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kollegen in das Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes gewählt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 27)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Uwe Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt verbessern – Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen
– Drucksache 15/4942 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)InnenausschussRechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 28)
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht
– Drucksache 15/3423 –
(Erste Beratung 135. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss)
– Drucksache 15/4469 –
Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Minkel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 249/04
– Drucksache 15/4944 –
Berichterstattung:Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD
Klage des Landes Hessen gegen Finanzzuweisungen des Bundes an das „Kompetenzzentrum Bologna“ der Hochschulrektorenkonferenz – Konsequenzen für die auf europäischer Ebene vereinbarte Reform des Hochschulwesens in Deutschland
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit erforderlich – abgewichen werden.
Ferner sollen die Punkte 3 g und 4 b, die jeweils Änderungen des Grundgesetzes betreffen, sowie der Tagesordnungspunkt 22 a und b – Versammlungsgesetz bzw. Gesetz über befriedete Bezirke – abgesetzt werden.
Die Punkte 6 und 25 sollen getauscht werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention
– Drucksache 15/4833 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Prävention und Gesundheitsförderung als individuelle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe
– Drucksache 15/4671 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Tourismus
Der in der 158. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Verena Butalikakis, Monika Brüning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe umfassend, innovativ und unbürokratisch gestalten
– Drucksache 15/4830 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
3. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa
– Drucksachen 15/4900, 15/4939 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung PetitionsausschussAuswärtiger Ausschuss InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 15/4716 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung PetitionsausschussAuswärtiger Ausschuss InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Michael Roth (Heringen), Günter Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 15/4925 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung PetitionsausschussAuswärtiger Ausschuss InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung
– Drucksache 15/4936 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung PetitionsausschussAuswärtiger Ausschuss InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei der Rechtsetzung der Europäischen Union nach In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages
– Drucksache 15/4937 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung PetitionsausschussAuswärtiger Ausschuss InnenausschussSportausschuss Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUCSU
Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen
– Drucksachen 15/2970, 15/4206 –
Berichterstattung:Abgeordnete Claudia Roth (Augsburg)Peter Altmaier Rainder Steenblock Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen, meine Herren! Wir legen heute den Grundstein für eine gute Zukunft Europas. Wir reden heute darüber, auf welchem Fundament wir Europäerinnen und Europäer leben und arbeiten wollen. Was eint uns? Was hält uns zusammen? Was stiftet Identität in Europa? Normalerweise beschäftigen sich Politikerinnen und Politiker mit diesen Fragen. Wir hatten aber im Jahr 2003 erstmals seit langem wieder eine spannende Debatte von Intellektuellen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darüber, was uns zusammenhält bzw. was uns eint.
Der deutsche Philosoph Habermas hat sich mit Jacques Derrida, dem großen französischen Intellektuellen, zusammengetan. Beide haben gemeinsam ein Mut machendes Plädoyer für das vorgelegt, was unser gemeinsames Bewusstsein neben all dem Politisch-Technokratischen, was uns allzu oft auch hier beschäftigt, ausmachen könnte. Sie haben darüber gesprochen, dass uns Europäerinnen und Europäer die Höhen und Tiefen einer gemeinsam durchlittenen Geschichte einen. Uns eint die Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für die Widersprüche des Fortschritts. Uns eint das Ethos im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Uns eint die Skepsis gegenüber staatlicher Allmacht. Uns eint der Kampf gegen die Todesstrafe.
All dies sind Mut machende Beispiele. Heute fügen wir ein weiteres Mut machendes Beispiel hinzu, denn wir können stolz erklären, dass die europäische Verfassung, die uns heute Morgen hier zusammengeführt hat, Identität stiftet.
Sie lädt die Bürgerinnen und Bürger Europas ein, sich auf einem gemeinsamen Fundament zu vereinigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass wir hier auch sehr kritisch und kontrovers über den Inhalt der Verfassung gestritten haben. Wir sollten diesen Inhalt aber nicht an Wolkenkuckucksheimen messen und uns nicht allein am Wünschenswerten, sondern am Machbaren orientieren. Wären größere Reformschritte nötig gewesen? – Ja. Waren größere Reformschritte möglich? – Aus meiner Sicht nein.
Wenn wir über den Konvent und die sich daran anschließende Regierungskonferenz reden, dann sollten wir nicht Amsterdam und Nizza vergessen, Regierungskonferenzen, die ohne parlamentarische Mitwirkung schlechtere Ergebnisse zustande gebracht haben. Ich bin deshalb von dieser europäischen Verfassung so begeistert – mit meiner Begeisterung möchte ich Sie ein wenig anstecken – weil sie deutlich macht, dass Europa nicht allein eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern von Werten zusammengehalten wird. Die Grundrechte-Charta wird rechtsverbindlicher Bestandteil dieser Verfassung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann seine Rechte einklagen. Diese Rechte und die hiermit verbundenen Pflichten sind Maßstab für alle europäischen Institutionen.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist besonders wichtig, dass das europäische Sozialmodell zukunftsfest gemacht wird. Der Geist der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Verfassung. Daher sollten wir die Kommission und alle anderen, die in Europa Verantwortung tragen, immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich auf einem sozialen Fundament bewegt.
Wir haben es geschafft, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Blockaden werden überwunden. In der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt Europa Gesicht und Stimme. Es besteht die Chance, dass wir gemeinsam die großen, zentralen Herausforderungen dieser Welt lösen und dass wir nicht mehr über Gegensätze reden, sondern Gemeinsamkeiten formulieren. Auch haben wir die Chance, Globalisierung zu gestalten und den Menschen die Angst vor der Globalisierung zu nehmen. Globalisierung hat aus unserer Sicht nur dann eine Zukunft, wenn sie ein menschliches Antlitz erhält. Auch dies wird in der europäischen Verfassung deutlich. Last, but not least stärken wir die Demokratie.
All dies ist ein Erfolg sozialdemokratischer Politik. Dafür haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten jahrzehntelang gestritten: nicht nur Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Der Grundstein für diesen Konvent, der der EU-Verfassung zum Erfolg verholfen hat, ist unter deutscher Präsidentschaft, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, gelegt worden. Dies ist mit unserem Namen verbunden und deswegen sollten wir darauf stolz sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wir laden aber auch Sie dazu ein, ebenfalls stolz auf das Ergebnis zu sein; darüber werden Sie nachher sicherlich noch reden. An dieser Stelle danke ich allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben: unserem Konventsdelegierten Jürgen Meyer und dem Kollegen Altmaier von der CDU/CSU. Auch Herr Teufel, der auf der Bundesratsbank sitz, hat Anteil an diesem Erfolg.
Dies gilt auch für den Bundeskanzler, den Außenminister und viele andere.
Ich rufe dies nur in Erinnerung, weil eben nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier daran beteiligt waren. Wenn wir mit der europäischen Verfassung mehr Demokratie wagen, dann sollten wir gemeinsam auch mehr Parlamentarismus wagen. Die europäische Verfassung stärkt nämlich nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die nationalen Parlamente. Wir haben uns immer als Partner des Europäischen Parlamentes verstanden. Wir haben aber gleichzeitig im innerstaatlichen Prozess die Aufgabe, Einfluss zu nehmen auf die Europapolitik. Es ist unser gemeinsamer Beitrag, für mehr Öffentlichkeit und mehr Transparenz zu sorgen, indem wir auch hier im Bundestag über die Zukunft Europas diskutieren und Probleme beraten.
Das dürfen wir nicht allein dem Europäischen Parlament überlassen.
Natürlich ist da manches verbesserungswürdig und auch verbesserungsfähig. Deswegen hat die rot-grüne Koalition ein Begleitgesetz vorgelegt, mit dem der Versuch unternommen werden soll, das, was uns die EU-Verfassung als Auftrag mit auf den Weg gibt, in konkrete Gesetzesmaterie zu gießen.
Wir haben uns dabei von einigen Prinzipien leiten lassen:
Erstens. Der Bundestag hat schon jetzt weitreichende Mitwirkungsmöglichkeiten. Aus meiner Sicht nutzt er sie bislang nur begrenzt. Deswegen sollten wir, bevor wir weitreichende neue Gesetze beschließen, die vorhandenen Möglichkeiten offensiver und selbstbewusster nutzen.
Zweitens. Die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Konzert von inzwischen 25 Mitgliedstaaten darf nicht beschnitten, nicht geschwächt werden. Deutschland muss mit einer Stimme klar, selbstbewusst und deutlich in Brüssel und in der Europäischen Union wahrgenommen werden.
Drittens. Bei all den Problemen im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, die wir im Rahmen der Föderalismuskommission beraten haben – leider bislang ohne Erfolg –, können wir das, was uns bedrängt – das bezieht sich nicht allein auf Art. 23 des Grundgesetzes –, nicht im Rahmen der Ratifizierungsdebatte lösen. Wir sollten all das im Rahmen eines großen Paketes nochmals angehen, wenn die Föderalismuskommission ihre Arbeit – möglicherweise in Bälde – wieder aufnimmt.
Viertens. Wir wehren uns – das vielleicht ein wenig in Richtung der Opposition – gegen diverse Politikmätzchen, die auch in einigen Anträgen und Gesetzentwürfen der Opposition Einzug gehalten haben. Mir ist nicht einsichtig, warum wir jetzt, nachdem sich die Praxis jahrzehntelang bewährt hat, noch einmal darüber reden sollen, dass vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Bundestag zu befassen ist. Das ist doch nur vor dem Hintergrund der Kontroverse um den Türkeibeitritt zu sehen. Solche Überlegungen sollten wir unterlassen; denn das hat mit dieser EU-Verfassung nichts zu tun.
Weil wir diese Prinzipien zugrunde gelegt haben, konzentriert sich der Inhalt unseres Begleitgesetzes auf die Konsequenzen, die sich unmittelbar aus der europäischen Verfassung ergeben. Es sind dies im Wesentlichen vier Punkte:
Der erste Punkt, nämlich die Frage, wie wir im Bundestag mit dem Prinzip der Subsidiarität umgehen, hat uns sehr eng zusammengeführt, fraktionsübergreifend. Wir – meine Kollegin Angelica Schwall-Düren, mein Kollege Günter Gloser und ich – haben schon im vergangenen Jahr dem Bundestagspräsidenten ein Papier zugeleitet und darüber auch mit allen Fraktionen gesprochen. Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe großes Einvernehmen darüber erzielt, dass wir die Fachausschüsse und den Europaausschuss noch enger zusammenwirken lassen müssen, um die Frage der Subsidiaritätsrüge vernünftig zu lösen.
Der zweite Punkt ist die Subsidiaritätsklage. Wenn wir mit einer Rüge keinen Erfolg haben, haben wir als Deutscher Bundestag die Möglichkeit zu klagen. Wir sind der Auffassung, dass eine Klage nur dann erfolgversprechend ist, wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestages eine solche Klage ausspricht. Deswegen sind wir gespannt auf Ihre Argumente, mit denen Sie begründen wollen, warum Sie dies als Minderheitenrecht auszugestalten beabsichtigen.
Ein dritter Punkt ist die Passerelle-Klausel. Das ist ein fürchterliches Wort; man nennt es auch Brückenklausel. Wir haben als Deutscher Bundestag sehr dafür gestritten, Blockaden zu überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Wir haben uns leider nicht in allen Bereichen durchsetzen können. Deswegen eröffnet die Passerelle eine Chance für uns; denn dadurch kann der Europäische Rat einstimmig beschließen, in Politikfeldern, die gegenwärtig der Einstimmigkeit unterliegen, zur qualifizierten Mehrheit überzugehen.
Wir haben – das unterstützen wir selbstverständlich – die Chance, ein Veto einzulegen. Dieses Veto sollte aber, wenn überhaupt, von Bundesrat und Bundestag gemeinsam ausgesprochen werden. Wir sollten also nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union oder auch von den Ländern, neue Blockaden aufbauen, sondern zu erreichen versuchen, dass in noch mehr Politikfeldern nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheit entschieden wird, weil sonst eine Union der 25 oder 27, perspektivisch der 30, nicht mehr führbar und steuerbar ist.
Viertens haben wir – das mag der Bundesregierung nicht in Gänze schmecken – in unserem Begleitgesetz auch dafür gesorgt, dass die Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag erweitert werden. Auch darin liegt ein Angebot an Sie. Ein weiteres Angebot ist, dass wir – über die Regelungen des Begleitgesetzes hinaus –, wenn wir die Geschäftsordnung ändern und eine gesonderte Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag beschließen, den gewonnenen Spielraum konkret nutzen, um Probleme, die sich möglicherweise im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung ergeben, konstruktiv zu lösen.
Ich warne davor, neue Blockaden aufzubauen. Wir sollten versuchen, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Wir sollten aber nicht das, was wir auf europäischer Ebene hinter uns gelassen haben, sozusagen durch die Hintertür im Deutschen Bundestag wieder einführen.
Die Ratifizierung der europäischen Verfassung muss uns gelingen. Wir sind zum Optimismus verbannt.
– Vielen Dank für den Hinweis. Das habe ich nun davon, dass ich mir meine Rede nicht genau aufgeschrieben habe. – Wir sind zum Optimismus verdammt, weil eine Europäische Union, die unter den Regeln von Nizza zu arbeiten hätte, aus meiner Sicht weder handlungsfähig noch erweiterungsfähig oder zukunftsfähig wäre. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.
Wir sollten gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, dass in allen Mitgliedstaaten die Ratifizierung gelingt. Es ist nicht nur im deutschen Interesse, es ist auch im europäischen Interesse. Lasst uns helfen, dass in den Niederlanden, in Frankreich und überall dort, wo Referenden durchgeführt werden, die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugt werden, dass dies eine Chance für uns ist! Da ist jede Hilfe, die wir den Partnern und Freunden in Europa gewähren, sofern sie gewünscht wird, sicherlich geboten.
Ich will zum Schluss noch einen Punkt ansprechen, der mich immer wieder irritiert. Gelegentlich äußern sich Politikerinnen und Politiker sehr arrogant über die Bürger, indem sie davon sprechen, dass die Bürger skeptisch seien, sich nicht für Europa interessieren würden und keinen Anteil an diesem großen Projekt nehmen würden. Ich frage einmal ganz selbstkritisch: Können wir wirklich Begeisterungsfähigkeit von Bürgerinnen und Bürgern verlangen, wenn wir selbst nicht begeistert sind?
Wir müssen es endlich schaffen, dass wir den Wulst an technokratischen Regelungen, die leider mit dieser wunderbaren Idee von Europa verbunden sind, über Bord werfen und dass wir auf den Kern Europas zurückkommen. Wirtschaftliche Prosperität, sozialer Zusammenhalt, Friedensmacht Europa, internationale Solidarität und Zusammengehörigkeit sowie ökologische Nachhaltigkeit sind die Punkte, um die es im Kern geht. Sie verbergen sich gelegentlich hinter technischen Details. Es lohnt der Blick in die EU-Verfassung. Sie ist eine Chance für uns und die Bürgerinnen und Bürger.
Weil es sich in Deutschland um ein rein parlamentarisches Ratifizierungsverfahren handelt – das ist nun leider einmal so –, stehen wir Abgeordnete in einer besonderen Pflicht. Wir müssen begeistern können. Wir müssen Bürgerinnen und Bürger überzeugen können. Wir müssen um Zustimmung werben. Wir müssen für Gespräche offen sein. Wir müssen uns der Kritik stellen. Nur dann haben wir eine Chance, dass diese europäische Verfassung in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist.
Lassen Sie uns diese Ratifizierung auch als Chance für uns begreifen! Ich bin sehr optimistisch – wir werden darum kämpfen –, dass unser gemeinsames Projekt Europa eine gute Zukunft hat.
Vielen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel.
Erwin Teufel, Ministerpräsident (Baden-Württemberg):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesrat hat sich am vergangenen Freitag mit dem europäischen Verfassungsvertrag beschäftigt. Er hat seine Vorstellungen für das Ratifizierungsverfahren an die Adresse der Bundesregierung klar definiert.
Wir sind für diesen europäischen Verfassungsvertrag. Wir halten ihn für einen großen Schritt nach vorne. Er führt zu mehr Subsidiarität, zu mehr Bürgernähe, zu mehr Transparenz, zu klar definierten Grund- und Menschenrechten für die Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Demokratie, zu einem offeneren Verfahren in der europäischen Gesetzgebung und zu einer klaren Kompetenzordnung. Das alles ist sehr positiv zu werten. Deswegen haben wir eine grundsätzlich positive Einstellung zu diesem Vertrag. Wir werden ihn im Bundesrat ratifizieren.
Wir sind aber der Meinung, dass zum Besten in diesem europäischen Verfassungsvertrag die Kontrollrechte der nationalen Parlamente gehören.
Das sind übrigens, Herr Kollege Roth, nicht Gemeinschaftsrechte von Bundestag und Bundesrat. Wir haben die Kontrollrechte im Verfassungsvertrag vielmehr als Rechte jeder Kammer in den nationalen Parlamenten definiert. Das muss nun auf eine wirksame Weise umgesetzt werden. Dafür hat der Bundesrat vier Länder zu Verhandlungen mit der Bundesregierung beauftragt. Ich habe am letzten Freitag ganz klar zu diesem Antrag Stellung genommen, der in vielen Teilen mit dem übereinstimmt, was dem Bundestag heute in Gesetzentwürfen vorliegt. Ich möchte mich deshalb heute nicht wiederholen, sondern einige grundsätzliche Bemerkungen darüber machen, warum Europa in eine bessere Verfassung kommen muss.
Gestern vor 60 Jahren ist ein Bombenhagel über die Stadt Pforzheim niedergegangen – mit mehr als 15 000 Toten. Vor wenigen Tagen haben wir den 60. Jahrestag der schrecklichen Bombardierung Dresdens mit Zehntausenden von Toten erlebt. Das war über Jahrhunderte die geschichtliche Realität in Europa. Alle 20, 30 Jahre hat man in europäischen Bürgerkriegen, die im 20. Jahrhundert zu Weltkriegen geworden sind, zusammengeschlagen, was vorher mühselig aufgebaut worden ist.
Man sagt: Die Menschen lernen nicht aus der Geschichte. Die Deutschen haben aus der Geschichte gelernt – spät genug. Wir sind nicht nur eine verspätete Nation; wir sind auch eine verspätete Demokratie.
Konrad Adenauer hat dieses Land nach 1949 nach Westen orientiert. Dies war nicht nur eine geographische Orientierung nach Westen; dies war eine Orientierung hin zu den freiheitlichen Demokratien des Westens,
hin zur freiheitlichen, demokratischen Verfassungstradition des Westens. Wir verdanken inzwischen 50 und mehr Jahre des Friedens und der Freiheit dieser Westorientierung der deutschen Politik, der Aussöhnung mit Frankreich und den ehemaligen Kriegsgegnern von gestern, der europäischen Einigung und – das sage ich am Tag nach dem Besuch von Präsident Bush in Mainz aus ganzer Überzeugung – dem Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne all das hätten wir nicht die längste Periode des Friedens und der Freiheit in Deutschland erlebt.
Deshalb ist jeder Deutsche, der bei Verstand ist, mit der Ratio und dem Herzen für Europa. Aber es muss doch all denen, die politische Verantwortung tragen, zu denken geben, dass auch wir in den letzten zehn Jahren in den monatlichen Umfragen, die die Europäische Union in allen Mitgliedstaaten über die Akzeptanz von Europa durchführt, im Unterschied zu früheren Zeiten, als wir in Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Länder, bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. Das muss uns doch zu denken geben.
Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als ein fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut wie keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Geflecht von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine Übersicht. Der Bauer, der Handwerksmeister, der Kommunalpolitiker erleben aber fast tagtäglich europäische Gesetzgebung, von der sie der Überzeugung sind, dass sie bürgerfern und problemfern ist, dass sie sehr viel besser auf nationaler Ebene, auf Länderebene, ja sogar auf kommunaler Ebene erfolgen sollte.
Das ist der Grund, warum wir dringend eine europäische Verfassung brauchten, die das Subsidiaritätsprinzip achtet. Europa ist nicht stark, wenn es sich um tausend Aufgaben, wenn es sich um tausenderlei Aufgaben kümmert, sondern dann, wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert.
Die richtigen Aufgaben lassen sich genau definieren. Es sind diejenigen Aufgaben, deren Lösung über die Kraft des Nationalstaates hinausgeht. Kein Nationalstaat kann sich heute mehr allein verteidigen. Deswegen sind Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend europäische Aufgaben. Ich bin nicht der Meinung, dass auf diesem Gebiet Aufgaben an die Länder zurückgegeben werden sollten, sondern dass zusätzliche Aufgaben auf europäischer Ebene gelöst werden müssen.
Es ist ein Fortschritt, dass wir einen europäischen Außenminister mit zusätzlichen Zuständigkeiten bekommen. Es ist ein Fortschritt, dass wir die drei Säulen Europas zusammengefügt haben. Es ist ein Fortschritt, dass wir in Europa mehr Mehrheitsentscheidungen treffen können. Es ist ein Fortschritt, dass wir in den Krisenherden der Welt nicht mehr mit drei Personen auftreten, nämlich mit demjenigen, der gerade für ein halbes Jahr den Vorsitz innehat, mit demjenigen, der ihn im letzten halben Jahr innehatte, und mit demjenigen, der ihn im nächsten halben Jahr innehaben wird. Wir bringen nun Kontinuität in dieses Amt. Das bisherige Vorgehen war nicht überzeugend.
Man muss einen weiteren Grund hinzufügen, warum diese Verfassung notwendig war. Das bisherige Prinzip war außerordentlich erfolgreich. Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte. Das sollte man nicht vergessen, sondern aussprechen. Was aber für die Gemeinschaft der sechs, der zehn und der zwölf Mitgliedstaaten möglich war und mit 15 Mitgliedstaaten kaum noch funktioniert hat, funktioniert mit 25 Mitgliedstaaten nicht mehr. Ohne die Erfahrungen von Nizza – längster Gipfel: fünf Tage, vier Nächte – wäre es nicht zu dem Auftrag von Laeken, zu einem Konvent für eine europäische Verfassung gekommen.
Betrachten wir das Ergebnis. Natürlich könnte jeder – das ist angedeutet worden –, der einen Verfassungsentwurf schreiben will, eine aus seiner Sicht bessere Verfassung schreiben.
Jeder hat Wünsche. Es wurden aber entscheidende Schritte nach vorne getan.
Erstens. Das Ergebnis des Grundrechtekonvents unter der Leitung von Roman Herzog ist ohne Wenn und Aber Teil der neuen europäischen Verfassung. Sie enthält alle Grund- und Menschenrechte, wie sie einer rechtsstaatlichen, freiheitlichen Verfassung entsprechen.
Zweitens. Wir haben eine klare Kompetenzordnung. Was ist nicht alles dagegen gesagt worden? Europa ist ein dynamischer Prozess, der nicht an einem Tag in einer Verfassung, in einer Kompetenzordnung eingefangen werden könne. Die europäische Verfassung enthält heute – ähnlich wie das Grundgesetz – einen Artikel über ausschließliche Zuständigkeiten der Europäischen Union, einen Artikel über gemischte Zuständigkeiten, einen Artikel über ergänzende Zuständigkeiten, sogar einen Artikel, in dem steht, worum sich die Europäische Union auf gar keinen Fall kümmern darf, nämlich beispielsweise um die innere Ordnung der Mitgliedstaaten. Es wird das Selbstverwaltungsrecht der Städte und Gemeinden in diesem Artikel anerkannt. Erstmals kommen in einem europäischen Vertrag Städte vor, obwohl europäische Kultur und Geschichte weitgehend Stadtkultur und Stadtgeschichte sind. Das war höchste Zeit.
Man muss sich natürlich fragen, was die Einfallstore daür waren, dass immer mehr Zuständigkeiten, die man besser auf nationalstaatlicher, auf regionaler oder kommunaler Ebene erledigen sollte, nach Europa verlagert wurden.
Das erste große Einfallstor war der Binnenmarktartikel, Art. 308 EGV, der so allgemein gefasst war, dass mir zwei Kommissare gesagt haben: Wenn wir in keinem europäischen Vertrag eine Begründung für eine neue Kompetenz gefunden haben, dann haben wir uns auf den Binnenmarktartikel bezogen; denn er schaffte immer die Basis für eine neue Kompetenz.
Das zweite große Einfallstor war, dass jeder europäische Vertrag auf seinen ersten drei, vier Seiten und in 20 Spiegelstrichen mit allgemeinen Zielsetzungen begann. Das war Lyrik nach dem Motto: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Auf dieser Basis konnte die Kommission immer eine Begründung für eine neue Zuständigkeit finden.
Deshalb war es nötig, diese Einfallstore zu schließen. Das ist jetzt in Form einer klaren Kompetenzordnung geschehen. Noch wichtiger ist, dass es darin klipp und klar heißt: Allgemeine Zielsetzungen sind künftig nicht mehr kompetenzbegründend. Vielmehr benötigt man von nun an eine Einzelfallermächtigung. Wenn die Europäische Kommission, die auch in Zukunft für die Setzung europäischer Normen– sie haben nun übrigens die gleiche Bezeichnung wie im nationalen Recht; künftig handelt es sich um europäische Gesetze– zuständig ist, eine entsprechende Initiative ergreift, dann muss sie selbst vorher prüfen, ob der Grundsatz der Subsidiarität eingehalten ist und ob eine europäische Maßnahme überhaupt notwendig und adäquat ist. Das Ergebnis ihrer Prüfung muss sie im Einzelnen begründen und dabei ganz klare Kriterien, die ihr vorgegeben sind, erfüllen; das halte ich für außerordentlich wichtig. Und dies unterliegt künftig einer Kontrolle durch alle nationalen Parlamente.
Nun zum Europäischen Rat bzw. zum Ministerrat. Sie sind mir sicherlich nicht böse, wenn ich sage, dass er das reformbedürftigste Gremium war.
Kein demokratisches Parlament der Welt hat nicht öffentlich getagt.
Aber der Ministerrat hat nicht öffentlich getagt. Jetzt ist Öffentlichkeit hergestellt. Herr Außenminister Fischer, bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich für die gute Zusammenarbeit im Konvent. Eines nehme ich den Außenministern allerdings ein bisschen übel: Als sie sich bei der ersten Befassung mit dem Verfassungsentwurf in Rom noch auf gar nichts verständigen konnten, haben sie die vorgesehene Schaffung eines Gesetzgebungsrates abgelehnt. In Zukunft wird es wiederum nicht einen Gesetzgebungsrat, sondern sieben, acht, zehn oder zwölf Gesetzgebungsräte geben.
Die Folge wird sein: Wenn sich– das ist ein beliebiges Beispiel– ein Umweltminister mit einem Vorhaben in seinem nationalen Kabinett nicht durchsetzen kann, weil es dort auch noch einen Finanzminister, einen Wirtschaftsminister und einen Regierungschef gibt,
was wird er dann tun? Er wird sein Vorhaben zwei Wochen später im Ministerrat in Brüssel zur Sprache bringen. Dort ist er ausschließlich unter seinesgleichen, nur unter Umweltministern. Die Chance, dass er dort Zustimmung für sein Vorhaben, mit dem er im nationalen Parlament gescheitert ist, bekommt, ist sehr viel größer. Daher müssen die Mitgliedstaaten so unglaublich viele Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht umsetzen, obwohl ihre Kabinette entsprechende Pläne zuvor abgelehnt haben.
Meine Damen und Herren, deswegen wäre nichts wichtiger als die Schaffung eines einheitlichen Gesetzgebungsrates gewesen, besetzt mit einem Vertreter des Auswärtigen Amtes oder des Kanzleramtes
– das hätten Sie unter sich ausmachen müssen–, der eine Gesamtschau hat und, wie es auch ein nationales Parlament tut, an das Ganze denken muss.
Immerhin gibt es, was den Europäischen Rat bzw. den Ministerrat betrifft, auch Verbesserungen. Es wurde das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt; das ist ein Vorteil. In vielen Bereichen fand der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen statt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Satz zu einer der wenigen verbliebenen Streitigkeiten, nämlich zur Passerelle-Regelung, sagen. Es ist doch unstrittig, dass, wenn wir heute Punkte hätten, bei denen von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung übergegangen werden sollte, diese Teil der Beratungen im Bundestag und Bundesrat wären und einer Zweidrittelmehrheit bedürften. Wenn wir nun künftig, weil Politik ein dynamischer Prozess ist, von Einheitsentscheidungen zu Mehrheitsentscheidungen übergehen wollen, wäre eigentlich eine Verfassungsänderung notwendig, so wie das Grundgesetz normalerweise geändert werden müsste. Da eine Verfassungsänderung aber 25 Ratifizierungen bedarf, hat man ein vereinfachtes Verfahren geschaffen. Aber wenn klar ist, dass es faktisch um eine Verfassungsänderung geht, dann muss man die nationalen Parlamente befassen wie jetzt bei der Grundentscheidung über den Verfassungsvertrag. Nach meiner Meinung sollte die Regierung vorher wissen, wie ihre Parlamente dazu stehen. Das ist ganz einfach meine Meinung; diese Argumente müssten zunächst einmal widerlegt werden.
Wir haben die Kommission nicht geschwächt. Leider haben sich bei der Verringerung der Zahl der Kommissare die Regierungschefs auf ein spätes Datum – erst 2014 – verständigt; wir sind von 2009 ausgegangen. Aber ich weiß, wie schwierig es ist, wenn kleine Staaten, wenn neue Staaten darauf bestehen, mit einem Kommissar in der Kommission vertreten zu sein.
Die Rechte des Europäischen Parlaments wurden entscheidend verbessert. Das halte ich für richtig. Seit über 20 Jahren wählen wir ein Europäisches Parlament. Wenn man die Bürger auf der Straße fragen würde, würden 98 von 100 auf die Frage, wer das Gesetzgebungsorgan in Europa ist, sagen: das Europäische Parlament, das wir wählen. Tatsächlich ist es der Ministerrat. Das Europäische Parlament hat Befassungsrechte gehabt. Jetzt bekommt es haushaltsmäßig und gesetzgebungsmäßig fast die Rechte, die der Ministerrat hat. Mittelfristig, glaube ich, müssen sich das Europäische Parlament zur Bürgerkammer und der Europäische Rat zur Staatenkammer entwickeln, ganz ähnlich dem Modell Bundestag – Bundesrat.
Die Verbesserungen sind entscheidend, wenn auch keineswegs ideal. Aber ich betrachte Europa vor allem als eine Friedensgemeinschaft. Europa war das große Erfolgsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg: Von denjenigen, die übrig gebliebenen sind, von Westeuropa, Resteuropa, wurden die Römischen Verträge abgeschlossen, durch die die Europäische Gemeinschaft entstanden ist. Eine Erweiterung nach Süden hat sich ergeben, es hat eine Erweiterung nach Westen gegeben und die nach Norden. Die große Zeitenwende des Jahres 1989 hat die Erweiterung nach Osten möglich gemacht. Ich vergesse nicht, was mir der erste frei gewählte ungarische Ministerpräsident, Jozsef Antall, in Budapest gesagt hat: „Wir kehren zurück nach Europa. Wir haben uns nie von Europa verabschiedet. Wir sind durch die sowjetische Hegemonialmacht gewaltsam von Europa ferngehalten worden.“ Das alles ist nun vollendet mit der Gemeinschaft der 25. Es ist nicht einfach, in Europa um Kompromisse zu ringen, aber es ist notwendig: Wir haben keine Alternative und wir haben jetzt ein klares Fundament. Über die Verträge hinaus, die bisher von Diplomaten für Diplomaten geschrieben worden sind, haben wir jetzt eine echte europäische Verfassung. Europa wird durch diese Verfassung in eine bessere Verfassung kommen. Nicht alle Probleme sind gelöst, aber ein Meilenstein für eine gute Zukunftsentwicklung ist gesetzt.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, das Wort.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Teufel, ich möchte mich dem Dank des Hauses ausdrücklich anschließen. Das war nicht der übliche Dank für die gute Zusammenarbeit, die wir hatten, sondern das war der Dank für eine, wie ich finde, große europäische Rede, die Sie heute hier gehalten haben. Über die Parteigrenzen hinweg möchte ich mich dafür bedanken.
Der baden-württembergische Ministerpräsident hat zu Recht mit der historischen Dimension begonnen. Gerade in diesem Jahr, 60 Jahre nach dem Ende der Tragödie des Zweiten Weltkrieges – der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz liegt erst wenige Tage zurück –, gedenken wir der Bombennächte, des ganzen Grauens der europäischen Zerstörung und auch der deutschen Selbstzerstörung. Zugleich diskutieren wir heute über einen ganz entscheidenden Baustein des europäischen Einigungswerks, nämlich die europäische Verfassung. Deutschland ist heute von Partnern und Freunden in der Union der 25 und im Atlantischen Bündnis umgeben.
Ich kann nur unterstreichen, was der baden-württembergische Ministerpräsident gesagt hat: Aus der Geschichte wird in der Regel nicht gelernt, aber die Europäer haben daraus gelernt. Es gab zwei wichtige Umstände: Zum einen war es die Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sicherheit und der Freiheit Westeuropas und damit auch des westlichen Teil Deutschlands und Berlins nach 1945 verpflichtet zu bleiben, zum anderen war es die Vision einer europäischen Einigung, die Schuman und Monnet, die beiden großen französischen Staatsmänner, entwickelt und gemeinsam mit Konrad Adenauer in den europäischen Verträgen umgesetzt haben.
Herr Teufel, ich denke, Sie haben mit Ihrer Rede klar gemacht, dass es sich hier bei allem notwendigen parteipolitischen Streit doch um ein gemeinsames Projekt handelt. Es geht nämlich darum, dieses Europa so zu schaffen, dass dauerhaft Frieden auf diesem Kontinent herrscht.
Wenn Sie so wollen, ist es nicht nur der eigentliche Gründungsgedanke, sondern auch die Aufgabe der Europäer, dass sie ihre Kontroversen nicht mehr auf den Schlachtfeldern, sondern am Verhandlungstisch austragen. Viel Bürokratie ist daraus zu erklären, weil es unterschiedliche Interessen gibt: Es gibt große und kleine Länder, wir haben ein föderales, Frankreich hat ein zentralistisches System, es gibt Staaten mit zwei Kammern und andere mit einer Kammer und es gibt arme und reiche Länder, die auch auf materieller Ebene einen Interessenausgleich benötigen.
Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union ist eine große Erfolgsgeschichte. Hier im Raum sitzen viele, die sich noch daran erinnern können, wie es in den 60er- und 70er-Jahren in Griechenland, Spanien, Portugal und auch in Irland gewesen ist. Heute sind das Länder mit hoch entwickelten Wirtschaften, mit stabilen Demokratien und mit starken Zivilgesellschaften; es sind Rechtsstaaten. Die Vorstellung, dass es dort noch einmal zu einer Militärdiktatur kommen könnte, ist absurd und abwegig. Neben der großen Leistung der betroffenen Völker spielt der europäische Integrationsprozess dabei eine ganz entscheidende Rolle. Irland, dessen tragische Geschichte wir alle kennen, ist heute pro Kopf das zweitreichste Land. Hieran kann man den großen Erfolg erkennen.
Nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht und nach der Überwindung der künstlichen Teilung Europas durch den Kalten Krieg war klar – es galt nicht nur für die Ostdeutschen, dass sie über den europäischen Einigungsprozess der EU beitreten würden –, dass sich die europäische Einigungsidee selbst verraten würde, wenn die Ost-, Ost-Mittel- und Süd-Ost-Europäer von diesem Einigungsprozess künstlich ausgeschlossen würden, obwohl sie daran teilhaben wollen und können. Deswegen hat es diese große Erweiterungsrunde gegeben. Ich denke, das war ein notwendiger historischer Schritt und er erweist sich zunehmend als großer Erfolg.
Wir können die Bedeutung an der Rolle erkennen, die die Europäische Union in der orangenen Revolution gespielt hat. Das Zusammenspiel des polnischen und des litauischen Präsidenten mit Javier Solana und den anderen Europäern war der entscheidende Beitrag von außen dafür, dass den neuen Prinzipien, auf denen Europa ruht und sich weiterentwickeln wird, nämlich der Absage an Einflusszonen und hegemonialen Ansprüchen sowie der Unterstreichung des Rechts auf Selbstbestimmung in freien und fairen Wahlen, zum Erfolg verholfen wurde.
Das hat für unsere zukünftige Sicherheit wie auch für die Zusammenarbeit mit Russland, die von strategischer Bedeutung ist, eminente Bedeutung.
Wir konnten auch sehen, was uns mit 15 Staaten nicht gelungen ist. Ministerpräsident Teufel hat den Vertrag von Nizza angeführt. Dieser war nach dem Vertrag von Amsterdam nur eine weitere Stufe. Schon bei den Verhandlungen in Maastricht sind bestimmte Fragen nicht beantwortet worden. Deswegen gab es die Regierungskonferenz in Amsterdam, bei der von „Überbleibseln“ gesprochen wurde. Aber diese Überbleibsel waren bei diesen Verhandlungen die Hauptsache. In Nizza ging es um weitere Überbleibsel. Wir haben es mit 15 Staaten nicht geschafft, hier eine Lösung zu finden. Aber ich habe im Konvent die Erfahrung gemacht, dass sich die neuen und jungen Mitgliedstaaten in die europäische Konsensfindung sehr schnell eingearbeitet haben. Deswegen sehe ich es als eine große Leistung an, dass das, was die 15 Staaten, die alten Europäer, in drei Regierungskonferenzen nicht geschafft haben, mit 25 Mitgliedstaaten in der Europäischen Union in zwei Regierungskonferenzen in nur sechs Monaten erreicht wurde, nämlich den Verfassungsvertrag, den der Konvent erarbeitet hat, letztendlich anzunehmen. Hieran zeigt sich auch, dass die These, eine größere Union, die zwar schwieriger, aber auch bedeutender sei, müsse weniger handlungsfähig sein, einfach nicht stimmt; denn sie hat sich als handlungsfähig erwiesen. Deswegen haben wir heute die Chance, über diese Verfassung in erster Lesung zu diskutieren.
Der erste Schritt war die Erweiterung. Diese Erweiterung ist durch das Ende des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes in einem positiven Sinne erzwungen worden. Aber dieser Schritt bliebe Stückwerk, wenn wir beim Nizzavertrag, der die geltende Grundlage ist, stehen bleiben würden. Ministerpräsident Teufel hat aus Sicht der Länder die wichtigen Punkte genannt. Es ist völlig klar: Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik. Dabei kann nicht am Rotationsmodell der Präsidentschaft festgehalten werden. Jenseits aller Parteipolitik erlebe ich als Außenminister im europäischen Konzert, dass unsere Partner die Bedeutung der Europäischen Union im Grunde genommen ernster nehmen, als es die Struktur der Institutionen in diesem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute zulässt. Sie wollen ein verlässliches europäisches Handeln, weil die Europäische Union in einem positiven Sinne mehr und mehr zum internationalen Machtfaktor wird. Daran haben auch die Gründungsväter und -mütter der Union geglaubt und dafür gearbeitet. Dies spiegelt sich ebenfalls in einem wesentlichen Teil des Verfassungsvertrages wider.
Wir brauchen eine Abkehr von der rotierenden Präsidentschaft. Die Union muss eine beständige Repräsentanz haben. Das mag für die Bürgerinnen und Bürger weniger wichtig klingen. Aber die Rolle, die die Europäische Union im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten und der Bürgerinnen und Bürger in der Welt spielt, hängt davon ab. Wir brauchen einen Außenminister, der die europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit einem auswärtigen Dienst auf europäischer Ebene in Verbindung mit den Mitgliedstaaten tatsächlich repräsentiert. Diese Dinge sind für die Zukunftsfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Gerade einen Tag nach dem Besuch von Präsident Bush wird klar, dass seine Aussage, Amerika habe Interesse an einem starken Europa, bedeutet, dass wir diese Verfassung brauchen, oder wir bleiben bei dem zweiten Schritt, der auf die Erweiterung folgen muss, stehen.
Dasselbe gilt meines Erachtens auch für die innere Ausgestaltung der Europäischen Union. Wenn gesagt wird, die Bürgerinnen und Bürger interessierten sich wenig für Europa, dann, glaube ich, liegt das auch daran, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Sinn für die Machtfrage haben. Dass das Europäische Parlament in Zukunft wesentliche Rechte bekommt, wird dazu führen, dass es mehr Verantwortung erhält. Dass es nicht mehr für die allgemeinen Klauseln zuständig ist, sondern konkrete Zuständigkeiten besitzt, werden die Bürgerinnen und Bürgern verstehen, die zwischen Kommunen, Land und Bund differenzieren. Ich glaube, es ist keine Überforderung, allen klar zu machen, was in Zukunft in Europa entschieden wird. Dies wird meines Erachtens zu einer anderen Legitimationsgrundlage führen.
Dass der Präsident der Europäischen Kommission schon heute im Lichte der Mehrheitsentscheidungen auf Vorschlag vom Parlament gewählt wird, ist ein erster Schritt in diese Richtung. Ich wage die Prophezeiung, dass die Zeit, in der die Europawahlen eine geringere Bedeutung hatten, zu Ende gegangen ist. Schon bei der letzten Europawahl hat sich eine Verschiebung abgezeichnet. Ich bin der Meinung, dass dann, wenn diese Verfassung Wirklichkeit wird und institutionell ausgeschöpft wird, die demokratischen Prozesse, die für die Willensbildung und die Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger von entscheidender Bedeutung sind, von einer anderen Gewichtigkeit sein werden.
Das geht dann aber auch in Richtung Europäisches Parlament. Das bedeutet, dann auch mehr Verantwortung zu übernehmen. Das ist die zweite Konsequenz.
Damit komme ich auf die Ausgestaltung bei uns zu sprechen. Ich bin der Meinung, dass das Parlament in Zukunft natürlich eine wichtigere Rolle spielen wird. Die Subsidiaritätsklausel muss ernst genommen werden. Wenn es einen Dissens gibt – es fällt mir schwer, Herr Kollege Teufel, heute einen Dissens zu Ihnen zu finden – dann liegt er vielleicht dort, jedoch nicht in der praktischen Umsetzung. Jede Bundesregierung wird doch klug genug sein, von Anfang an das Subsidiaritätsproblem nicht nur im Auge zu haben, sondern sich auch politisch darauf einzulassen. Nur, eine Bindung der Bundesregierung in den europäischen Verhandlungen, wie sie etwa für die dänische Regierung gilt, halte ich unter allen Gesichtspunkten – angesichts der Bedeutung unseres Landes, des Gewichts, des föderalen Aufbaus und der ganz anderen Größenordnung – für einen Schritt, der meines Erachtens die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung auf europäischer Ebene begrenzen und damit nicht in eine positive Richtung führen würde.
Die Subsidiaritätsklage wird innerstaatlich ausgestaltet werden. Das war das, was wir durchgesetzt haben. Es wird meines Erachtens darauf ankommen, dass die beiden Kammern die entsprechenden Regelungen vereinbaren. Ich bin mir sicher, dass wir uns einigen können. Das gilt auch für die Subsidiaritätsrüge.
Zur Passerelle: Es war immer die deutsche Position, weniger Einstimmigkeit zu wollen. Das war nicht nur die Position von Rot-Grün, sondern die gemeinsame Position. Wir wollen Mehrheitsentscheidungen. Auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik war das Haus unisono der Meinung, dass wir mehr Mehrheitsentscheidungen wollen, also weg vom Veto.
Jetzt komme ich zu der Frage der Bindung der Bundesregierung in den Verhandlungen. Sie haben zu Recht auf das Ratifikationsverfahren hingewiesen. Das findet hinterher statt, schon heute. Der Bundestag entscheidet nicht vorher, ob er das will, sondern er entscheidet heute in einem Ratifikationsverfahren mit Zweidrittelmehrheit, ob er das akzeptiert oder nicht. Ich finde den Vorschlag in der Verfassung, die Parlamente und dann, wenn es Zweikammersysteme gibt, beide Kammern über eine Änderung entscheiden zu lassen, richtig. Das findet jedoch im Nachhinein statt und eine Vorabbindung der Bundesregierung ist nicht gegeben. Ich bitte das Haus, noch einmal zu bedenken, welche Konsequenzen ein anderes Vorgehen hätte. Das ist völlig unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Bundesregierung.
Das sind die Dinge, über die wir uns in Zukunft unterhalten müssen. Ich möchte noch bezüglich des Gesetzgebungsrates, den Sie, Herr Kollege Teufel, zu Recht angesprochen haben, hinzufügen: Ich verhehle nicht, dass ich ihn mir gewünscht hätte. Ich verletze nicht die Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht eines Mitglieds des Kabinetts, wenn ich sage, dass es manche Kollegen gab, die aus Gründen, die Sie angeführt haben, durchaus ein Fragezeichen gesetzt haben. Klar war: Wir hatten da keine Mehrheit.
Es waren zwei Mitgliedstaaten, die dafür gekämpft haben, alle anderen Mitgliedstaaten waren dagegen, sowohl in der Runde der 15 Mitgliedstaaten als auch später in der Runde der 25. Insofern gab es keine Chance, das durchzusetzen.
Ansonsten aber ist diese Verfassung gelungen: Wir haben eine Parallelität von Rechten der Mitgliedstaaten und Subsidiaritätsprinzip, wir haben die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments und der Kommission und die klare Definition des Verhältnisses zum Rat. Wir haben bei der Gesetzgebung ein klares Verfahren, das – das können wir mit einem gewissen Stolz sagen – im Grunde genommen dem Dreisatz des Grundgesetzes abgeschaut ist, nämlich die ausschließliche Gesetzgebung für beide Seiten und den konkurrierenden Bereich. Es hat eine Klärung stattgefunden und es gibt keine allgemeinen Ermächtigungsklauseln mehr. Wir haben jetzt europäische Grundrechte. Wer hätte gedacht, als Roman Herzog damals den Auftrag übernommen hat, die Grundrechte-Charta zu entwerfen – eine Initiative übrigens, die von der Bundesregierung und insbesondere von Bundeskanzler Schröder ausging; das gilt auch für die anderen Bereiche, die ich eben vorgetragen habe –, dass wir heute die Grundrechte-Charta mit verbrieften Grundrechten in der europäischen Verfassung haben, und das trotz der Widerstände auf europäischer Ebene? Ich gehörte damals zu denen, die sich darüber gefreut hätten, aber eine realistische Skepsis an den Tag gelegt haben. Die ist widerlegt worden und das ist gut so.
Angesichts dessen, was diese Verfassung für die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die Integration der alten und neuen Mitgliedstaaten, die verbesserte institutionelle Arbeit auf europäischer Ebene und die verbesserte Integration der nationalen Parlamente – unabhängig davon, ob es sich um eine oder zwei Kammern handelt –, aber auch für die Europäische Union in ihrer zunehmenden außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung bedeutet, kann ich nur unterstreichen: Wir brauchen diesen Verfassungsvertrag. Deswegen hoffe ich, dass das Haus mit sehr großer Mehrheit möglichst schnell zu einer Ratifikation kommt. Denn als Bundesaußenminister und Europäer wünsche ich mir, dass einer der wichtigen Staaten in der Europäischen Union eine klare, schnelle und richtige Entscheidung trifft.
Ich danke Ihnen.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als diese Debatte heute Morgen begann, war ich zunächst außerordentlich überrascht. Ich habe noch keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung erlebt, mit dem ein Vertragswerk vergleichbarer Qualität eingebracht worden ist, ohne dass die Bundesregierung das Vorhaben durch eine Einbringungsrede begründet hätte.
Aber als der baden-württembergische Ministerpräsident hier gesprochen hat, ist diese Enttäuschung – um nicht zu sagen: Empörung – über die Verschluderung parlamentarischer Sitten schnell gewichen. Herr Ministerpräsident Teufel, das war die große Rede eines großen Europäers. Ich danke Ihnen sehr herzlich dafür.
Ich danke Ihnen auch deshalb, Herr Ministerpräsident, weil Sie mit der Begründung dieses guten Entwurfs eines Verfassungsvertrags eine Perspektive verbunden haben. Denn er stellt einen Meilenstein dar. Wir haben aber noch einen langen Weg vor uns; schließlich ist und bleibt es ein Vertrag. Es gibt noch keine Verfassung, die – ähnlich den ersten Worten der amerikanischen Verfassung „We the people“ – mit „Wir, das Volk Europas“ beginnt. So weit sind wir noch nicht; es gibt noch kein Staatsvolk.
Uns liegt vielmehr ein Vertrag vor, der von den Regierungen erarbeitet wurde und mithilfe einer neuen Einrichtung zustande gekommen ist, die sich sehr bewährt hat, nämlich der Konvent. Wir werden aber noch einen weiten Weg gehen müssen, bis die Europäer eines Tages eine Verfassung bekommen werden, die den Zusatz „Vertrag“ nicht mehr benötigt.
Dennoch ist der Vertrag gut. Er ist – auch aus liberaler Sicht – ein Kompromiss, der aber tragfähig ist. Sehr wesentliche liberale Elemente – von den Grundrechten über die Vertragsfreiheit, das Verbot der Überregulierung, die Subsidiaritätsforderung bis hin zur Verhältnismäßigkeitsregelung – sind darin enthalten. Weil diese sehr guten Errungenschaften in das europäische Recht Eingang finden, werden wir Liberale dem Vertragswerk zustimmen.
Zu einem späteren Zeitpunkt wird es darum gehen, wesentliche Lücken zu schließen, die bereits angesprochen worden sind. Ich habe es außerordentlich bedauert, dass im Rahmen der Regierungskonferenz, die den Entwurf des Konvents alles in allem nur unwesentlich verschlechtert hat, zumindest in einem Punkt eine wesentliche Verschlechterung zustande gekommen ist, nämlich beim Legislativrat. Damit sind große Gefahren verbunden. Ich denke, wir müssen durch nationale Vorsorge sicherstellen, dass die gute Absicht des Konvents nicht in das Gegenteil verkehrt wird.
Im Zusammenhang mit den zu schließenden Lücken ist dann, wenn wir eines Tages vom Verfassungsvertrag zu einer Verfassung übergehen, die den Zusatz „Vertrag“ nicht mehr benötigt, die Frage zu berücksichtigen, wie die Legimitationslücke zu schließen ist, die sich daraus ergibt, dass das Prinzip der Gleichgewichtigkeit der individuellen Wählerstimmen in der Europäischen Union auch in Zukunft noch nicht gelten wird. Zur Beruhigung sei deshalb gesagt: Für die Europapolitiker wird noch sehr viel zu tun bleiben, auch wenn der Verfassungsvertrag vorliegt.
Die Ratifizierung der Verfassung ist kein bürokratischer Akt. Es geht vielmehr darum, die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Diese wird nicht dadurch erreicht, dass wir eine Expertendebatte führen, sondern wir müssen die Debatte an die Bürgerinnen und Bürger herantragen. Es ist leicht, über die Bürokraten auf europäischer Ebene herzuziehen. In manchen Fällen ist das völlig unberechtigt, aber manchmal ist es leider auch berechtigt. Manchmal ist es unsinnige bürokratische Überregulierung oder sogar bevormundender Unfug, der aus Brüssel kommt. Manchmal müssen wir einfach nur erklären, dass eine europäische Richtlinie oder Rechtsetzung – welcher Art auch immer – zum Beispiel dazu dient, fairen Wettbewerb zu organisieren, und dass daher europäisches Handeln häufig ein Segen ist, gerade wenn es darum geht, unsere verkrusteten Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland zu knacken.
Wesentlich ist, dass wir Politikerinnen und Politiker uns darum bemühen, mehr zu erklären und zu werben. Information ist der erste Schritt.
Sie haben zu Recht die historische Dimension des Verfassungsvertrages angesprochen. Wir unterschätzen völlig, welche große Bedeutung der Verfassungsvertrag hat, welche Anerkennung die europäische Integration bei den Menschen jenseits von Europa genießt und wie sehr Europa mittlerweile zu einem Modellfall für Regionen der anderen Welt geworden ist. Das sollten wir nicht länger tun. Diese Unterschätzung kommt übrigens auch darin zum Ausdruck, dass wir – wie ich finde: völlig leichtfertig und unnötig – auf die Perspektive einer europäischen Stimme in der Weltpolitik, also eines Sitzes im Weltsicherheitsrat, verzichten. Eines Tages kommt es noch so weit, dass der amerikanische Präsident Bush nach seinem Besuch in Brüssel die Forderung nach einem europäischen Sitz erhebt und sie gegen den Willen der Bundesregierung durchsetzt.
Herr Bundesminister, man ist ja durch das beflügelt, was in den letzten Tagen möglich geworden ist.
Der erste Schritt ist natürlich Information. Es ist schon ein ziemlicher Skandal, dass ein Lehrer – egal in welchem Bundesland –, der die Bundeszentrale für politische Bildung oder das Bundespresseamt anruft und fragt, ob es möglich ist, ihm den Text des vom Europäischen Rat verabschiedeten Verfassungsvertrags zuzuschicken, die Antwort bekommen wird, dass der Verfassungsvertrag leider noch nicht in gedruckter Form vorliegt, dass er ihn aber im Internet herunterladen kann. Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit führt gerade eine millionenschwere Medienkampagne mit der Überschrift „Sibirien bleibt kalt“ durch. Ich freue mich zwar ebenfalls über das In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls. Aber dass wir für den europäischen Verfassungsvertrag in gedruckter Form kein Geld übrig haben, wohl aber für eine solche Kampagne, die eigentlich nicht mehr erforderlich ist, um politische Überzeugungsarbeit zu leisten, ist schon ein ziemlich schlechter Scherz.
Letzter Punkt. Dass die Europäerinnen und Europäer, insbesondere die Deutschen, so skeptisch und zurückhaltend sind und so schlecht informiert sind, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass wir gerade in Deutschland als Politikerinnen und Politiker oft gar nicht die Notwendigkeit sehen, die Bevölkerung in der Breite zu überzeugen und mitzunehmen. Europa ist häufig unpopulär und schwer zu erklären.
Deswegen bleibt mancher gerne – Herr Kollege Gloser, Sie gehören nicht dazu – wie die Hasen mit angelegten Löffeln in der Ackerfurche liegen, wenn es darum geht, Europa zu erklären, und der euroskeptische Wind über uns hinwegweht.
Hätten wir die Notwendigkeit, in einer Referendumskampagne das Volk mitzunehmen, müssten wir uns alle sehr viel mehr anstrengen.
Ich beklage den mangelnden Mut, der zum Ausdruck kommt, wenn die Mehrheit dieses Hauses einen Volksentscheid über die europäische Verfassung ablehnt. Es waren doch die Grünen, die noch 2004 in ihrem Wahlprogramm ausdrücklich geschrieben haben:
In Deutschland soll der erste bundesweite Bürgerentscheid über die neue Verfassung durchgeführt werden.
Dieses Haus hat niemals einen entsprechenden Gesetzentwurf der Grünen gesehen. Wir legen Ihnen aber einen vor.
Von Ihnen wird zwar wolkig angekündigt, dass die Einführung eines Volksentscheides in größerem Rahmen auf den Tisch des Hauses kommen wird. Wir warten es ab. Interessant ist aber, dass bis dahin der europäische Verfassungsvertrag mit der Brechstange durch das Ratifizierungsverfahren gebracht werden soll. Ich finde das nicht sehr überzeugend. Wir werden Ihnen in naher Zukunft die Gelegenheit geben, in namentlicher Abstimmung über die Einführung eines Volksentscheids über den europäischen Verfassungsvertrag zu entscheiden.
Ich sage dies für meine Fraktion nicht als Vertreter derjenigen, die ohnehin für die Einführung von mehr plebiszitären Elementen in unsere Verfassung eintreten, sondern als jemand, der als überzeugter Anhänger der repräsentativen Demokratie der Auffassung ist, dass auch in einer solchen Demokratie die Repräsentanten der Legitimation durch das Volk bedürfen.
Wir haben 1990 – Herr Kollege Röttgen, ich sage das sehr selbstkritisch – die Chance verpasst, dem Volk das Grundgesetz für das vereinigte Deutschland zur Ratifizierung vorzulegen.
Wir sollten uns nun nicht die Möglichkeit nehmen, diesen Fehler bei der europäischen Verfassung zu vermeiden. Deswegen haben wir Ihnen eine Grundgesetzänderung vorgeschlagen. Wir werden bald im Deutschen Bundestag in namentlicher Abstimmung darüber zu befinden haben. Ich freue mich darauf, dass die Grünen dann die Chance haben, ihre beachtliche Lücke zwischen Versprechen und Halten, zwischen Wort und Tat zu schließen.
Haben Sie herzlichen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.
Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Generation meiner Großeltern hat Krieg gegeneinander geführt. Heute ist Europa das erfolgreichste Friedensprojekt aller Zeiten. Europäische Softpower ist so wirkungsvoll, so attraktiv, dass sich viele Nachbarländer der EU auf den Weg der Freiheit und der Demokratie gemacht haben.
Der Erfolg der Integration Europas ist zugleich die größte Herausforderung für die Europäische Union. Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig anzugehen war ohne Zweifel ein Wagnis, war aber zugleich die Voraussetzung für das Gelingen. Machen wir uns nichts vor: Bereits die EU der Fünfzehn stieß an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Doch erst gemeinsam mit den neuen Mitgliedstaaten war der Handlungsdruck groß genug, um sich auf eine europäische Verfassung zu einigen.
Diese Verfassung ist, allen berechtigten Wünschen nach weiter gehenden Regelungen zum Trotz, ein Meilenstein. Ja, sie ist mehr als das. Ich meine, die europäische Verfassung ist die Geburtsurkunde der Vereinigten Staaten von Europa.
Ich weiß, dass das nicht jeder heute so sieht, dass das manche heute nicht so sehen wollen. Aber ich bin zuversichtlich, dass das im Rückblick einmal so eingeordnet werden wird.
Jeremy Rifkin schreibt dazu:
Vor mehr als 200 Jahren erschufen die amerikanischen Gründerväter einen neuen Traum für die Menschheit, der die Welt veränderte. Heute entwirft eine neue Generation von Europäern einen radikal neuen Traum – einen, der ihrer Überzeugung nach den Herausforderungen der zunehmend vernetzten und globalisierten Welt im 21. Jahrhundert besser gerecht wird. Vielleicht können wir von unseren Freunden in Europa etwas lernen.
Es liegt auch an uns, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Die Verfassung ist nicht der Endpunkt der Integration, sondern der Rahmen für eine, wie es in ihrer Präambel heißt, Ever Closer Union, für eine immer engere Integration Europas.
Europa hat gelernt. Wie so oft war eine durchaus krisenhafte Entwicklung Voraussetzung für weitere Integrationsfortschritte. Ich erinnere mich sehr gut an die Debatten im Konvent über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, als zur gleichen Zeit das Wort vom alten und neuen Europa die Runde machte. Das ist überwunden. Die Konzeption einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist Ausdruck eines selbstbewussten Europas, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Wir nehmen Partnerschaft ernst und setzen auf die Stärkung des transatlantischen Bündnisses. Ich freue mich, dass auch der amerikanische Präsident in dieser Woche in Brüssel zum Ausdruck gebracht hat, dass ein starkes Europa ein starker Partner der Vereinigten Staaten ist.
Die Verfassung wird Europa handlungsfähiger machen. Das ist notwendig, weil wir in der EU auch die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung sehen. Mit der Refokussierung der Lissabon-Strategie auf Wachstum und Beschäftigung, mit einer ökonomischen Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts tragen wir dazu bei, Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nordamerika, Südostasien, China, Indien oder dem Mercosur zu stärken.
Doch es geht nicht nur um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, sondern wir diskutieren im Zusammenhang mit der Ratifizierung der europäischen Verfassung auch über die Handlungsfähigkeit Deutschlands in Europa. Um deutsche Interessen – wer wollte ernsthaft bestreiten, dass es diese auch in Zukunft geben wird – wirkungsvoll zu vertreten, brauchen wir einen handlungsfähigen Bundesstaat. Es ist bedauerlich, dass die Föderalismuskommission nicht zu einem entsprechenden Ergebnis kam. Wir werden das Thema meines Erachtens wieder aufgreifen müssen. Weder Bund noch Länder sollten aber jetzt den Versuch machen, die Ratifizierung der Europäischen Verfassung, die wirklich von historischer Bedeutung ist, zum Anlass zu nehmen, die Schlachten der Föderalismuskommission noch einmal zu schlagen.
Lassen Sie uns die Fragen miteinander regeln, die mit der Ratifizierung unmittelbar zusammenhängen bzw. die sich aus der Stärkung der nationalen Parlamente, wie sie die Verfassung vorsieht, ergeben. Herr Ministerpräsident Teufel, die Stärkung der nationalen Parlamente ist nicht zuletzt – das gilt in Deutschland sowohl für den Bundestag als auch für den Bundesrat – ein gemeinsamer Erfolg der deutschen Mitglieder im Konvent gewesen.
Ich bedanke mich bei den Europapolitikern der Koalitionsfraktionen für den Entwurf eines Begleitgesetzes. Ihr Entwurf ist der eines selbstbewussten Parlaments, das seine Rechte wahrnimmt und zugleich im Blick behält, was Deutschland insgesamt in Europa und was die Europäische Union voranbringt.
Wir wissen, dass es auch unter den Ländern und selbst in der Opposition viel Sympathie für die Vorschläge der Koalitionsfraktionen gibt – zumindest bei denjenigen, die sich noch an eigene Regierungszeiten erinnern oder die Hoffnung darauf, irgendwann wieder einmal Regierungsverantwortung im Bund zu übernehmen, noch nicht völlig aufgegeben haben.
Lassen Sie uns in den anstehenden Beratungen des Begleitgesetzes zur europäischen Verfassung nicht diskutieren, was der Regierung oder der Opposition, dem Bund oder den Ländern nützt, sondern was im Interesse der Bundesrepublik Deutschland in Europa liegt.
An die Adresse einiger Bundesländer sage ich mit Blick auf die Beratungen im Bundesrat in der vergangenen Woche deshalb: Wir beraten die Ratifizierung einer Verfassung für Europa und nicht eine Durchführungsverordnung für den Föderalismus in Deutschland. Herr Ministerpräsident Teufel, ich sage ausdrücklich: Ich bin dankbar, dass Sie diesen Akzent in der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag gesetzt haben.
Im Konvent und in der Regierungskonferenz hatte sich Deutschland dafür eingesetzt, von der bisher als Regel erforderlichen Einstimmigkeit grundsätzlich in die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit überzugehen. Eine Europäische Union mit 25 und mehr Mitgliedern kann ihre Entwicklung nicht ständig vom jeweils langsamsten Mitglied abhängig machen.
Es liegt im Übrigen auch und gerade im deutschen Interesse, die schlechte Tradition zu beenden, dass sich mancher sein nationales Veto gerne abkaufen lässt. Die Verfassung sieht nun in zahlreichen Bereichen den Übergang zur Mehrheitsentscheidung vor. Aber noch immer – da sind wir uns einig – bleiben zu viele Ausnahmen vom demokratischen Mehrheitsprinzip bestehen.
Um nun nicht jeden zukünftigen Integrationsfortschritt in diesem Bereich mit der hohen Hürde einer Verfassungsänderung zu behindern, wurde das Instrument der Passerelle, der Brückenklausel, geschaffen. Demnach soll der Europäische Rat einstimmig entscheiden können, in weiteren Bereichen von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehrheit überzugehen. Doch das Veto des Parlaments eines einzigen Mitgliedstaates in einem Zeitraum von sechs Monaten nach der EREntscheidung kann diese Entscheidung aufheben.
Nun, wie es einige hier und im Bundesrat fordern, auch noch die Entscheidung der europäischen Staats- und Regierungschefs vorab an die Zustimmung des Parlaments zu knüpfen entspricht eben nicht dem Geist der europäischen Verfassung und es entspricht nicht dem Ziel, das wir gemeinsam in den Verhandlungen über die Verfassung vertreten haben.
Wer für ein demokratischeres Europa eintritt, wer grundsätzlich den Übergang zur Mehrheitsentscheidung gefordert hat – Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben das hier wiederholt getan – und wer eine entsprechende Verfassung ratifiziert hätte, kann nun nicht das verbliebene Flexibilitätsinstrument ad absurdum führen. Die Passerelle ist als Brücke angelegt, nicht als Grenze. Lassen Sie uns diese Brücke miteinander beschreiten, Herr Ministerpräsident Teufel.
Wir haben ein gemeinsames Interesse, den Ratifikationsprozess zum Erfolg zu führen, nicht nur in Deutschland. Wir wissen, dass in einigen Mitgliedstaaten noch lebhafte Debatten anstehen. Ich bedanke mich für die Bereitschaft des Deutschen Bundestages, durch vielfältiges Engagement seiner Mitglieder und nicht zuletzt durch ein rasches, zeitlich abgestimmtes Verfahren zu einer positiven Ratifikationsdynamik in Europa beizutragen.
Frankreich und Deutschland: Die Aussöhnung zwischen unseren Ländern, war die Basis für die Einigung Europas. Frankreich und Deutschland stehen auch heute für eine EU, die mehr ist als ein Markt: nämlich ein Europa der Freiheit und der Solidarität, ein Europa, das seine Verantwortung in der Welt wahrnimmt, ein Europa der Staaten und der Bürger.
Die europäische Verfassung ist auch Ausdruck dieses Verständnisses. Sie schreibt nicht nur die Werte und Ziele Europas fest. Sie gibt uns auch einen Rahmen, um diese Ziele zu erreichen, in Europa und darüber hinaus.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSUFraktion.
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Politik brauchen wir Visionen und große Ziele, aber wir müssen auch immer darauf achten, dass wir den Bezug zur Realität nicht verlieren. Wir müssen beides miteinander verbinden. Staatsminister Bury hat gerade davon gesprochen, dass dieser Vertrag über eine europäische Verfassung vielleicht eines Tages als Gründungsurkunde für die Vereinigten Staaten von Europa angesehen wird. Das mag so sein, auch wenn wir wahrscheinlich ein anderes Modell vor Augen haben. Ich will gleich ein paar Bemerkungen zur Europäischen Union machen.
Wie auch immer, es hätte schon der Bedeutung dieses Vertragswerks entsprochen, wenn es die Bundesregierung hier ordentlich eingebracht hätte.
Aber die frohe Botschaft dieses Morgens ist, dass der Föderalismus wirklich eine gute Ordnung ist und funktioniert. Wenn die Bundesregierung versagt, dann gibt es einen Ministerpräsidenten, der das in vorbildlicher Weise macht. Herzlichen Dank, Erwin Teufel!
Herr Kollege Hoyer, in Ihrer Argumentation – vom Anfang zum Ende hin – war ein gewisser Widerspruch; den will ich an dieser Stelle doch kurz erwähnen. Am Anfang haben Sie richtigerweise gesagt: Es ist ein Vertrag über eine Verfassung. Es ist auch nicht das Ende des Verfassunggebungsprozesses in Europa. Es ist ein Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Deswegen ist die Frage einer Volksabstimmung möglicherweise anders zu betrachten, als wenn wir eine Verfassung hätten, wie Sie gesagt haben, mit der Formulierung „We the people“. Das ist aber nicht so. Das wollen die Menschen in Europa jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht. Was die Menschen wollen, ist genau diese neue Form politischer Integration.
Es war übrigens eine Idee, die wir in der Union entwickelt haben, nämlich einen Vertrag über eine europäische Verfassung zu schließen, weil das die beiden Gesichtspunkte, Vision und Realität, richtig miteinander kombiniert. Es ist ein Modell, in dem wir schrittweise Teile von staatlicher Souveränität auf eine entstehende neue politische Einheit übertragen. Das ist das Einzigartige, das Neue, das Modellhafte der europäischen Integration. Es ist wichtig, dass der amerikanische Präsident, wenn ich es richtig verstanden habe, bei seinem Besuch in Brüssel in dieser Woche diesen Prozess zum ersten Mal richtig verstanden und akzeptiert hat. Auch das bringt uns ein ganzes Stück voran.
Aber wir müssen die Balance halten. Wir müssen die Menschen in Europa auf diesem Weg mitnehmen und überzeugen. Das ist schwieriger und eine größere Aufgabe, als wir uns das gelegentlich bewusst machen. Wir dürfen das nicht zu einer Debatte von Technokraten und Experten verkommen lassen.
Deswegen scheint mir wichtig zu sein, dass wir zunächst Folgendes klar machen: Der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wird in den kommenden Jahren der wichtigste der europäischen Integration sein. Alles, was dazu gesagt worden ist, ist richtig. Es kann nicht besser gesagt werden, als es von Erwin Teufel heute Vormittag gesagt worden ist. Daran müssen wir weiter arbeiten. Damit verträgt sich nicht eine Politik der Bundesregierung, bei der sie vom deutschen Weg und von einer Renationalisierung der Außenpolitik spricht. Damit verträgt sich nicht eine Politik von Achsenbildung in Europa. Vielmehr muss eine Politik betrieben werden, die ganz Europa, große und kleine Mitgliedstaaten, zu einer gemeinsamen Position bringt. Das sollten wir lernen.
Ein weiterer Punkt. Wenn dieses Europa gelingen soll, braucht es klare Wurzeln. Deswegen haben wir so darum gerungen und sind nicht so ganz glücklich damit, dass es nicht, noch nicht gelungen ist, die geistigen, geistlichen, kulturellen und zivilisatorischen Grundlagen, ohne die Europa nicht werden wird und nicht werden kann, was es werden muss, in diesem Verfassungsvertrag stärker zu beschreiben.
Das ist nicht rückwärts gewandt, sondern Voraussetzung für Zukunftsgestaltung. Das ist wichtig.
Der nächste Schritt ist übrigens, dass für mehr Verlässlichkeit in der europäischen Politik gesorgt wird. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, bei diesem wichtigen Anlass mit aller Eindringlichkeit: Unterschätzen Sie nicht, wie sehr Sie das europäische Projekt dadurch gefährden, dass Sie das Stabilitätsversprechen für die europäische Währung, das wir gemeinsam eingegangen sind, durch Ihren laxen Umgang mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gefährden.
Wenn die Bürger den auf dem Weg zur europäischen Einheit gegebenen Zusagen und Versprechungen nicht vertrauen können, wird ihre Zustimmung für Europa nicht wachsen. Das ist der entscheidende Punkt. Den sollten wir nicht zu kleiner Münze verkommen lassen, sondern müssen das immer wieder sagen: Verlässlichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen dem europäischen Einigungswerk anvertrauen. Anders wird das nicht gelingen.
– Herr Kollege Müntefering, ich sagte, damit das gelingt, was wir gemeinsam wollen und bereits hier entwickelt haben, ist es wichtig, dass man gegebene Versprechen nicht nur in allgemein gehaltenen Reden, sondern auch im Alltag beherzigt. Die Bürger achten nämlich nicht nur darauf, was wir heute sagen, sondern auch darauf, was wir morgen für eine Politik machen.
Es ist ja auch gut, wenn wir darüber streiten. Das gehört zur Demokratie. Deshalb will ich gleich hinzufügen – das hätte ich Ihnen sonst heute Vormittag erspart; aber nun haben Sie mich dazu gebracht –,
dass Sie, wenn Sie eine Politik der offenen Grenzen und der Integration wollen, nicht Schindluder mit der Visaerteilung betreiben dürfen. Das passt nämlich nicht zusammen.
Wenn es in Europa aufgrund des Schengen-Abkommens offene Grenzen gibt, müssen wir uns auch an dieses Abkommen halten. Die Vorwürfe unserer Partner zeigen, dass wir das Schengen-Abkommen verletzt haben. Meiner Meinung nach handelt es sich um einen schweren Verstoß, wodurch europäische Verlässlichkeit gefährdet wird.
– Ach, Herr Müntefering, Ihre Methoden kenne ich. Immer wenn Ihnen etwas nicht gefällt, versuchen Sie, durch Zwischenrufe zu stören. Sie werden unsicher; Sie haben auch allen Grund dazu.
Wir sollten uns übrigens auch vor zu vielen Versprechungen hüten. So habe ich in den letzten Jahren von Rednern in europapolitischen Debatten zur Lissabon-Strategie gehört, dass Europa bis zum Jahre 2010 zur dynamischsten und wachstumsstärksten Region in der Welt gemacht werden soll. Das ist ein wunderschönes Ziel. Jedoch wissen alle Beteiligten, dass sie dieses Versprechen so nicht einhalten können. Wenn wir Quartal für Quartal die ohnehin schon geringen Wachstumsprognosen wieder nach unten korrigieren müssen, sollten wir den Mund nicht zu voll nehmen, um nicht morgen bei der Bevölkerung Enttäuschungen hervorzurufen, deren Zustimmung und Vertrauen wir brauchen.
Im Zusammenhang mit dem Thema europäische Souveränität möchte ich noch ganz am Rande einen Punkt erwähnen, der, wie ich glaube, wichtiger wird: Die Debatte, die zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den europäischen Gerichten über die Grenzen von Verbindlichkeiten der Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen geführt wird, wird zunehmend zu einer Debatte über die Frage, wie sich nationale Souveränität und europäischer Einigungsprozess miteinander verbinden lassen. Wir müssen dieses Thema ernst nehmen und uns darum kümmern, damit hierdurch nicht neue Stolpersteine auf den Weg zur europäischen Einigung gelegt werden.
Das bringt mich zu dem nächsten Thema: Ein wichtiger Punkt im Verfassungsvertrag, dessen Ratifizierung wir zustimmen werden, ist, dass die Rolle des Europäischen Parlamentes gestärkt wird. Es ist aber genauso wahr, dass in der Wahrnehmung der meisten Menschen in unserem Land und in anderen europäischen Ländern das Europäische Parlament nicht oder noch nicht in der Lage ist, die alleinige Legitimation politisch-parlamentarischer Entscheidungen sicherzustellen. Dazu werden auch in Zukunft die nationalen Parlamente gebraucht. Das ist nicht gegen Europa gerichtet, sondern dient dazu, die europäische Einigung zu stärken und abzusichern. Das wird ohne den Beitrag der nationalen Parlamente nicht gehen.
Deswegen müssen auch die nationalen Parlamente ihre Verantwortung in diesem Punkt stärker wahrnehmen. Wie das geschehen könnte, dazu haben wir Vorschläge vorgelegt. Ich weiß, dass Regierungen – das habe ich auch schon bei der Vorgängerregierung erlebt – es gar nicht so gerne haben, wenn sich Parlamente daran beteiligen. Es ist aber auch eine Wahrheit, dass die notwendige Öffentlichkeit von Entscheidungen nur hergestellt werden kann, wenn die nationalen Parlamente rechtzeitig beteiligt und befasst werden. Anderenfalls geht es schief.
Bei vielen aktuellen Entscheidungen, von den Antidiskriminierungsrichtlinien bis hin zur Dienstleistungsrichtlinie, erleben wir, was geschieht, wenn die Öffentlichkeit zu spät von Entscheidungsprozessen in Kenntnis gesetzt wird, die in Europa ablaufen.
Unsere Vorschläge, wie dafür gesorgt werden kann, dass durch Beratungen in unserem nationalen Parlament rechtzeitig europäische Entscheidungen transparent und öffentlich gemacht werden können und damit die Legitimität dieser Entscheidungen sichergestellt werden kann, sind nicht gegen Europa gerichtet, sondern stärken den europäischen Einigungsprozess.
Wir wollen mit unseren Vorschlägen auch nicht die Handlungsfähigkeit der Regierung beeinträchtigen – darum geht es überhaupt nicht –, sondern wir wollen dafür sorgen, dass Entscheidungen, die die europäischen Institutionen treffen, hinterher von der Bevölkerung auch als verbindlich und parlamentarisch-demokratisch legitimiert akzeptiert werden können. Wer sich dafür einsetzt, der stärkt den europäischen Einigungsprozess und will ihn nicht verhindern.
Sie als Koalitionsfraktionen haben Ihre Initiative so kurzfristig eingebracht, dass man auf der Tagesordnung dieser Sitzung noch nicht einmal eine Drucksachennummer finden kann; dies zeigt schon die ganze Sorgfalt, mit der Sie beraten haben.
– So ähnlich haben Sie auch den Verfassungsvertrag heute Morgen eingebracht.
An der Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem Ratifizierungsgesetz zum Vertrag über eine europäische Verfassung besteht kein Zweifel. Aber die Frage, wie wir die parlamentarische Beteiligung ausgestalten, gehört nicht zu den Quisquilien. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf nicht einfach durchwinken, sondern ihn sorgfältig beraten. Dabei werden wir das Ziel verfolgen, gemeinsam mit Ihnen Lösungen zu finden, die über eine stärkere Mitwirkung des nationalen Parlaments an der Legitimation europäischer Entscheidungen das europäische Einigungswerk für die Zukunft stärken. Dazu bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Marianne Tritz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich einen anderen Einstieg für meinen Beitrag zur europäischen Verfassung wählen;
aber da Herr Schäuble noch einen kleinen Schlenker zur Visageschichte gemacht hat, möchte ich darauf erwidern.
Herr Schäuble, die Europa-Abgeordneten von CDU/CSU und FDP haben noch im Januar 2005 Visaerleichterungen für die Ukraine gefordert. In einem Änderungsantrag zu einer Resolution zu den ukrainischen Wahlen
hat die EVP-Fraktion den Rat und die Kommission aufgefordert, sich für die erleichterte Visavergabe an Ukrainer einzusetzen. Alle Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP haben am 13. Januar 2005 in namentlicher Abstimmung für diese Resolution gestimmt. – Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Verfassung braucht eine breite Unterstützung im ganzen Land. Dazu wollen wir hier und heute unseren Beitrag leisten. Diese Verfassung wird die Europäische Union demokratischer, transparenter und effizienter machen und den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger verbessern.
Alle Umfragen besagen, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen der EU-Verfassung positiv gegenübersteht. Zugleich sagen die Befragten jedoch, dass sie über den Inhalt der Verfassung zu wenig wüssten. Es muss unsere Aufgabe als Parlamentarier sein, diese Wissenslücken gemeinsam mit der Bundesregierung und den Medien in den nächsten Monaten zu füllen.
Dazu gehört, dass wir konkrete Ängste in der kritischen Öffentlichkeit klar ansprechen und ausräumen müssen.
Zum Beispiel gibt es die Sorge, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch werden könnte. Lassen Sie mich darauf etwas genauer eingehen: Die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ein Prozess, der nicht mit der europäischen Verfassung begonnen hat, sondern sich vom Vertrag von Maastricht über Amsterdam und Nizza bis zum heutigen Tage immer weiter entwickelt hat. Diesen Prozess halte ich für unverzichtbar. Nur ein gemeinsames und starkes Europa hat wirklichen Einfluss im Rahmen der internationalen Gemeinschaft.
Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich fragen, ob die Einrichtung einer europäischen Verteidigungsagentur zwingend notwendig in der Verfassung stehen muss. Ich meine, nein; denn die Verteidigungsagentur ist ohnehin schon im Aufbau, und zwar auf der Grundlage der jetzigen Verträge. Aber dass wir eine solche Verteidigungsagentur brauchen, steht meiner Ansicht nach außer Frage. Jeder der 25 Mitgliedstaaten unterhält nach wie vor seine eigenen Streitkräfte und seine eigenen Rüstungskapazitäten. Arbeitsteilungen und das Zusammenlegen von Fähigkeiten sind selten. Vielfach sind diese Streitkräfte schon aufgrund unterschiedlicher technischer Standards nicht in der Lage zusammenzuarbeiten. Das bedeutet konkret: Die europäischen Staaten geben mehr Geld für Verteidigung aus als nötig. Mit der europäischen Verteidigungsagentur werden militärische Überkapazitäten abgebaut und – gesamteuropäisch betrachtet – Verteidigungsausgaben eingespart.
Außerdem ist die europäische Verfassung die erste Verfassung, die im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen Bestimmungen gleichberechtigt von zivilen und militärischen Mitteln spricht. Wenn man sich Art. I-3 anschaut, stellt man fest, dass es endlich auch aus friedenspolitischer Perspektive eine positive andere Gewichtung der außenpolitischen Zielbestimmungen gibt. Dieser Bedeutungszuwachs der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sollte sich dementsprechend auch in der Verfassung niederschlagen.
Zur Liberalisierung der Wirtschaftsordnung lassen Sie mich Folgendes sagen. Es ist schon eine skurrile Situation: Während zum Beispiel von Attac kritisiert wird, dass die europäische Verfassung eine neoliberale Wirtschaftsordnung festschreibt und das soziale Europa beerdigt wird, beschweren sich in Großbritannien Wirtschaftsverbände und die konservative Opposition über zu viel europäische Sozialpolitik und die damit verbundene Bürokratie.
Sie sorgen sich um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft.
Für diese Verfassung musste ein Kompromiss gefunden werden und der ist nicht der schlechteste. Er wurde folgendermaßen formuliert:
Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Meine Damen und Herren, eine Verfassung, die das Ziel der Vollbeschäftigung formuliert – was, nebenbei bemerkt, in unserem Grundgesetz nicht zu finden ist –, dem Vorwurf des Neoliberalismus auszusetzen, ist sicherlich nicht zu rechtfertigen.
Kommen wir schließlich zum Vorwurf der „imperialen Machtpolitik“, wie ich es in einigen Papieren gegen die Verfassung lesen durfte. Das ist natürlich totaler Quatsch. Das bisherige Abstimmungssystem im Ministerrat war weder transparent noch gerecht. Bei jedem neuen Beitritt gab es ein Geschacher über die Stimmgewichtung. Die Verfassung macht endlich Schluss mit diesem System, das keine Bürgerin und kein Bürger jemals verstanden hat. Die doppelte Mehrheit ist ein klares und zukunftsfestes Abstimmungssystem und wird dem Doppelcharakter der Union der Bürgerinnen und Bürger und der Union der Staaten bestmöglich gerecht. Durch das Bevölkerungskriterium heißt es in Zukunft „one man – one vote“. Durch das Staatenkriterium wird sichergestellt, dass nicht wenige große Mitgliedstaaten die kleineren und mittleren Staaten dominieren können. Somit wird den berechtigten Interessen aller Seiten Rechnung getragen.
Natürlich hat die Verfassung auch Schattenseiten; das will ich gar nicht verhehlen. Aber sie wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln. Natürlich hätte jeder diese Verfassung ein wenig anders geschrieben. Aber als eine Verfassung, die von Politikern verschiedenster Couleur aus 28 Staaten erarbeitet wurde, ist sie ein ausgewogener Kompromiss zwischen den vielen unterschiedlichen Vorstellungen. Die europäische Verfassung ist ein Meilenstein der europäischen Integrationsgeschichte. Mit der neuen Verfassung wird man wissen, wer am Ruder steht und wer was entscheidet: Rat, Kommission oder Europäisches Parlament.
Wenn in einigen Jahren die erste Revision der Verfassung auf der Tagesordnung stehen wird, dann werden wir weiter für die Dinge kämpfen, die in diesem ersten Anlauf leider nicht durchsetzbar waren. Dazu gehören zuallererst die Abschaffung der verbliebenen Einstimmigkeitserfordernisse im Ministerrat und die volle Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments, natürlich nicht zu vergessen die Abschaffung des unsäglichen Euratom-Vertrags.
Die Ratifizierung in Deutschland wird auch im Rest Europas genau beobachtet. Wir sollten die parlamentarische Beratung deshalb sorgfältig, aber ohne unnötige Verzögerung durchführen. Ein deutliches Ratifizierungssignal aus Deutschland kann auch auf Abstimmungen in anderen Staaten eine positive Auswirkung haben. Deshalb sagen wir heute Ja zur Verfassung als ersten Schritt zu mehr Handlungsfähigkeit. Wir sagen Ja zur Weiterführung des Dialogs mit dem Ziel, eine wirkliche politische Union zu entwickeln. Es ist unsere Aufgabe, dieses gemeinsame Europa den Bürgerinnen und Bürgern nahe zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich freuen, wenn wir es schaffen könnten, die Schlussabstimmung über die Verfassung am Europatag, also am 9. Mai, durchzuführen. Dies wäre ein richtig starkes Signal für Deutschland und Europa: Am 8. Mai feiern wir 60 Jahre Kriegsende und am Tag darauf beschließen wir in einer Sondersitzung die Europäische Verfassung.
Vielen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Tritz, ich stimme Ihnen in dem Punkt zu, dass die europäische Verfassung in Form dieses Vertrages ein Meilenstein und ein Quantensprung ist. Man stärkt das Gewicht der Europäischen Union, indem man ihr eine eigene Rechtspersönlichkeit verleiht und indem man ihr neue Instrumente zur Wahrnehmung einer europäischen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gibt. Weil das so ist, sind wir Liberale der Meinung, dass es in diesem Stadium der Entwicklung richtig ist, auch die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen.
Von verschiedenen Rednern wurde zu Recht immer wieder angesprochen, dass die europäische Öffentlichkeit nicht in dem notwendigen Maße hergestellt wurde. Europäische Identität und das Gefühl, sich in diesem Europa, das man nicht als technokratisches Monstrum betrachtet, zu Hause zu fühlen, werden erreicht, wenn kommuniziert und diskutiert wird und wenn die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass man ihnen offen sagt, wie die Situation ist, und dass ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt wird. Diese Position ist bisher leider nicht auf Zustimmung in diesem Hause gestoßen. Aber ich denke, all diejenigen, die sich der Stärkung der Demokratie verpflichtet fühlen und die diese Haltung zum Credo ihrer Politik gemacht haben, können aus guten Gründen unseren Vorschlag nicht ablehnen.
Wir sind froh, dass Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, aber auch Wettbewerbsfähigkeit und Marktwirtschaft als Ziele in dem europäischen Verfassungsvertrag verankert sind. Es ist gut, dass viele mit uns gemeinsam die Kritik, wir würden für einen Neoliberalismus eintreten, zurückweisen. Diese Gemeinsamkeit hat es in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen nicht häufig gegeben.
Wir sind dafür, dass die Europäische Union ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist. Wir wollen keine abgeschottete Europäische Union, die niemanden mehr hereinlässt – auch nicht nach Deutschland. Deshalb sind ordnungsgemäße Visumerteilungsverfahren wichtig und notwendig. Wenn es in anderen Staaten Notlagen gibt, werden wir uns für die Erteilung von Visa immer einsetzen. Daher finde ich es gut, dass im Januar 2005 im Europäischen Parlament in diesem Sinne gehandelt wurde.
Was wir aber nicht wollen, ist eine Visumspraxis, die zum Missbrauch einlädt und die möglicherweise gegen Gesetze verstößt.
Der gegenwärtige Sachverhalt muss aufgeklärt werden. Ihre Linie, diese Auseinandersetzung zu bestehen, indem Sie uns Vorwürfe machen, wird nicht tragen.
Für die Liberalen sage ich ganz deutlich: Wir wollen, dass auch künftig Menschen in die Europäische Union kommen können. Wir stehen für ein plurales, offenes und aufgeschlossenes Deutschland. Genau das ist der Geist, der in dieser europäischen Verfassung zu finden ist.
Ganz entscheidend ist, wie die Begriffe „Bürgernähe“ und „Handlungsfähigkeit der Europäischen Union“ umgesetzt werden. Damit sind wir bei dem Punkt, dem Herr Schäuble zu Recht eine große Bedeutung beigemessen hat. Es ist keine Kleinigkeit, sich mit der Rolle des Bundestages bzw. der nationalen Parlamente in der Ordnung, wie sie der europäische Verfassungsvertrag schaffen soll, auseinander zu setzen.
Wir waren immer dafür, dass eine Bundesregierung in außenpolitischen Fragen handlungsfähig sein muss. Dabei ist es wichtig, das Parlament frühzeitig zu unterrichten und zu informieren. Das funktioniert nie so hundertprozentig, wie sich das ein Parlament vorstellt. Auch als noch Frau Kollegin Wieczorek-Zeul im Europaausschuss die Opposition anführte und ständig bindende Aufträge an die Bundesregierung formulierte, die Herr Hoyer dann sofort mit nach Brüssel nehmen sollte,
waren wir der Meinung, dass es nicht sein kann, dass eine Bundesregierung in ihren Handlungsspielräumen so eingeengt wird, dass ihre Vertreter in Verhandlungen nur noch zum Telefon laufen und im Bundestag nachfragen, ob sie das eine noch sagen dürfen, bei einem anderen Paket schon eine Meinung äußern dürfen oder sich erst rückversichern müssen.
Deshalb haben wir Bedenken gegen die vorgesehene Form der Festlegung in einem sehr frühen Stadium und gegen die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung.
Wir sind aber der Meinung, dass der Bundestag bei Mehrheitsentscheidungen hinterher zustimmen sollte. Hier gibt es entscheidende Weichenstellungen weg von der Einstimmigkeit hin zu mehr Mehrheitsentscheidungen; dafür waren wir immer. wir sind froh, dass jetzt in mehr Bereichen Mehrheitsentscheidungen möglich sein sollen. Wir hoffen, dass das mit den bestehenden Instrumentarien weiter durchgeführt werden kann. Er sollte sich nicht vorher festlegen, aber hinterher zustimmen. Warum sollen wir uns denn nur versammeln, um ein Nein, ein Veto zu formulieren? Es ist doch viel besser, wenn man eine positive Beschlussfassung herbeiführt und zustimmt, wozu es normalerweise immer der Mehrheit im Hause bedarf. Das ist wichtig. Wir sind aber nicht der Meinung, dass hierfür eine Zweidrittelmehrheit nötig sein sollte.
In einem einzigen Punkt, Herr Teufel, möchte ich Ihnen widersprechen. Die Kompetenzübertragung erfolgt mit dem europäischen Verfassungsvertrag in den Bereichen, in denen es darum geht, von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Dies würde eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages nicht mehr rechtfertigen.
Ganz entscheidend ist, das Subsidiaritätsprinzip durchzusetzen und die Rechte der nationalen Parlamente zu verteidigen, die wir haben und die man uns nehmen möchte, indem man gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt.
Ich denke, dass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt hier im Hause sehr intensiv mit dem am Ende stehenden Klagerecht auseinander setzen sollten. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass es ein Minderheitenklagerecht einer Fraktion geben sollte.
Denn sollen nur diejenigen, die die Regierung bilden, entscheiden, ob eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips vorliegt oder nicht? Juristische und andere Bewertungsfragen gehen hier Hand in Hand.
Kontrolle effektiv auszuüben wird nur dann möglich sein, wenn es ein Minderheitenrecht gibt.
Das wird nicht jedes Jahr zigmal wahrgenommen werden, sondern sich auf wichtige Punkte konzentrieren. Hier haben wir eine andere Position, als es SPD und Grüne in ihrem Vorschlag vorsehen.
Vielen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa schreibt heute Geschichte. Die Verfassung ist Ausdruck des Selbstbewusstseins, der Selbstbehauptung und der Selbstachtung Europas.
Wir, die deutsche Sozialdemokratie, bringen dabei einen unverwechselbaren Teil unserer Identität ein. Zur Erinnerung: Unsere junge Partei hat unter dem Namen ADAV schon im ersten Programm zur Reichstagswahl des Norddeutschen Bundes 1866 formuliert:
Unter deutscher Einheit versteht die Arbeiterpartei … einen Anfang eines solidarisch europäischen Staates.
Für die SPD verbindet sich mit Europa eine Grundüberzeugung über Generationen hinweg,
beginnend mit Ferdinand Lassalle und August Bebel, über Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Wels bis zu Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.
Unser Bundeskanzler macht auf europäischer Ebene eine Politik, die die Interessen unseres Landes mit dem Selbstbewusstsein, mit der Selbstbehauptung und mit der Selbstachtung Europas verbindet. Das hat sich in den letzten beiden Jahren überdeutlich gezeigt.
Die Kernbotschaft dieser Verfassung ist die „... Gewissheit, dass die Völker Europas ... entschlossen sind, … immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“. Das ist nur auf der Grundlage einer länderübergreifenden Idee möglich. Auf ihrer Grundlage wurde durch praktisches Handeln Schritt für Schritt eine neue Wirklichkeit geschaffen und eine neue Staatsräson von heute 25 Mitgliedsländern begründet.
Ferner ist das nur durch einen parteiübergreifenden Verfassungsbogen möglich, der von Konservativen und Christdemokraten über Liberale, Grüne bis hin zu den Sozialdemokraten – manchmal auch ein Stück darüber hinaus – reicht. Deshalb gilt neben all jenen, denen schon Dank ausgesprochen wurde – Joschka Fischer und Erwin Teufel –, mein ganz persönlicher Dank den deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlament: Klaus Hänsch genauso wie Elmar Brok von der CDU und ein Stück weit Sylvia-Yvonne Kaufmann, eine einsame Streiterin für die Verfassung in der PDS.
Diese Verfassung bringt die Europäische Union auf dem Weg vom Staatenverbund hin zu den vereinigten Staaten von Europa ein deutliches Stück voran. Sie beinhaltet die Selbstverpflichtung der Länder, ihre Souveränität nicht mehr im klassischen Sinn, als Abgrenzung gegen die Nachbarn, zu verstehen, sondern wichtige Teile der Macht zusammen auszuüben und große Bereiche der Politik miteinander zu gestalten. Wir sind auf dem Weg zu einer Union von Bürgerinnen und Bürger, die sich gemeinsam in ihrer unterschiedlichen Nationalität als Europäerinnen und Europäer fühlen. Deshalb muss sich auch unsere Begrifflichkeit ändern. „Die in Brüssel“ gibt es nicht. „Die in Brüssel“, das sind immer auch wir, unsere Abgeordneten, unsere Minister, unsere Beamten und unsere Vertreter im Verein mit den anderen, die auch so sind wie wir, die mit uns eine Gemeinschaft bilden.
Diese Verfassung verpflichtet uns zugleich, zwischen den Zuständigkeiten, also zwischen den ausschließlichen, den geteilten und den ergänzenden Kompetenzen, klarer zu unterscheiden. Weil wir ein föderales Europa wollen, müssen wir zugleich dort begrenzen, wo ein Zentralstaat entstehen könnte.
Ich gehe noch ein Stück weiter. Weil die Europäische Union allen Staaten Europas offen steht, welche die in der Verfassung definierten Werte und Ziele achten, müssen wir auch beginnen, über die Finalität des Einigungsprozesses zu sprechen. Das heißt, wir müssen ganz klar sagen: Weitere Beitritte von Staaten des Europarates sind nur möglich, wenn sich diese Länder in einem längeren Integrationsprozess so wandeln, dass sie in die EU aufgenommen werden können, und wir die EU gleichzeitig so entwickeln, dass sie handlungsfähig bleibt.
Das heißt auch, weder die Staaten des nördlichen Afrikas noch des Nahen Ostens werden der EU beitreten können. Hier dürfen wir keine Illusionen und Zweideutigkeiten verbreiten. Es gilt vielmehr, mit den Ländern dieser Großregionen besondere Verbindungen weiter auszubauen – Stichwort Euromed – und eine spezifische, vertrauensvolle, enge Kooperation zu schaffen.
Diese Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen aller Parteien und Fraktionen hier im Haus, verpflichtet uns auch selbst. Wir sind in der Sozialdemokratischen Partei Europas, in der Europäischen Volkspartei, bei den europäischen Liberaldemokraten und bei den Grünen. Wir müssen uns selbst europäisieren. Das bedeutet, wir müssen die europäische Einigung bei unserer innerparteilichen Arbeit als die Besonderheit des Alltags annehmen. Wir müssen sie in jede politische Dimension einbringen und nicht von einer speziellen Europapolitik neben Kommunal-, Landes- und Bundespolitik sprechen.
Bei der nächsten Europawahl müssen wir den Mut haben, gemeinsame Spitzenkandidaten der Parteifamilien aufzustellen, damit man weiß – das ist der Auftrag dieser Verfassung –, wer zum Beispiel als Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat in Europa für diese Union Anspruch erhebt, Kommissionspräsident zu werden.
Das Gleiche gilt auch für Sie von der CDU/CSU. Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bei der letzten Wahl einen wichtigen Ansatzpunkt geliefert.
Dazu gehört auch, dass wir jetzt in anderen Ländern und in unseren Mitgliederparteien für die Verfassung werben müssen. Ich sage sehr stolz: Nur ein Sozialdemokrat hat im Europäischen Parlament gegen die EU-Verfassung gestimmt; das ist die beste Quote aller Fraktionen. Es bleibt insbesondere für die Kolleginnen und Kollegen von der EVP noch eine Menge zu tun – die Länder, in denen dies der Fall ist, will ich nicht nennen –, weil wir nicht nur in Deutschland, sondern in jedem einzelnen Land eine Mehrheit brauchen.
So weit zur Position der SPD-Fraktion.
Erlauben Sie mir jetzt eine persönliche Anmerkung. Dieser wichtige Tag, an dem wir Mut zu Europa beweisen, wird durch Kleinmut bei der Ratifizierung leider etwas getrübt. SPD, Grüne, FDP und CSU haben sich im vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, ein Referendum zu ermöglichen. Diese Parteien stellen 409 von 601 Abgeordneten. Das entspricht exakt zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages. Trotz einer solch großen Mehrheit war es nicht möglich, die CDU von ihrer Ablehnung abzubringen, sie in unsere Mitte zu nehmen und davon zu überzeugen, dass der Weg einer Volksabstimmung in Deutschland richtig ist; das bedaure ich sehr.
An die Kolleginnen und Kollegen von der FDP gewandt möchte ich deutlich machen: Hätten Sie im Jahre 2002 dem Vorschlag von Rot-Grün, Volksentscheide in das Grundgesetz aufzunehmen, zugestimmt, statt ihn mit 16 zu 18 Stimmen abzulehnen, hätten wir es in der heutigen Debatte leichter.
Wenn es um Entscheidungen in grundlegenden europäischen Angelegenheiten geht, sind in 24 von 25 EU-Staaten Elemente direkter Demokratie vorgesehen – bei uns nicht. Warum das so ist, kann ich Ihnen zwar politisch erklären; ich will es aber persönlich nicht rechtfertigen. 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen über die EU-Verfassung abstimmen; damit haben sie Recht. Alle Vorbehalte, die die Referendumsgegner gegenüber der EU-Verfassung haben, sind überholt. Diejenigen, die aus strategischen bzw. taktischen Gründen gezögert haben, sind leider auch von der Realität widerlegt worden.
Trotz der parlamentarischen Ratifizierung, die in Deutschland durch Bundestag und Bundesrat stattfindet, wird die problematische Volksabstimmung in Großbritannien leider nicht, wie erhofft, unterbleiben, werden wir ein mögliches Referendum leider nicht, wie geplant, eher durchführen können, als es in Frankreich geschehen wird, vermeiden wir leider auch nicht das Risiko eines zu geringen Interesses oder gar, wenn das Referendum in Form eines Plebiszits durchgeführt wird, einer Ablehnung durch die Bevölkerung; das sollte deutlich gesagt werden.
Das Ergebnis des Votums in Spanien ist eine großartige Zustimmung. Die Beteiligung an der Abstimmung erreichte fast das Niveau der letzten Europawahl. An dieser Stelle danke ich Gerhard Schröder persönlich und im Namen meiner Fraktion dafür, wie er sich dort engagiert hat. Das war ein gutes Beispiel für die Europapolitik eines sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzlers.
Ich weiß sehr wohl: All diejenigen, die nur in Bundestag und Bundesrat über die EU-Verfassung abstimmen wollen, haben die Tradition unseres Landes und die jetzigen Bestimmungen des Grundgesetzes auf ihrer Seite; das wiegt ohne Zweifel schwer. In der gegenwärtigen Situation, in der sich Europa dynamisch entwickelt, verharren wir dadurch allerdings in einer Struktur, die in den Jahren 1948 und 1949 geschaffen wurde, als die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes von einer europäischen Einigung nur träumen konnten.
Eine Ratifizierung der EU-Verfassung, die mit breiter öffentlicher, kritischer und informativer Diskussion – auch auf supranationaler Ebene – , mit Veranstaltungen, auch mit Papierbergen, Festivitäten, Sachaufklärung und Medienrummel begleitet worden wäre, hätte die europäische Idee besser in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert und die auch in schwierigen Zeiten notwendige Zustimmung zum erreichten Stand der europäischen Integration verbessert.
Apropos Information, lieber Kollege Hoyer: Vom Bundespresseamt wurden 25 000 Broschüren zur europäischen Verfassung herausgegeben,
von denen ich Ihnen eine bereits überreicht habe.
Das gewählte Verfahren geht an den zukunftsweisenden Intentionen des Grundgesetzes vorbei. Buchstabe und Geist unserer Verfassung besagen, die Bürgerinnen und Bürger durch Wahlen und Abstimmungen an Entscheidungen zu beteiligen, bis schließlich vom deutschen Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen wird. Das war bei Gründung der Bundesrepublik bekanntlich noch nicht möglich. Direkte Demokratie – auch das ist ein Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR – hätte bei Vollendung der deutschen Einheit sehr wohl praktiziert werden können, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP.
Dann wäre ein Volksentscheid über die europäische Verfassung heute pure Selbstverständlichkeit.
Ich weiß – damit komme ich zum Ende –, der Deutsche Bundestag hat in grundlegenden, faktisch nicht korrigierbaren Entscheidungen – eine solche steht auch heute an – fast immer eine glückliche Hand bewiesen: mit der Westintegration, bei der Ostpolitik und auch in der Hauptstadtfrage. Nur ein einziges Mal, soweit ich das in Erinnerung habe, hat sich ein unabänderlicher Beschluss unseres Hauses vor der Geschichte als Torheit erwiesen: der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980. Wenn wir in Kürze hier – so hoffe ich –, mit fast 598 von 601 Abgeordneten für die EU-Verfassung stimmen, ist das eine außergewöhnliche Leistung in Deutschland und ein großer Erfolg für Europa.
Präsident Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über die europäische Verfassung, wenige Wochen nachdem die bundesdeutsche Föderalismuskommission ohne ein einziges greifbares Ergebnis im Streit auseinander gegangen ist. Demgegenüber haben es immerhin mehr als 220 Vertreterinnen und Vertreter aus 28 Staaten mit völlig unterschiedlichen Interessen, Auffassungen und Erfahrungen geschafft, sich in einem vergleichbaren Zeitraum auf eine europäische Verfassung zu verständigen, die nach dem Urteil aller Beteiligten eine entscheidende Verbesserung und einen großen – manche sagen: historischen – Fortschritt bedeutet.
Worin liegt diese Diskrepanz? Ich glaube – sehr geehrter Herr Müntefering, Sie werden mir innerlich wahrscheinlich beipflichten –, die Föderalismuskommission ist nicht zu einem Ergebnis gekommen, weil es einige Beteiligte gab – wir wissen auch, wo sie sitzen –,
die aus Sorge, ein Wahlkampfthema zu verlieren, den Erfolg dieser Jahrhundertreform gefährdet haben.
Die europäische Verfassung ist dagegen zustande gekommen, weil alle Beteiligten – die Länder, die politischen Familien, die Delegierten im Konvent – bereit waren, zum entscheidenden Zeitpunkt über ihren eigenen Schatten zu springen und Lösungen zu akzeptieren, die sie jahrelang erbittert bekämpft haben. Es war für die Briten noch vor zwei Jahren völlig undenkbar, einen europäischen Außenminister zu akzeptieren, die Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta zu akzeptieren oder sich vorzustellen, dass der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament gewählt wird. Es war für unsere französischen Nachbarn nicht der Punkt eins auf der Agenda, das Europäische Parlament zu stärken und das Gewicht der Europäischen Kommission deutlicher hervorzuheben. Es war für die Polen und die Spanier ein ganz schwieriger Prozess, das, was sie in Nizza an Stimmengewicht im Ministerrat erkämpft hatten, zugunsten der doppelten Mehrheit, die uns am Herzen lag, wieder herzugeben.
Meine Damen und Herren, auch wir hätten in dieser europäischen Verfassung natürlich gerne mehr Mehrheitsentscheidungen gehabt, vor allem im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir hätten uns eine noch deutlichere Kompetenzabgrenzung gewünscht, weniger Bürokratie und einfachere Strukturen. Aber gerade der Umstand, dass diese europäische Verfassung eben nicht zu 100 Prozent die Wünsche und die Vorstellungen eines einzigen Landes widerspiegelt, hat dazu beigetragen, dass Europa insgesamt gewonnen hat und damit alle Bürgerinnen und Bürger.
Woran liegt es denn nun, dass wir zwar eine Verfassung haben, die nach der Einschätzung aller Experten einen großen Fortschritt, auch für die Bürgerinnen und Bürger, bedeutet, dass dieser Verfassung aber viele Menschen mit Skepsis begegnen? Ich glaube, in den letzten Jahren ist ein Bewusstseinswandel eingetreten. 40 Jahre lang gingen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass das, was im europäischen Interesse wichtig ist, auch im nationalen, deutschen Interesse liegt. Heute glauben immer mehr Menschen – auch in vielen Fällen, wo es gar nicht so ist –, dass es einen Gegensatz zwischen dem europäischen Interesse auf der einen Seite und dem deutschen, nationalen Interesse auf der anderen Seite gibt.
Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Ich meine, es ist auch die Schuld – nicht allein – einer Bundesregierung, die ständig von nationalen Interessen spricht und die europäischen Institutionen in vielen Fällen mit diesem Argument angreift, in der Praxis aber relativ wenig von den Interessen, die sie definiert hat, durchsetzt.
Noch nie hat eine Bundesregierung derart gegenüber Brüssel getönt und in der Praxis dann so wenig erreicht.
Herr Bundesaußenminister, das hat einen Grund; er liegt nicht in Brüssel. Ich bin überzeugt, dass das Funktionieren der Europäischen Union nach wie vor im vitalen deutschen Interesse liegt, weil kein anderes Land so stark wie Deutschland auf funktionierende Strukturen angewiesen ist und weil kein anderes Land durch eine funktionierende Europäische Union einen derart großen Gestaltungsspielraum erhält. Es gibt aber ein anderes Problem, nämlich die Frage, wie wir mit der europäischen Politik innenpolitisch umgehen. Wir können natürlich nicht wissen, welche Interessen wir in Brüssel durchsetzen wollen, wenn wir uns nicht rechtzeitig Gedanken darüber machen, worin unsere Interessen bestehen und welche wir in Brüssel durchsetzen möchten. Genau das ist der Punkt, über den wir im Zusammenhang mit der Ratifizierung diskutieren müssen.
Ich will ausdrücklich anerkennend sagen, dass Rot-Grün einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, in dem eine Reihe von wichtigen und vernünftigen Aspekten für den innerstaatlichen Umgang mit der europäischen Politik angesprochen wird. Dieser Gesetzentwurf bleibt aber weit hinter dem zurück, was wir benötigen, um unseren Umgang mit der europäischen Politik so neu zu organisieren, dass wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen können.
Lieber Michael Roth, es geht bei dieser Frage nicht um einen Konflikt zwischen dem nationalen Parlament auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite. Es geht um die Frage, wie wir die innerstaatliche Debatte so organisieren können, dass wir rechtzeitig wissen, welche politischen Positionen wir im Ministerrat und um Europäischen Parlament vertreten wollen. Es ist eben so, dass es zu Projekten wie REACH oder zur Dienstleistungsrichtlinie auf der einen Seite des Hauses andere Vorstellungen gibt als auf der anderen Seite des Hauses. Warum fangen wir in vielen Fällen erst dann an, uns über die Auswirkungen europäischer Richtlinien Gedanken zu machen, wenn sie in Brüssel bereits beschlossen und im Gesetzblatt veröffentlicht sind?
Das ist das Problem. Der Lösung dieses Problems dient unser Gesetzentwurf.
Ich denke, wir täten gut daran, zwei klare Signale zu geben, nämlich auf der einen Seite das Signal, dass wir diese europäische Verfassung mit einer großen parteiübergreifenden Mehrheit in diesem Haus wollen, und auf der anderen Seite das Signal, dass wir uns gemeinsam der Herausforderung stellen, die innerstaatlichen Strukturen an die notwendigen Veränderungen anzupassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Altmaier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Gerne, ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Lieber Herr Kollege Altmaier, ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen.
Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es für den Bundestag schon jetzt – verbrieft in Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes – die Möglichkeit gibt, Stellungnahmen abzugeben, die die Bundesregierung berücksichtigen muss? Wenn dem so ist, würden Sie dann auch zur Kenntnis nehmen, dass der Deutsche Bundestag bislang in geschätzten 3 bis 5 Prozent aller Rechtsetzungsakte Gebrauch davon gemacht hat?
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Lieber Herr Kollege Roth, stimmen Sie mit mir darin überein, dass diese Bestimmung unter der Verantwortung einer CDU-geführten Bundesregierung ins Grundgesetz aufgenommen wurde und dass der Umstand, dass in den letzten Jahren davon so wenig Gebrauch gemacht worden ist, möglicherweise auch mit dem Desinteresse zu tun hat, das man diesen Fragen in den Reihen der jetzigen rot-grünen Mehrheit entgegenbringt?
Meine Damen und Herren, diese Verfassung, über die wir diskutieren, ist die Verfassung des freiheitlichen, des bürgerlichen und des demokratischen Europas. Die Europäische Union mit dieser Verfassungist kein zahnloser Tiger, sondern ein Akteur, der in der Weltpolitik Gewicht haben wird. Nun haben wir die Europäische Union mit dieser Verfassung nicht neu erfunden. Nach dem Dank an die Verfassungsväter, an Erwin Teufel und viele andere, die für diese Verfassung gearbeitet haben,
ist es auch wichtig, zu sagen: Wir vollenden mit dieser Verfassung das, was die Gründungsväter der Europäischen Union und der europäischen Integration seit Konrad Adenauer quer über alle Parteien und Fraktionen hinweg für Europa erreicht haben.
Wir haben in der Verfassung den freiheitlichen Aspekt der europäischen Integration betont. Wir haben uns zur sozialen Marktwirtschaft bekannt, aber klargestellt, dass dazu eben auch der Markt gehört und dass die Europäische Union nur mit Freiheit und Wettbewerb ihren Platz in einer globalisierten Welt verteidigen und ausbauen kann.
Wir haben den Stabilitätspakt in der europäischen Verfassung nicht geändert, weil wir glauben, dass dies der falsche Weg ist. Es ist schon erstaunlich: Die Bundesregierung und Rot-Grün haben in den letzten beiden Jahren die amerikanischen Freunde bei jeder Gelegenheit kritisiert. Man kann darüber diskutieren, wie man das im Einzelnen bewertet. Aber ich stelle in einem Punkt ein herzliches Einvernehmen zwischen der Bush-Regierung auf der einen Seite und der Fischer/Schröder-Regierung auf der anderen Seite fest, nämlich im Glauben daran, mit ausufernden Staatsdefiziten die Wachstumsprobleme in den jeweiligen Ländern lösen zu können. Das ist ein Irrweg.
Nachdem Sie bei jeder Gelegenheit an Bill Clinton und Madeleine Albright erinnern, sollten Sie einmal auch bedenken, dass die höchsten Wachstumszahlen in den Vereinigten Staaten erreicht worden sind, als das öffentliche Defizit am niedrigsten war. Deshalb ist die Frage, wie wir mit dem europäischen Stabilitätspakt umgehen, eine ganz entscheidende Frage des Vertrauens in die Europäische Union.
Die Europäische Union ist auch bürgerlich in dem Sinne, dass wir die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen ernst nehmen. Es ist oft gesagt worden: Die Öffnung der Grenzen führt zu Kriminalität, Visamissbrauch und vielem anderen. Deshalb finde ich es schon beachtlich, dass sich jetzt in der Europäischen Union herausstellt, dass der sozialistische Einwanderungs- und Justizkommissar Vitorino möglicherweise strengere und seriösere Einreisevorschriften verantwortet hat, als sie von dem deutschen Bundesinnenminister Schily und dem deutschen Bundesaußenminister Fischer national praktiziert worden sind.
Erlauben Sie mir, noch zwei Punkte anzusprechen. Die Europäische Union wird mit dieser Verfassung demokratischer werden. Das wollen wir über alle Parteigrenzen hinweg und dafür haben wir im Konvent gemeinsam gekämpft. Das muss man dann aber auch in der Praxis akzeptieren und praktizieren. Ich habe nie verstanden, wie jemand nach dem Ausgang der Europawahl mit der Europäischen Volkspartei als der mit Abstand stärksten Fraktion im Europäischen Parlament auf die Idee kommen konnte, den – von uns allen als Person geschätzten – Herrn Verhofstadt aus Belgien als neuen Kommissionspräsidenten zu installieren. Auch meine Fraktion schätzt Herrn Verheugen als guten Europäer und versierten Kommissar. Dass aber die Partei, die in der Europawahl das niedrigste Stimmergebnis erzielt hat, das sie in ihrer ganzen Geschichte in nationalen Wahlen erreichen konnte, den Anspruch erhebt, in die Europäische Kommission einen Vertreter ihrer Partei zu entsenden, ist eben kein Beispiel dafür, wie man die Demokratisierung Europas voranbringt.
Die europäische Verfassung bringt nicht nur die europäische Integration voran, sondern greift auch berechtigte Interessen der Mitgliedstaaten auf und schützt sie. Ich will zum Thema Kompetenzabgrenzung sagen: Lieber Herr Teufel, Sie haben sehr viel dazu beigetragen, dass es zu einer besseren Kompetenzabgrenzung kommt.
Wenn wir im Jahre 1949 vergleichbare Regelungen im deutschen Grundgesetz gehabt hätten, dann stünden heute die Länder bei der Verteilung der Kompetenzen in vielen Bereichen besser da, und wir hätten die Föderalismuskommission vielleicht gar nicht gebraucht. Insofern haben wir hier Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich auch das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten in der nächsten Zeit entspannen kann.
Es ist heute noch nicht gesagt worden, aber ich halte es für wichtig: Die Europäische Union ist auch eine Werteunion. Wir haben es nicht geschafft, einen Gottesbezug zu verankern. Das war von Anfang an schwierig, weil nur ein Drittel aller Staaten in Europa einen derartigen Gottesbezug in ihren Verfassungen hat. Ich hätte mir allerdings schon gewünscht, Herr Bundesaußenminister, dass, nachdem Hunderttausende und Millionen von Menschen sich hierfür mit ihren Unterschriften ausgesprochen haben, die deutsche Bundesregierung wenigstens den Versuch gemacht hätte, dieses Anliegen in den entscheidenden Beratungen der Regierungskonferenz durchzusetzen.
Wir haben aber, auch ohne dass Sie dies getan haben, vieles erreicht. Wir haben das religiöse Erbe in die Verfassung aufgenommen und wir haben die Würde des Menschen im ersten Artikel der Grundrechte-Charta ganz prominent geschützt. Ich glaube, dass diese Verfassung mit ihrem Wertebezug ein wichtiges Signal auch über die Grenzen der Europäischen Union hinaus sein wird. Wir können nicht alle Probleme der Welt dadurch lösen, dass wir die Europäische Union ständig erweitern, wir können aber ein klares Signal an alle demokratischen und alle demokratiebereiten Länder geben. Die Verabschiedung dieser Verfassung wird dieses Signal nicht nur in Europa, sondern weit darüber hinaus sein können.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Teufel, Ihre Rede ist hier hoch gelobt worden.
Darum will ich klar ansprechen, was mir nicht gefallen hat. Sie sprachen vom Bombenhagel auf deutsche Städte und Sie sprachen von ehemaligen Kriegsgegnern, die sich jetzt wieder versöhnt hätten. Sie vergaßen allerdings, zu erwähnen, dass Nazideutschland einen Weltenbrand gelegt und andere Länder überfallen hat. Darstellungen wie diese tragen zu einer Geschichtsumdeutung bei, der wir uns entgegenstellen.
Wir als PDS sind klar bei Richard von Weizsäcker, der vom 8. Mai 1945 als vom Tag der Befreiung sprach.
Vertrauen beruht immer auf Gegenseitigkeit. SPD, CDU/CSU und Grüne trauen nicht den Bürgern unseres Landes und die Bürger trauen immer weniger den etablierten Parteien. Sie, meine Damen und Herren, haben noch nicht verstanden, dass Sie Vertrauen nicht einklagen können. Sie müssen den Bürgern auch Vertrauen schenken. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich einem Volksentscheid zur EU-Verfassung
und wollten doch einmal mehr Demokratie wagen. Die PDS fordert, wie auch die FDP, einen Volksentscheid zum EU-Verfassungsentwurf. Damit sind wir hier im Parlament zwar eine Minderheit, aber in Europa gehören wir damit zur Mehrheit.
Warum dürfen Spanier, Franzosen, Briten und Europäer aus insgesamt zehn Ländern über die EU-Verfassung entscheiden, aber nicht die Bundesdeutschen? Das können Sie keinem Menschen erklären. Auch Sie, Herr Schäfer, haben das hier in Ihrer persönlichen Erklärung bedauert.
Wir als PDS können erklären, warum wir gegen diese Verfassung sind. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Erstens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf Aufrüstung und weltweite militärische Konfliktlösungen.
Zweitens. Die Verfassung setzt auf freien Markt – nicht auf soziale Marktwirtschaft –, freien Geldverkehr und freie Konkurrenz.
Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Konfliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. Unsere Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa unter dieser Logik in den letzten 100 Jahren nur gelitten hat. Wir wollen dieser Logik nicht länger folgen. Diese Logik ist weder für Europa noch für einen anderen Kontinent oder ein anderes Land gut.
Es ist auch ein gefährlicher Irrglaube, dass wir Europa militärisch aufrüsten müssen, um unsere Unabhängigkeit gegenüber den USA zu sichern oder herzustellen. Ein solches Unterfangen wäre nicht nur ökonomischer Wahnsinn, es würde auch ein lebensgefährliches Wettrüsten einleiten.
Aber einige Lobbyisten scheinen bereit zu sein, jedes Risiko einzugehen, damit die Rendite stimmt. Wir haben es erst kürzlich hier im Bundestag mit dem Eurofighter erlebt: Wir geben wissentlich für ein schlechtes Flugzeug Unsummen aus, weil wir nicht aus geschlossenen Verträgen mit unseren europäischen Partnern aussteigen können. Schon jetzt tricksen die europäischen Rüstungsunternehmen die nationalen Parlamente aus und freuen sich auf die in der Verfassung festgeschriebene Europäische Verteidigungsagentur, die bisher Rüstungsagentur hieß, was aus meiner Sicht weitaus ehrlicher war. Die Kontrolle dieser Rüstungsagentur wird – ich darf den Artikel zitieren – wie folgt beschrieben:
(8) Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
Das hört sich wirklich nicht nach einer knallharten Kontrolle an. Damit wird Korruption und Selbstbedienung Tür und Tor geöffnet.
Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, sondern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt auf „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Wir erleben doch gerade, was das praktisch heißen soll. Dienstleistungsunternehmen sollen in Zukunft nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslandes unterliegen. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslandes würden gänzlich untersagt. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen und Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf einfache und billige Weise unterlaufen werden. Das Resultat wären ein weiterer Sozialabbau und weiteres Wachstum der Armut innerhalb Europas. Derzeit können wir täglich in den Medien verfolgen, wie sich diese Entwicklung im Fleischereigewerbe vollzieht.
So stellen wir uns das Zusammenleben in Europa nicht vor. Im Verfassungsentwurf gibt es zwar in der Tat Aussagen und Textpassagen, lieber Kollege Schäfer, die wir unterstützen, die sinnvoll sind und die eine wirkliche Verbesserung darstellen würden, doch die Ablehnungsgründe wiegen um ein Vielfaches schwerer.
Eine Verfassung, die in den beiden entscheidenden Punkten Rüstung und soziale Marktwirtschaft hinter den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt, kann keine Grundlage eines zukunftsgerichteten Europas sein. Wir sagen Nein zu diesem Verfassungsvertrag, weil wir Ja zu Europa sagen und daran festhalten, dass ein besseres Europa möglich ist.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU ist die gestaltende Kraft in Europa.
Wir wollen kein zentralistisches, sondern ein föderales Europa. Ministerpräsident Teufel hat dies bereits deutlich gemacht.
Wir wollen ein Europa der Parlamente und nicht der Bürokratien. Wir wollen ein Europa, das sich auf das christlich-abendländische Erbe beruft und zu einem Gottesbezug bekennt. Der vorliegende Verfassungsentwurf wäre klarer, föderaler, christlicher und hätte diesen Gottesbezug, hätte nicht Gottvater der Grünen, der größte anzunehmende Außenminister, über diesen Verfassungsvertrag verhandelt.
Ich möchte mich zunächst auf die Frage konzentrieren, welche Rolle der Bundestag und die nationalen Parlamente in Zukunft in einer Europäischen Union spielen werden, in der schon heute 70 Prozent der Gesetzgebung auf europäischer Ebene erfolgt. Mit dem Verfassungsvertrag wird – das ist unstreitig – die Abwanderung der Kompetenzen nach Brüssel erheblich verstärkt werden. Die EU weitet den Rechtsetzungsrahmen auf fast alle nationalen Politikbereiche und dabei auch auf klassische Felder der bisherigen Innenpolitik aus. Auch in der Justiz, in der Innenpolitik, in der Daseinsvorsorge und in der Energiepolitik – bis hin zu den Kommunen – wird die Gesetzgebung künftig noch stärker als bisher über Brüssel erfolgen.
Damit verlieren die Landtage und der Bundestag weitere substanzielle Gestaltungs-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte wie auch an politischer Legitimation. Die Demokratie legitimiert sich über das Volk und durch Wahlen. Der Wähler legitimiert uns, die Parlamente. Wir haben eine Legitimation auf Zeit.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer die europäische Gesetzgebung legitimiert. Wer legitimiert 80 Prozent der Rechtssetzung in Brüsseler Bürokratenstuben in der EU-Kommission? Auf diese Frage gibt der Verfassungsentwurf bisher nicht die entscheidende Antwort. Wir müssen auf nationaler Ebene eine Antwort darauf finden.
Wir haben es zurzeit mit einer Entparlamentarisierung der Demokratie zu tun. Professor Hans Hugo Klein, der ehemalige Bundesverfassungsrichter, spricht gar von der Entmachtung der Parlamente. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat eine düstere Prognose zur Zukunft des Parlamentarismus gegeben: „Die Diskussion entfällt, die Öffentlichkeit entfällt, der repräsentative Charakter des Parlaments und der Abgeordneten entfällt.“
Das ist keine Demokratie, wie wir sie uns vorstellen. In dieser Aussage liegt wahrscheinlich auch der tiefere Kern der Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern, zwischen der Politik und dem Volk. Wir müssen wieder zurück. Wir müssen Politik und Entscheidungsvorgänge transparent machen und das Volk einbeziehen. Wir beziehen unsere Kraft nur vom Volk. Wir müssen in der Demokratie diese gestaltenden Grundlagen wieder verwirklichen.
Ich möchte Ihnen zwei aktuelle Beispiele nennen, die zeigen, dass der Bundestag in der europäischen Rechtsetzung außen vor ist. Wir diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Damit legitimieren wir die Rechtsetzung in Brüssel nicht mehr. Die Frage ist: Wer kann legitimieren? Das Europäische Parlament kann nur ergänzend eine Legitimation geben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil sehr deutlich dargelegt: Demokratische Legitimation europäischer Politik erfolgt zuvörderst über die nationalen Parlamente – wir sind schließlich am nahesten am Bürger –, unsere Wahl und die Kontrolle des Ministerrates sowie ergänzend durch das Europäische Parlament. Dies wird auch in Zukunft so sein. Das Bundesverfassungsgericht stellt ebenfalls fest:
Dem Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben.
Es bleibt offen, ob der Verfassungsvertrag diesen Vorgaben gerecht wird.
Eines ist allerdings klar – hier wird die gestaltende Kraft der Union deutlich –: Wir wollen Demokratie und Entscheidungsstrukturen zum Bundestag und zum Bürger zurückholen und den Bundestag zu einem europäischen Mitwirkungsparlament machen.
Die Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in der EU-Gesetzgebung ist essenziell notwendig. Um zwei Beispiele zu nennen: Die Bundesregierung hebelt heute den Stabilitäts- und Wachstumspakt aus, ohne dass wir mitentscheiden können. Hier vollzieht sich eine Veränderung von Primärrecht. Wir diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Ein weiteres Beispiel: Die Bundesregierung beschließt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Wir können zwar darüber diskutieren, aber faktisch nicht entscheiden. Das muss sich ändern!
CDU und CSU machen – das ist ein qualitativer Sprung, den wir machen müssen; in Österreich wird dieser Weg gegangen; in Dänemark ist es Praxis; in Italien wird darüber diskutiert – in ihrem Gesetzentwurf vier zentrale Vorschläge und fordern alle anderen Fraktionen auf, in einen konstruktiven Dialog einzutreten und diese Vorschläge bei der Ratifizierung zu berücksichtigen:
Erstens. Wir fordern die Verwirklichung eines Parlamentsvorbehalts, das heißt einer Bindewirkung der Zustimmung der nationalen Parlamente zu zentralen Gesetzgebungsakten der EU. Bevor beispielsweise Wirtschaftsminister Clement als deutscher Minister im europäischen Ministerrat in Brüssel die für unsere Handwerker und Dienstleistungsberufe so wichtige Dienstleistungsrichtlinie mit beschließt, soll und muss er sich zukünftig der deutschen Öffentlichkeit und dem deutschen Parlament stellen und sagen, wofür oder wogegen er ist, und sich hier das entsprechende Votum abholen. Damit hätten wir Öffentlichkeit und Transparenz hergestellt sowie die Entscheidungen ein Stück weit zum Bürger zurückgeholt. Das ist das Wesentliche, was wir unter Demokratie verstehen.
Zweitens. Wir wollen die Zustimmung des Bundestages mit Zweidrittelmehrheit bei neuen Zuständigkeitsübertragungen und beim Übergang vom Prinzip der Einstimmigkeit zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Ich brauche das nicht näher zu verdeutlichen; denn Herr Ministerpräsident Teufel hat das bereits ausgeführt. Die Mitgliedstaaten müssen Herren der Verträge bleiben. Wenn es im Rahmen des neuen, autonomen Verfahrens zu Vertragsänderungen kommt, dann darf das nicht am Parlament und am Willen des Volkes vorbei geschehen. Dies käme einer Entmachtung der Parlamente gleich. Deshalb fordern wir eine Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit, wie sie im Übrigen bisher verfassungsmäßig notwendig ist.
Drittens. Die Subsidiaritätsklage muss als Minderheitenrecht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat diese Möglichkeit schon heute. Wir machen keinen qualitativen Sprung, wenn wir sie der Mehrheitsfraktion einräumen.
Viertens. Ich möchte hervorheben, dass zukünftig Beitrittsverhandlungen – beispielsweise mit der Türkei oder der Ukraine – nur mit Zustimmung des Parlaments erfolgen dürfen. Warum soll der Bundestag, die Vertretung des Volkes, zukünftig bei solchen Entscheidungen nicht beteiligt werden, ausgeschlossen werden?
Wenn wir diese vier qualitativen Punkte umsetzen, dann wird die Ratifizierung kein Problem sein. Unabhängig davon, wie viele dem letztendlich zustimmen, geht es hierbei aber auch um die Frage, wie wir unter den genannten veränderten europäischen Rahmenbedingungen Demokratie gestalten. Diese Frage geht nicht nur an die eine Seite dieses Hauses, sondern dies ist eine Frage, die sich das gesamte deutsche Parlament und die Parlamente aller übrigen 24 Mitgliedstaaten stellen müssen.
Wir wollen Macht zum Wähler, zum Bürger, Kontrolle in die Parlamente und Europa zum Volk zurückholen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort erhält jetzt der Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion.
Günter Gloser (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin bei dem jetzigen Stand der Debatte etwas irritiert. Angesichts des Beitrags des Kollegen Dr. Müller soeben hier einerseits und der Rede von Ministerpräsident Teufel zu Beginn unserer heutigen Debatte andererseits weiß ich gar nicht mehr, was die Union in bestimmten Bereichen eigentlich will.
Ich sage klar und deutlich: Wir, die rot-grüne Koalition, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wollen die Verfassung. Wir wollen diese Verfassung rechtzeitig ratifizieren und wir wollen sie nicht mit Themen befrachten, die in andere Bereiche dieses Parlaments gehören, beispielsweise, wie hier schon erwähnt worden ist, in die Föderalismuskommission.
Vor wenigen Wochen schrieb ein bekannter Publizist und Wissenschaftler, Professor Weidenfeld: Europa ist erschöpft.
Dem kann ich nicht zustimmen. Genau dieses Projekt, das auch dieser Bundestag sehr aktiv begleitet hat, unterstreicht dies. Europa ist eben nicht erschöpft. Europa hat es geschafft, mit 15 Mitgliedstaaten sowie zwölf weiteren Staaten und der Türkei einen Verfassungsprozess zu organisieren.
Wenn gelegentlich auch in der Öffentlichkeit gefragt wird, ob wir Parlamentarier in diesem politischen Betrieb überhaupt etwas erreichen könnten, dann kann ich auch anhand des Beispiels der Methode der Erarbeitung des Entwurfs einer europäischen Verfassung und seiner Inhalte darauf nur antworten: Ja, das Parlament kann etwas erreichen.
Ich sage in diesem Zusammenhang ganz offen: Wir sind uns einig darin, dass Nizza in der Tat kein Erfolgserlebnis war. Es musste etwas geändert werden. Verschiedene Regierungen haben erklärt, man müsse die Zivilgesellschaft beteiligen. Das Parlament kam bei entsprechenden Aussagen nicht vor. Es wären dann aber Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die gesagt haben: Lasst uns eine andere Methode finden, lasst uns mit den Kolleginnen und Kollegen vom Europäischen Parlament und auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus den nationalen Parlamenten diese Verfassung entwerfen.
Ich halte es im Übrigen nicht nur für einen Akt der Höflichkeit, sondern auch für einen demokratischen Uransatz, dass wir gesagt haben: Wenn wir schon wissen, dass wir in den nächsten Jahren weitere Länder in die Europäische Union aufnehmen, dann lasst uns die Beitrittsländer bei dieser Aufgabe mitwirken. Ich meine, es war klug, dass wir das – und zwar parteiübergreifend – gemacht haben.
Ich möchte dabei auf etwas zurückkommen, was der Kollege Dr. Schäuble in dieser Debatte im Widerspruch zu dem gesagt hat, was Herr Teufel hier dargelegt hat. In der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich auch ältere Protokolle gelesen. Dabei habe ich festgestellt, dass Sie immer wieder dieselbe Platte – heute müsste man vielleicht besser „CD“ oder „Diskette“ sagen – auflegen, indem Sie sagen, diese Bundesregierung beeinträchtige das Verhältnis zwischen Großen und Kleinen und zerstöre dieses und jenes. Das stimmt einfach nicht.
Herr Schäuble, davon sollten Sie sich verabschieden; denn wenn Sie die verschiedenen Prozesse in der Europäischen Union verfolgen, ob es sich nun um die Außen- und Sicherheitspolitik, die Währungspolitik oder die Finanzpolitik handelt, werden Sie immer wieder erkennen, dass jeweils Große und Kleine dabei sind. Sie sollten also nicht einen Gegensatz dahin gehend konstruieren, dass es jeweils nur die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich seien und viele kleine Länder sich nicht entsprechend verhielten.
Man sollte endlich einmal zur Kenntnis nehmen, dass in der Europäischen Union natürlich unterschiedliche Interessen vorhanden sind, die zusammengeführt werden müssen. Deshalb kann ich auch nicht verstehen – das gilt auch für die Ausführungen meines ansonsten geschätzten Kollegen Peter Altmaier –, dass die Union immer wieder sagt, das und das sei gefordert worden, sei in Brüssel aber nicht durchgesetzt worden. Wir haben ein Grundverständnis und natürlich haben wir Interessen. Dabei müssen wir aber davon ausgehen, dass es in der Europäischen Union neben uns 24 Partnerländer gibt, die ebenfalls ihre jeweiligen Interessen und Anliegen haben, welche sich von unseren unterscheiden können. Deshalb ist es sicherlich schwierig, zu vermitteln, warum die Europäische Union gelegentlich zu lange braucht, bis sie eine Entscheidung trifft.
Zur Erläuterung ein Beispiel – ich mache mich darüber nicht lustig; Kollege Silberhorn und andere kommen wie ich aus der fränkischen Region; sie kennen den Hintergrund –: Die drei Städte Nürnberg, Fürth und Erlangen – sie sind politisch unterschiedlich geprägt – überlegen sich, ob sie aus Sparsamkeitsgründen ein gemeinsames Statistikamt einrichten. Diese Städte schaffen es nicht, sich über 32 Stellen zu verständigen. Früher konnten sie sich nicht auf die Schaffung einer gemeinsamen Müllverbrennungsanlage verständigen. Dennoch gilt dort vom Grundsatz her: eine Sprache, eine Mentalität, auch in Bezug auf die Art und Weise, wie man Politik betreibt. Angesichts dessen darf es die Öffentlichkeit doch nicht verwundern, dass auf der europäischen Ebene manche Prozesse etwas länger dauern. Ich finde, in bestimmten Punkten kommt man durchaus zu einem Erfolg.
Nun zum Wehklagen im Hinblick auf die Rechte des Deutschen Bundestages
– ich will hier keine Selbstbezichtigung vornehmen; aber man muss schon selbstkritisch analysieren –: Herr Altmaier, Kollege Hoyer, wir, der Deutsche Bundestag, haben doch schon jetzt bestimmte Rechte. Das ist das Ergebnis eines Prozesses seit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages. Wenn man das selbstkritisch beleuchtet, stellt man jedoch fest, dass wir von diesen Rechten häufig gar keinen Gebrauch gemacht haben.
Herr Schäuble hat hier die Dienstleistungsrichtlinie angesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Hier im Deutschen Bundestag hat jeder das Recht, diese Thematik auf die Tagesordnung zu setzen, entsprechend zu beleuchten und sich mit der Bundesregierung auseinander zu setzen. Das ist doch nicht das Problem.
In der Vergangenheit hatten wir sicherlich das Problem, rechtzeitig unterrichtet zu werden, um unsere Position auch im Parlament zu finden. Ich glaube, die Vorschläge, die wir gemacht haben, sind von großer Bedeutung.
Herr Kollege Dr. Müller, das Selbstbewusstsein des Deutschen Bundestages ist anders, als es in Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. In diesem Gesetzentwurf fordern Sie, dass der Deutsche Bundestag das Recht erhält, ein Büro bei der Ständigen Vertretung in Brüssel einzurichten.
Ich habe kein Problem mit der Ständigen Vertretung. Im Gegenteil: Ich fühle mich dort ständig gut vertreten.
Um einen Frühwarnmechanismus zu stärken, ist ein Büro, das beim Europäischen Parlament angesiedelt ist, besser als ein Büro bei der Exekutive. Möglicherweise haben das andere in der Politik jedoch nicht so gesehen.
Wir haben rechtzeitig gesagt – das möchte ich deutlich machen –: Der Deutsche Bundestag muss sich auf die neue Konstellation einstellen. Die Verabschiedung des von Rot-Grün eingebrachten Gesetzentwurfs schafft die Möglichkeit, die Rechte des Deutschen Bundestages auszubauen.
Nun zu Ihnen, Frau Dr. Lötzsch. Ich kann es fast schon nicht mehr hören, dass Sie von der Europäischen Union immer als einer Militärunion und Ähnlichem sprechen. Neben der PDS gibt es viele andere Gruppierungen, die so denken; insofern sollte man dieses Thema ganz offen ansprechen: Die Europäische Union ist – das ist heute von vielen Rednern gesagt worden – ein Modell für andere Regionen in der Welt, was die Organisation eines friedlichen Prozesses des Zusammenwachsens angeht. Nach der Spaltung durch den Irakkonflikt hat man in der Europäischen Union eine Sicherheitsstrategie entwickelt. Was hat das mit Militärunion zu tun? Auch die PDS sollte die Verfassung einmal von A bis Z durchlesen und nicht ganz bestimmte Punkte herausgreifen, die dann auch noch falsch interpretiert werden.
Die Europäische Union hat es darüber hinaus geschafft – auch das ist an die Öffentlichkeit gerichtet –, dafür zu sorgen, dass es im früheren Jugoslawien bzw. in Mazedonien zu keinem Bürgerkrieg gekommen ist, sondern dass sich dort eine friedliche Initiative entwickelt hat. Warum kommt es immer wieder zu dem Geschrei, die Europäische Union wende Waffengewalt an, um kriegerisch oder möglicherweise sogar imperialistisch aktiv zu werden? Wir sollten ehrlich darüber diskutieren, ob manche Passage richtig ist; aber man sollte in der deutschen Bevölkerung vor allem keine neuen Ängste schüren. Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen, letztendlich aktiv dafür einzutreten, dass diese Verdrehung nicht im Raum stehen bleibt.
Die Opposition hat durch unterschiedliche Vorlagen versucht, verschiedene Bereiche in den Fokus zu rücken. Ich habe dazu noch einmal eine Frage, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Wir waren im Deutschen Bundestag bei der Begleitung des Konvents doch überwiegend der Auffassung, dass wir von der Mehrheitsentscheidung und nicht vom Einstimmigkeitsprinzip als Regel ausgehen sollten. Auf dem Weg sind wir sicherlich noch nicht am Ende angelangt. Die Frage ist nun, warum Sie eine vorgeschaltete Abstimmung haben wollen, wenn vom Prinzip der Einstimmigkeit auf das Prinzip der Mehrheitsentscheidung übergegangen wird.
– Dazu gibt es bei Ihnen widersprüchliche Äußerungen.
Auf der einen Seite sprechen Sie sich für die Ausweitung der Mehrheitsentscheidung aus und auf der anderen Seite wollen Sie das wieder etwas zurücknehmen und die Handlungsfähigkeit so wieder eingrenzen. Ich habe Ihren Antrag jedenfalls so verstanden und ich denke, dass ich ihn richtig gelesen habe.
Wer an dieser Stelle hätte vor einigen Jahren gedacht – die Kollegen Axel Schäfer und Michael Roth haben das in Ihren Beiträgen auch schon deutlich gemacht –, dass uns ein solches Projekt wie die europäische Verfassung einmal zur Abstimmung vorgelegt werden würde? Wer hätte daran gedacht, dass wir als Parlamentarier aktiv daran würden mitwirken können? Ich sage das auch mit einem gewissen Stolz. Ich erinnere mich noch an unsere Oppositionszeiten in Bonn, als die SPD-Bundestagsfraktion erste Workshops – das war damals noch ein schönes neues Wort – zu der Frage veranstaltet hat: Brauchen wir in Europa nicht eine Grundrechtecharta? Das hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer damals initiiert. Dies ist nun daraus erwachsen.
Vor diesem Hintergrund sollten wir wirklich bedenken, welche Entscheidung wir im Juni bei der abschließenden Beratung treffen. Ich bin froh darüber, dass es in den letzten Tagen auch in der Union viele Stimmen gegeben hat, die gesagt haben: Ja, wir sind an einer zügigen Ratifizierung interessiert. – Sehr überrascht hat mich, dass auch der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos das erst gestern wieder gesagt hat. Durch Ihren Beitrag, Herr Ministerpräsident Teufel, ist, glaube ich, deutlich geworden, dass wir alle in diesem Haus – trotz mancher Unterschiede zwischen den Fraktionen; das gilt vielleicht auch für das Verhältnis zum Bundesrat – ein Interesse daran haben sollten, im Juni diese Verfassung zu ratifizieren, um so auch ein Zeichen nach Frankreich zu geben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der europäische Verfassungsvertrag ist uns mit dem Anspruch vorgelegt worden, mehr Demokratie, mehr Bürgernähe und mehr Transparenz zu schaffen. Wenn wir diesem Verfassungsvertrag im Ergebnis zustimmen, dann deshalb, weil insbesondere diesem Anspruch Rechnung getragen wird, etwa durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, was ein ganz wesentlicher Baustein dieses Verfassungsvertrages ist. Nur sage ich: Wenn wir mehr Demokratie, mehr Transparenz und mehr Bürgernähe schaffen wollen, dann reicht es nicht aus, nur das Europäische Parlament zu stärken. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Rechtsetzung immer weniger in Berlin und immer mehr in Brüssel stattfindet. Deswegen würden auch der Ministerrat und insbesondere die nationalen Regierungen deutlich mehr an Transparenz und Bürgernähe vertragen.
Die Situation, vor der wir stehen, ist offenbar die, dass bereits etwa 60 bis 70 Prozent dessen, was wir im Deutschen Bundestag beraten, durch Vorgaben der Europäischen Union veranlasst ist. Wenn es richtig ist, dass die Bundesregierung immer weniger in Berlin mit dem Bundestag entscheiden muss, sondern ohne Bundestag mit einzelnen Ministern in Brüssel im Ministerrat entscheiden kann, dann ist es dringend notwendig, dass wir die Debatten, die die Bundesregierung in Brüssel führt, zum Gegenstand unserer öffentlichen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag machen. Herr Gloser, Sie haben gesagt, das sei ein Thema, das nicht hierher gehöre. Es gehört hierher, dass wir die Kontrollfunktion, die wir als Parlament haben, ernst nehmen und der Bundesregierung bei dem, was sie in Brüssel tut, auf die Finger schauen. Wir müssen in Deutschland Öffentlichkeit darüber herstellen.
Der europäische Verfassungsvertrag führt dabei durchaus zu Fortschritten, etwa mit der Subsidiaritätsrüge, die ich begrüße, die ich aber für weitgehend substanzlos halte, weil das Ergebnis dieser Rüge nur ist, dass die Kommission verpflichtet wird, eine Stellungnahme, die noch dazu von mehreren nationalen Parlamenten abgegeben worden sein muss, zu prüfen. Mehr als eine Prüfung ist es nicht.
Die Subsidiaritätsklage ist da schon etwas mehr. Wir würden uns wünschen, dass insbesondere die kleinen Fraktionen dieses Hauses erkennen, dass es hierbei um eine Normenkontrolle geht, nämlich um die Frage, ob das, was die Minister in Brüssel beschließen, auch tatsächlich mit der Grundlage des Verfassungsvertrages vereinbar ist. Deshalb macht es Sinn, diese Subsidiaritätsklage ebenso wie die nationale Normenkontrolle als ein Minderheitenrecht auszugestalten. Es handelt sich hierbei also nicht um eine Mehrheitsfrage, sondern um eine reine Rechtsfrage, die der Europäische Gerichtshof zu klären hat. Deshalb sind wir für das Minderheitenrecht.
Meine Damen und Herren, die zusätzlichen Rechte, die der europäische Verfassungsvertrag den nationalen Parlamenten einräumt, begrüße ich. Ich halte sie aber insoweit für eingeschränkt, als sie nur auf die Organe der Europäischen Union gerichtet sind und gerichtet sein können. Zusätzlich müssen wir die Rechte des Deutschen Bundestages im Verhältnis zur Bundesregierung stärken. Wir brauchen mehr Kontrolle der Bundesregierung und mehr Öffentlichkeit bei den Dingen, die die Bundesregierung für Deutschland in Brüssel berät und beschließt.
Wir fordern erstens mehr Information. Es kann doch nicht sein, dass selbst die Koalitionsfraktionen noch nicht einmal darüber unterrichtet werden, wenn die eigene Bundesregierung eine Initiative in Brüssel ergreift. Es kann doch nicht sein, dass Sie mit großer Nachsicht der rigiden Informationspolitik des Auswärtigen Amtes begegnen, die uns völlig im Unklaren darüber lässt, was die Ständigen Vertreter in Brüssel beraten und beschließen. Es ist völlig unakzeptabel, dass wir noch nicht einmal das an Informationen bekommen, was der Bundesrat bekommt. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass wir in Bezug auf die Informationspolitik mit dem Bundesrat gleichgestellt werden.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: Herr Kollege Roth hat vorhin kritisiert, bei unseren Vorschlägen handele es sich teilweise nur um Mätzchen, so etwa, wenn wir einfordern, dass der Deutsche Bundestag ein zustimmendes Votum abgibt, bevor die Bundesregierung Verhandlungen beispielsweise über Beitritte oder Vertragsänderungen aufnimmt. Meine Damen und Herren, wir reden über Verträge, die wir hier in diesem Hause mit einer Zweidrittelmehrheit ratifizieren müssen. Da macht es doch Sinn, dass wir nicht erst am Ende des Verhandlungsprozesses ein Votum abgeben, sondern schon im Vorhinein der Regierung einen Verhandlungsauftrag mitgeben, etwa in Form einer Zustimmung, dass sie Verhandlungen aufnehmen kann. Hierfür ist dann keine Zweidrittelmehrheit wie für die endgültige Zustimmung vorgesehen, sondern eine einfache Mehrheit. Das heißt, die Koalitionsfraktionen haben es in der Hand. Uns geht es nur darum, dass wir darüber eine öffentliche Debatte führen.
Ich frage mich da schon, welchen Kleinmut bzw. welches Selbstverständnis Sie als Parlamentarier haben,
wenn Sie nicht bereit sind, den Deutschen Bundestag mit der Frage zu befassen, ob Verhandlungen etwa über neue Verträge oder über Beitritte aufgenommen werden sollen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kollege Silberhorn, kommen Sie bitte zum Schluss.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss und sage abschließend: Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen, dass wir die Europadebatte aus den akademischen Hinterzimmern herausbringen und an das Licht der Öffentlichkeit führen.
Das geschieht, wenn sie hier im Deutschen Bundestag geführt wird. Wir müssen die Mauer einreißen, die zwischen Bürgern und Bürokraten besteht.
Deswegen fordern wir mehr öffentliche Debatten und eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4900, 15/4939, 15/4716, 15/4925, 15/4936 und 15/4937 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen sollen – abweichend von der Tagesordnung – nicht an den Haushaltsausschuss, weder mitberatend noch nach § 96 der Geschäftsordnung, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/4206 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2970 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortsetzen – Den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Merz, Dr. Michael Meister, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine stabile Wirtschafts- und Währungsunion – europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht ändern
– Drucksachen 15/3957, 15/3719, 15/4915 –
Berichterstattung:Abgeordnete Ortwin Runde Georg Fahrenschon
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Michael Meister von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde 1997 auf Drängen der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Er sollte die Gemeinschaft vor einer expansiven Staatsverschuldung der Nationalstaaten schützen und die Geschäftsgrundlage für die Einführung des Euro darstellen. Ohne diesen Stabilitätspakt gäbe es heute den Euro nicht.
Es war unser Anliegen, dass die künftige europäische Währung so stabil wie die D-Mark werden sollte. Dieses Versprechen haben wir gemeinsam – der Deutsche Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung – gegenüber den Menschen in unserem Land abgegeben.
Heute will unser Bundeskanzler von diesem Versprechen nichts mehr wissen. Er will den Stabilitätspakt außer Kraft setzen.
– Herr Spiller, dies hat er in einem Namensartikel in der „Financial Times Deutschland“ vom 17. Januar erklärt.
Ich wundere mich: Der Bundeskanzler schreibt in einer Zeitung Namensartikel, ist aber bei keiner Debatte, die wir zu diesem Thema geführt haben, hier im Parlament ans Rednerpult getreten, um seine Position vorzutragen.
Hier wäre der Platz des Bundeskanzlers, um zu erklären, was er am Pakt ändern will, warum er es ändern will und welche Konsequenzen und Ziele er damit verbindet. Der Kanzler steht hier nicht am Rednerpult, er ist noch nicht einmal auf seinem Platz. Wir vermissen ihn; dies ist ein schlechter Stil im Umgang mit dem demokratisch gewählten Parlament in Deutschland.
Meine Damen und Herren, die Vorschläge des Bundeskanzlers sind ökonomisch unsinnig und langfristig für unser Land gefährlich.
Würden sie realisiert, würde die Transparenz des Stabilitäts- und Wachstumspakts außer Kraft gesetzt. Jegliche Staatsverschuldung ließe sich in Zukunft rechtfertigen. Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass der Stabilitätspakt zu Grabe getragen würde, wenn die Vorschläge des Bundeskanzlers zum Tragen kämen.
Dies haben auch die Medien aufgegriffen: „Deutschland hebelt Defizitverfahren aus“, hieß es in der „Financial Times Deutschland“ vom 16. Februar 2005, „Schröder hat den Stabilitätspakt erledigt“, hieß es in der „Berliner Zeitung“ vom 18. Februar 2005. Alle großen Zeitungen unseres Landes haben das Vorhaben des Bundeskanzlers beim Namen genannt: Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Allein die Ausnahmen, die der Bundeskanzler fordert, erlauben de facto ein Staatsdefizit von 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Gleichzeitig verkündet die Bundesregierung nach außen, die Dreiprozentgrenze gelte unvermindert. Die Aufweichung des Stabilitätspakts nicht zuzugeben, sondern sie als eine Stärkung des Pakts zu verkaufen, ist pure Heuchelei. Damit zerstören Sie national und international das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit deutscher Politik.
Mit diesem Kurs isoliert sich Deutschland innerhalb der Europäischen Union.
Deutschland fällt im internationalen Wohlstandsvergleich immer weiter zurück. Dafür ist jedoch nicht der Stabilitätspakt verantwortlich, sondern die rot-grüne Politik. Die rot-grüne Regierung hat nicht den Mut, die für unser Land notwendigen Strukturanpassungen vorzunehmen. Dass heute Morgen kein verantwortlicher Minister auf der Regierungsbank sitzt, dann ist ein schlagender Beweis dafür, dass dieser Mut, die Kraft und die Entscheidungskompetenz fehlen.
Deswegen brauchen wir endlich wieder Minister, die auf der Regierungsbank Platz nehmen, die dem Parlament sagen, was sie vorhaben, und die die Kraft haben, dies hier im Parlament mit Mehrheit durchzusetzen und dann auch den Menschen in unserem Land zu erklären.
Meine Damen und Herren, das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland dümpelt vor sich hin, während alle Länder um uns herum schneller wachsen und sich besser entwickeln. Deshalb sage ich eines ganz deutlich: Den von Ihnen konstruierten Gegensatz zwischen der Konsolidierung der Staatsfinanzen und dem Wirtschaftswachstum gibt es nicht. Es ist nicht zutreffend, was der Bundeskanzler öffentlich konstruiert und was sein Finanzminister immer wieder vorträgt: dass solide Staatsfinanzen einem Wirtschaftswachstum entgegenstünden. Das Umgekehrte ist richtig:
Konsolidierte Haushalte sind eine zwingende Voraussetzung für dauerhaftes, nachhaltiges, inflationsfreies Wachstum. Deshalb wird derjenige, der den Stabilitätspakt mutwillig zerstört, das Fundament zertrümmern, auf dem unser Land wieder zu Wohlstand, Wachstum und Arbeitsplätzen kommt, meine Damen und Herren.
Weil Ihre zögerliche und halbherzige Politik bislang erfolglos geblieben ist – Sie haben 5 Millionen Arbeitslose, die höchste Staatsverschuldung in der Geschichte unseres Landes,
geringe Wachstumsraten und einen ständig zunehmenden Abgang von Menschen aus der Erwerbsarbeit zu verantworten –,
bereiten Sie jetzt einen Paradigmenwechsel in der deutschen Finanz- und Haushaltspolitik vor. Sie wollen erneut mit den alten Zöpfen kreditfinanzierter Konjunkturprogramme antreten. Dabei sind Ihnen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts hinderlich. Deshalb wollen Sie diesen Pakt aushebeln und ihn beseitigen.
Nun habe ich eben kritisiert, dass der Bundesfinanzminister nicht anwesend ist. Es ist aber genauso bedauerlich, dass auch der Minister, der die Finanzpolitik in Deutschland momentan maßgeblich bestimmt, nicht anwesend ist, nämlich der Bundeswirtschaftsminister, der mit seinem konjunkturpolitischen Aktionismus das Land weiterhin in eine höhere Staatsverschuldung treibt. Ich sage Ihnen voraus: Der Plan funktioniert nicht. Das einzige Ergebnis wird ein Strohfeuereffekt sein, der die deutsche Volkswirtschaft und die Menschen teuer zu stehen kommen wird. Denn die Schulden von heute werden sie in Zukunft über höhere Steuern und Abgaben bezahlen müssen; das ist die einfache Wahrheit.
Deshalb werden Sie mit einem solchen Programm nicht das Vertrauen der Menschen erreichen, sondern Sie werden Vertrauen zerstören. Das haben wir bereits in den 70er-Jahren erlebt.
Aber im Gegensatz zu den 70er-Jahren ist die internationale Wirtschaft heute viel stärker verzahnt. Wir haben viel stärkere Globalisierungseffekte. Deshalb werden die Absickerverluste Ihrer Programme über unsere Grenzen hinaus viel größer sein. Es wird Anbieter und Arbeitnehmer aus anderen Ländern geben, die mit deutschen Steuergeldern und Konjunkturprogrammen Arbeitsplätze finanziert bekommen, und die Menschen in diesem Lande werden die Schulden in Zukunft über Steuern und Abgaben bezahlen müssen. Das heißt, Sie beseitigen Arbeitsplätze und schaffen Schulden in diesem Land. Das ist die falsche Politik, meine Damen und Herren.
Was unsere Volkswirtschaft dringend brauchen würde, wären mehr Freiheit, weniger Regulierung, mehr Wettbewerb in Deutschland, ein im internationalen Kontext wettbewerbsfähiges Steuersystem, eine Entkopplung der Arbeitskosten von der Finanzierung der Sozialsysteme und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Darüber würde unsere Wirtschaft wieder in Gang kommen, würden Wachstum und Arbeitsplätze generiert und Wohlstand in Deutschland gesichert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, es ist ja geradezu merkwürdig, dass die Union zu all diesen Themen hier Vorschläge eingebracht hat, dass wir deutlich gemacht haben, wie der Wachstumsmotor der deutschen Volkswirtschaft wieder angeschoben werden kann. Wir haben Vorschläge zur Vereinfachung des Steuersystems, zur Unternehmensbesteuerung – übrigens mit großer Zustimmung in der Öffentlichkeit –, zur Vereinfachung des Steuerrechts, um endlich unser komplexes System zu überwinden, und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts gemacht; der Kollege Pofalla hat den Pakt für Deutschland vorgestellt. Zu allen Themen liegen Vorschläge der Union vor, die dazu dienen sollen, unser Land strukturell für die Zukunft besser aufzustellen. Und was haben wir auf der Regierungsbank? Eine nicht handlungsfähige Regierung, die sich nicht traut, Entscheidungen zu treffen und die notwendigen Strukturprozesse in Deutschland durchzusetzen.
– Wir haben das konkret vorgelegt, Herr Schmidt.
Wenn Sie das nicht kennen, liegt das nur daran, dass Sie nicht lesen können. Lesen Sie die Vorschläge, machen Sie sie sich klar und seien Sie dann bereit, mit uns zu reden und sie umzusetzen, statt hier mit Polemik zu argumentieren. Polemik schafft keine Arbeitsplätze und hilft nicht weiter. Kommen Sie endlich zu sachlichen Entscheidungen!
Meine Damen und Herren, es wird ja oft so dargestellt, als liege der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht im deutschen Interesse. Ich sage ausdrücklich: Er liegt im ureigenen Interesse der Menschen in unserem Land.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist kein Selbstzweck und keine nutzlose Selbstverpflichtung, die sich einfach aufkündigen lässt. Er soll vielmehr solide Staatsfinanzen, niedrige Zinsen und niedrige Inflationsraten bewirken.
An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Die Zinsen und die Preissteigerungsraten sind in ganz Europa aufgrund des Paktes und der Vorbereitung der Länder auf den Vertrag und auf den Beitritt zur Eurozone niedrig. Deshalb war der Stabilitäts- und Wachstumspakt nach meiner Einschätzung bisher ein Erfolg.
Nicht der Pakt ist das Problem, sondern die prinzipienlose Verschuldungspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung. Damit wurden die Dämme eingerissen.
Nicht der Pakt hat versagt, sondern die Finanz- und Haushaltspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung.
Wo stehen wir denn heute? Wir hatten am Ende des vergangenen Jahres eine Gesamtverschuldung in Höhe von 1 400 Milliarden Euro. Jedes in Deutschland neu geborene Kind hat 17 000 Euro Schulden. Sie haben es zu verantworten, dass im letzten Jahr pro Kopf 1 000 Euro neue Schulden hinzugekommen sind. Die Grünen treten zwar für eine nachhaltige Politik ein, sind aber mit dafür verantwortlich, dass jedem Menschen im Laufe eines Jahres 1 000 Euro neue Schulden aufgebürdet wurden. Diese Politik hat nichts mit Nachhaltigkeit und einer soliden Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu tun.
Jetzt wird behauptet, der Pakt dürfe nicht mechanisch, sondern müsse flexibel angewendet werden. Ausgehend von einem ausgeglichenen Staatshaushalt können wir in konjunkturell schwachen Zeiten 60 Milliarden Euro Schulden pro Jahr machen und würden uns trotzdem noch innerhalb der Grenzen dieses Paktes bewegen. Angesichts der Meinung, dass dieser Rahmen zu eng sei, muss ich fragen: Wie viel Flexibilität braucht diese Bundesregierung noch? Wie viele Schulden pro Jahr wollen Sie oberhalb der 60-Milliarden-Euro-Grenze zukünftig machen? Wo bleibt Ihre Verantwortung für künftige Generationen? Die Antwort ist relativ einfach – auch die Europäische Kommission und die OECD sind dieser Meinung –: Sie haben in guten Zeiten zu wenig konsolidiert. Deshalb läuft das Ganze nun aus dem Ruder.
Sie hätten lernen müssen, Herr Tauss, dass man in guten Zeiten Geld beiseite legt.
Die Aussage, Rot und Grün könnten nicht mit Geld umgehen, trifft also den Nagel auf den Kopf.
Lassen Sie mich zum Schluss feststellen. Die Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung ist gescheitert. Der Finanzminister ist gescheitert und traut sich nicht mehr in den Deutschen Bundestag. Die Bundesregierung hat nicht die Kraft, zu konsolidieren und eine zukunftsfähige Politik für die Menschen umzusetzen. Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt muss unverändert beibehalten werden. Er liegt im Interesse der Menschen; denn er schützt sie vor einer falschen Politik von Rot-Grün.
Vielen herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zur Erläuterung will ich sagen, dass Bundesfinanzminister Eichel die Absicht hatte, heute hier zu sprechen. Aber er ist krank und hat mich gebeten, statt seiner hier zu sein. Ich bin zwar nicht völlig gesund,
aber immer noch gesünder als Herr Eichel; denn er liegt sozusagen flach und ich kann noch aufrecht stehen.
Herr Kollege Meister, Sie haben einen Popanz aufgebaut.
Sie behaupten nämlich, die Bundesregierung plane, ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm aufzulegen. Nachdem Sie diese Behauptung aufgestellt hatten, haben Sie die Bundesregierung minutenlang für diese vorgebliche Absicht geprügelt. Keine Sorge: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm aufzulegen. Diesen Teil der Rede hätten Sie sich schenken können. Sinnvollerweise lassen Sie ihn aus dem Protokoll streichen, weil er mit der Realität nichts zu tun hat.
Sie sagen ferner – diese Aussage war bei den Konservativen schon immer beliebt –, Sozialdemokraten könnten nicht mit Geld umgehen.
– Das war schon immer falsch, Herr Kollege Willsch.
Sie wissen ja, dass das Statistische Bundesamt in dieser Woche die Zahl revidiert hat, die für das kürzlich zu Ende gegangene Jahr 2004 die Überschreitung des Maastricht-Kriteriums darstellt. Das Statistische Bundesamt war noch im Januar der Auffassung, dass wir bei 3,9 Prozent landen würden; zu Beginn dieser Woche hat es gesagt, wir lägen bei 3,7 Prozent.
Das ist natürlich nicht zufriedenstellend. Dies ist weiter eine Überschreitung des 3ProzentKriteriums.
Ich darf dazu noch Folgendes anführen: Die Staatsquote ist im vergangenen Jahr, im Jahr 2004, im Verhältnis zu 2003 um 1,3 Prozentpunkte zurückgegangen. Wäre das jemals zu Ihrer Regierungszeit geschehen, hätten Sie Fackelzüge veranstaltet.
– Nein, das liegt nicht daran. Das hat vielmehr damit zu tun, dass es beim Bund, bei den meisten Ländern – wenn auch nicht bei allen – und bei vielen Kommunen eine äußerst restriktive Konsolidierungslinie gibt, während die Einnahmen leider nicht konstant waren,
was aber übrigens nicht nur mit konjunkturellen Bedingungen zu tun hatte, sondern auch mit der entsprechenden Steuerreformstufe. 0,5 Punkte der genannten 1,3 Prozentpunkte sind auf die Steuersenkung zurückzuführen. Dies ist also eine bewusste Politik, eine Politik, die wir so induziert haben.
Der Einbruch bei den Einnahmen hat es nicht erlaubt, das Maastricht-Kriterium einzuhalten. Wir wären nämlich sonst, vor dem Hintergrund dieser wirklich restriktiven Ausgabenlinie, bei 2,5 Prozent gelandet. Damit wären wir noch immer nicht richtig glücklich, hätten aber immerhin unter dem 3ProzentKriterium gelegen. An der Ausgabenseite hat es also nicht gelegen.
Sie behaupten immer, die Sozis könnten nicht mit Geld umgehen. Damit ist induziert – das wollen Sie damit zum Ausdruck bringen –: Die schmeißen das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Nein, wir haben eine äußerst restriktive Ausgabenpolitik gemacht. Die Einnahmen sind in der Tat nicht zufriedenstellend gewesen; das will ich nicht bestreiten.
Herr Kollege Meister, dieser Popanz, den Sie hier aufgebaut haben,
soll nach meinem Dafürhalten von Ihrem Antrag ablenken, der heute zur Abstimmung steht. Denn in diesem Antrag steht nichts anderes, als dass die Bundesregierung nicht in Brüssel verhandeln soll. Die soll dort toter Mann spielen.
Die soll da gar nicht reden. Das ist der Gegenstand Ihres Antrags. Sie haben heute schamhaft verschwiegen, dass das der Gegenstand Ihres Antrages ist.
Man kann natürlich Nebenkriegsschauplätze aufbauen,
weil man sich dann doch ein bisschen dafür schämt, was man vor wenigen Monaten zu Papier gebracht hat. Deswegen haben Sie hier über ganz andere Dinge gesprochen und nicht über Ihren Antrag.
Ganz vorsichtig will ich noch auf die Behauptung eingehen, die Union habe ein Steuervereinfachungskonzept und ein Konzept zur Senkung der Unternehmensteuern vorgelegt.
Das finde ich nun wirklich interessant. Ich glaube, für beides gibt es nur ein leeres Blatt.
Denn Sie haben noch überhaupt nichts zu Papier gebracht.
– Das Konzept 21 stand vor wenigen Wochen hier im Deutschen Bundestag in einer Anhörung des Finanzausschusses zur Debatte und ist von allen Sachverständigen
ob seiner Unzulänglichkeit – um es vorsichtig auszudrücken; man könnte auch ganz andere Worte wählen – zurückgewiesen worden.
Die Sachverständigen haben darauf hingewiesen, dass Sie die Fragen zur Unternehmensbesteuerung völlig ausgeblendet haben. Genau das war der Gegenstand dieser Anhörung.
Dann kommen Sie mit Worten wie „Pakt für Deutschland“, wovon Sie seit zwei Wochen reden. Das einzige Konkrete daran ist der weitere Abbau der Arbeitnehmerschutzrechte. Das sind alte Hüte, von denen Ihr früherer Kollege Norbert Blüm sagt, er warte noch immer auf die Wirksamkeit dieser Maßnahmen, die er schon damals ergriffen habe.
– Lieber Heinz, ich bin doch ganz ruhig.
– Nein, das finde ich gar nicht.
– Hat denn Herr Meister irgendetwas zum Stabilitätspakt gesagt? Ich könnte hier natürlich meine Rede auch vorlesen; aber ich gehe jetzt auf Herrn Meister ein.
– Ich bitte Sie! Ich kann Ihnen diese Rede meinetwegen sofort zu Protokoll geben, damit Sie sie nachlesen können. – Herr Meister hat keinen Ton zum Stabilitätspakt gesagt,
sondern mit unwahren Behauptungen potemkinsche Dörfer aufgebaut, damit er sie anschließend wieder kurz und klein schlagen kann. Das kann ich doch nicht einfach so stehen lassen.
Für die Bundesregierung ist und bleibt klar – das sage ich, damit Sie zufrieden sind –: Wir brauchen den Stabilitäts- und Wachstumspakt.
– Darf ich jetzt vielleicht zu Ende reden? Sie haben mich doch gerade danach gefragt. – Wir werden uns in Europa auch weiterhin dafür einsetzen, dass er den jeweiligen Gegebenheiten gerecht werden kann, indem er in den Einzelstaaten und in der Gesamtheit der europäischen Staaten eine sinnvolle Finanzpolitik ermöglicht, und dass er auch in Zukunft angewandt wird.
„3,0 ist 3,0“ – diese Formulierung von Herrn Waigel war schon immer etwas zu schlicht. Wie Sie wissen, hat der zuständige Kommissar Almunia gesagt,
die bisherige Handhabung des Paktes habe einige Mitgliedsländer geradezu in die Rezession getrieben.
– Natürlich nicht alle Länder, aber so ist das Zitat von Almunia. – Dies kann natürlich nicht Gegenstand oder sinnvolles Ergebnis eines europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes sein. Vor diesem Hintergrund bekennt sich die Bundesregierung weiterhin zu ihm.
Wir werden alles tun,
und zwar nicht nur wegen unserer europäischen Verpflichtungen, sondern auch aufgrund der Verpflichtungen, die sich aus unserer eigenen Verfassung ergeben, bei der Konsolidierung der Haushalte weiter voranzuschreiten. Wir werden weiterhin eine sehr restriktive Ausgabenpolitik fahren.
Wir werden das Geld natürlich nicht mit vollen Händen ausgeben und auch keine Strohfeuer zünden, wie Sie, Herr Meister, es befürchtet haben. Wir müssen darauf achten, dass die finanzpolitischen Maßnahmen der jeweiligen Situation angemessen sein dürfen und können. Dies sollte im Interesse des ganzen Hauses liegen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas Pinkwart von der FDP-Fraktion.
Dr. Andreas Pinkwart (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum dritten Mal in Serie führen wir eine Debatte zu diesem Thema ohne den Finanzminister; heute krankheitsbedingt – meine Fraktion übermittelt Genesungswünsche an den Finanzminister –, zweimal zuvor aber aus anderen Gründen. Zum dritten Mal in Serie hören wir von den Vertretern des Finanzministeriums zum eigentlichen Anliegen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes überhaupt nichts. Das Parlament wird für dumm verkauft.
Das Stichwort Unternehmensteuerreform, Frau Staatssekretärin, ist in der Tat bemerkenswert: Sie verkünden in Ihren großen Reden hier, Sie hätten zum 1. Januar 2005 die tollste Steuerreform aller Zeiten umgesetzt, und drei Wochen nach Inkrafttreten dieser so tollen Steuerreform erzählt Ihr Bundeswirtschaftsminister dem deutschen Volk, dass das alles nichts tauge und dringend eine Unternehmensteuerreform in Deutschland umgesetzt werden müsse. Sie sind dafür federführend zuständig und legen diesem Haus überhaupt nichts dazu vor.
Nun zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es ist doch nicht so, dass das 3-Prozent-Kriterium Sie gehindert hätte, das Richtige für Deutschland zu tun. Sie haben es drei Jahre hintereinander mehr als überzogen: 2002 3,6 Prozent, 2003 3,9 Prozent und im vergangenen Jahr 3,7 Prozent. Sie haben die Obergrenze weit überschritten und trotzdem nicht mehr Beschäftigung und Wachstum geschaffen, wie Sie es der Öffentlichkeit suggerieren wollen, sondern mehr Arbeitslosigkeit, mehr Schulden und weniger Wachstum hervorgebracht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, die wir hier zu kritisieren haben.
Trotz alledem melden Sie nach Brüssel für dieses Jahr 2,9 Prozent.
Um auf diese Zahl zu kommen, haben Sie am Haushalt viele Reparaturen vornehmen müssen. Die EU-Kommission hat Ihre Maßnahmen als weder nachhaltig noch strukturverbessernd kommentiert. Sie haben eine Neuverschuldung von 2,9 Prozent gemeldet, um Strafzahlungen abzuwenden. Wären Sie sich sicher, das 3-Prozent-Kriterium wenigstens in diesem Jahr erfüllen zu können, würden Sie sich nicht seit Monaten maßgeblich darum kümmern, die Sanktionsmechanismen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auszuhebeln.
In Wahrheit haben Sie Ihren kleinen Risikopuffer in Höhe von etwas mehr als 2 Milliarden Euro schon in den ersten Wochen dieses Jahres faktisch verbraucht. Aus den aktuellen Zahlen zum ALG II ergibt sich eine zusätzliche Haushaltsbelastung von 6 bis 7 Milliarden Euro. Der Bundesbankgewinn ist viel zu hoch angesetzt. Die Haushaltsrisiken im steuerlichen Bereich betragen insgesamt 10 Milliarden Euro. All das bedeutet, dass Sie den Risikopuffer in den ersten Wochen dieses Jahres schon mehrfach verspielt haben. In Wahrheit erwarten Sie für das laufende Jahr eine Neuverschuldung von mindestens 3,4 Prozent. Das ist die Wahrheit, die Sie hier vortragen müssten.
Weil Sie befürchten, dass in Brüssel im Wahljahr 2006 die Quittung für diese verfehlte Politik ausgestellt wird und dass eine Strafzahlung auf Sie zukommen wird, versuchen Sie jetzt, die Regeln auszuhebeln.
Das ist doch die Wahrheit. Um Ihre Politik der Beliebigkeit fortzusetzen, verfahren Sie frei nach dem Motto: Wenn die Regeln nicht passen, werden sie passend gemacht.
Der Bundeskanzler persönlich setzt dem Ganzen die Krone auf. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“: Der Bundeskanzler
will eine Einigung über den Stabilitätspakt erkaufen, indem er die deutschen Milliardenbeträge an die EU-Kasse aufstockt.
Der Kanzler und der Finanzminister wollen also zweierlei: erstens den Stabilitätspakt zulasten des Wohlstandes dieser und der nachfolgenden Generation aufweichen und die Schleusen für die Staatsverschuldung weiter öffnen, zweitens die anderen Staaten damit locken, dass Deutschland ab dem Jahr 2007 die ohnehin sehr hohen Beiträge an die EU um weitere 5 bis 7 Milliarden Euro erhöht.
Sie wollen einen doppelten Preis für Ihre verfehlte Politik bezahlen. Das ist die Wahrheit.
Jetzt komme ich auf einen sehr bemerkenswerten Punkt – ich habe ihn gestern Nachmittag bereits im Haushaltsausschuss vorgetragen –: Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat die Regierung in einem einstimmigen Beschluss,
der erst vor wenigen Wochen gefasst worden war, aufgefordert, bei der 1ProzentLinie zu bleiben.
Die Diskussion endete damit, dass der Vertreter Ihres Hauses, Ihr Staatssekretär, dieserlei Zusammenhang oder Junktim – man könnte auch sagen: Kuhhandel – nicht dementiert hat. Es hieß dann lediglich: Dazu werde der Finanzminister heute Stellung nehmen und mögliche Bedenken ausräumen.
Er ist heute krankheitsbedingt nicht anwesend – Sie, Frau Staatssekretärin, haben dazu nichts, aber auch gar nichts gesagt –
und der Bundeskanzler, der diesen Kuhhandel offensichtlich einfädelt, fehlt ebenfalls.
Herr Carstens, der Ausschussvorsitzende, hat treffend festgestellt: Natürlich kann eine Regierung am Ende von Verhandlungen von der Vorgabe des Parlaments abweichen; aber sie darf, wenn es keine entsprechende Rückkopplung mit dem Parlament gegeben hat, nicht bei Aufnahme von Verhandlungen von Vorgaben des Parlaments abweichen.
Deshalb sage ich: Hier wird eine Politik betrieben, die das Parlament – auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen – nicht mehr ernst nimmt.
Entweder lassen Sie sich von der Regierung am Nasenring führen oder es handelt sich um eine gezielte Vernebelungstaktik der Regierung und der sie tragenden Fraktionen. Ich jedenfalls sage: Wir werden uns weder von der Regierung am Nasenring führen lassen noch uns von Ihrer Vernebelungsaktion beeinflussen lassen. Deswegen sage ich für meine Fraktion ganz klar: Gestern wurde zugesagt, dass der Bundesfinanzminister heute definitiv Auskunft gebe. Das ist nicht geschehen.
– Er ist krank. Das habe ich eingangs gesagt, Frau Scheel. Ich wünsche ihm beste Genesung! Das nehmen wir sehr ernst.
Aber die Frau Staatssekretärin hat ihn vertreten und ihren Auftrag nicht erfüllt.
Auch der Bundeskanzler ist nicht anwesend.
Ich erwarte eine endgültige Klarstellung, dass die Regierung weiterhin auf Basis des Beschlusses des Haushaltsausschusses handelt. Solange dies nicht klargestellt ist, erwarten wir vom Bundesfinanzminister – das kündige ich hiermit an – in einer Sondersitzung des Haushaltsausschusses persönlich Auskunft, bevor er, hoffentlich dann wieder genesen, zur nächsten Ecofin-Ratssitzung fährt. Wir können doch keine solche Politik der Beliebigkeit zulassen, die gegen die Interessen unseres Landes gerichtet ist. Wir jedenfalls werden Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Staatssekretärin Dr. Hendricks das Wort.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen:
Herr Kollege Pinkwart, ich will das gerne aufnehmen. Mir ist zwar gesagt worden, dass mein Kollege beamteter Staatssekretär Ehlers gestern gesagt hat, er wolle zu Ihrer Frage zum Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ nicht Stellung nehmen. Aber mir ist nicht übermittelt worden, dass zugesagt worden ist,
dass der Minister das heute – bzw. in seiner Vertretung ich – das erledigen sollte. Das will ich gerne nachholen:
Selbstverständlich ist es das Ziel der Bundesregierung, am 1-Prozent-Ziel für den europäischen Haushalt, bezogen auf das Bruttonationaleinkommen, festzuhalten. Sie wissen, die Initiative dazu ist nicht zuletzt von Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit fünf anderen Regierungschefs, insbesondere aus Ländern Nordwesteuropas, ausgegangen. Selbstverständlich verhandelt die Bundesregierung auf dieser Basis. Dass das schwierig ist, dass die Interessenlage andernorts anders ist, ist klar. Unter der Hand sagt die Bayerische Staatsregierung in Brüssel sogar: „Machen wir doch lieber 1,27 Prozent, damit wir ein bisschen mehr in den Strukturfonds haben.“
Das ist wirklich eine kluge Rechnung: Wir geben zwei Euro nach Europa, damit wir einen Euro nach Bayern zurückbekommen!
Ich sage Ihnen: Wir verhandeln auf der Basis des 1-Prozent-Ziels. Das bedeutet, dass der Bruttobeitrag der Bundesrepublik Deutschland am EU-Haushalt allein wegen der Entwicklung, die für 2007 bis 2013 zu erwarten ist, bei einem 1Prozent-Beitrag von derzeit rund 22 Milliarden Euro auf etwa 33 Milliarden Euro steigen würde. Dies finden wir als Perspektive für den europäischen Haushalt völlig ausreichend. Wir sehen nicht, dass nationale Haushalte, sei es im Bund oder in den Ländern, auf absehbare Zeit eine solche Perspektive haben.
Herzlichen Dank.
– Wir verhandeln nicht anders! Es muss ja nicht die Wahrheit sein, was in der „Süddeutschen Zeitung“ steht; deswegen weise ich das noch einmal ausdrücklich zurück.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zur Erwiderung Professor Pinkwart.
Dr. Andreas Pinkwart (FDP):
Frau Staatssekretärin, Sie haben aus Ihrer Sicht eine Verhandlungslinie aufgezeigt und sie gleichzeitig relativiert. Sie haben für die Regierung aber nicht die Feststellung des Bundeskanzlers zu dieser Linie dementiert.
Ich erwarte hier ein klares Dementi für die Regierung,
da bisher kein öffentliches Dementi der Regierung in dieser Sache erfolgt ist. Es muss ein klares Dementi kommen, dass Sie in Ihren Verhandlungen keinen Zusammenhang zwischen den Kriterien für die Auslösung der Sanktionsmechanismen des Stabilitätspaktes und der 1-Prozent-Linie herstellen. Ein solches Dementi haben Sie eben nicht vorgetragen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von Bündnis 90/Die Grünen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Staatssekretärin hat gerade sehr klar und eindeutlich auf die Nebelkerzen geantwortet, die die FDP hier geworfen hat.
Ich möchte jetzt ganz kurz auf das eingehen, was Herr Dr. Meister gesagt hat. Er hat hier wieder den Anspruch formuliert – das macht die CDU/CSU bei fast jeder Gelegenheit –, man solle in diesem Land doch bitte schön Strukturreformen durchführen, und zwar vor allen Dingen Steuersenkungen im Unternehmensbereich. Er sagte, die Union habe ein Konzept dafür. Dieses Konzept hat aber noch niemand gesehen. Es gibt zwar eine Überschrift, die immer wieder nach vorne getragen und überall verkündet wird, was das aber inhaltlich bedeutet, weiß niemand. Jedenfalls wissen wir, dass alle Vorschläge, die bislang von der Union und übrigens auch von der FDP gekommen sind, das völlige Gegenteil dessen bewirken würden, was wir unter der Einhaltung des Wachstums- und Stabilitätspaktes verstehen.
Es ergäben sich nämlich Einnahmelücken, die die ganze Problematik, in der wir stecken, verstärken und verschärfen würden, statt die Situation zu verbessern.
– Sie haben sehr widersprüchliche Vorschläge.
Ich möchte Ihnen von dieser Stelle aus einmal sagen: Sie legen immer nur Papiere vor – Zehn-Punkte-Programme, Fünf-Punkte-Programme, Sieben-Punkte-Programme – und sagen, das sei die Lösung des Problems für den Standort Deutschland und führe zu mehr Beschäftigung. Wenn wir uns dann aber über einzelne Punkte mit Ihnen unterhalten und genauer nachhaken, dann stellen wir jedes Mal fest, dass Sie sich ständig in Widersprüchlichkeiten verstricken, dass Sie bei keinem Punkt wissen, wie er mit den anderen Punkten zusammenpasst, und dass Sie nur Luftblasen aufsteigen lassen, die bei einer Konkretisierung platzen. So kann man keine Politik für dieses Land machen.
Sie wissen auch ganz genau, dass wir eine wesentlich geringere Nettokreditaufnahme und eine andere Haushaltssituation in diesem Land hätten, wenn Sie alle Vorschläge zum Subventionsabbau in den letzten Jahren nicht mit Ihrer schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat blockiert hätten.
Deswegen liegt hier ein Stück Verantwortung sehr wohl natürlich auch bei Ihnen; das wissen Sie auch.
Bevor ich zum Wachstums- und Stabilitätspakt komme, möchte ich noch Folgendes sagen: Die Probleme, die wir in diesem Land zu bewältigen haben, dürfen keinesfalls schöngeredet werden. Mehr als 5 Millionen arbeitslose Menschen sind etwas sehr Bedrückendes; jeder arbeitslose Mensch, der arbeiten will und keine Arbeit findet, ist einer zu viel.
Aber wenn Sie die Lage permanent nur schwarzreden,
dann schaden Sie diesem Land mehr, als Sie ihm nutzen. Wie schaut denn das Ausland auf Deutschland? Das versteht doch die Welt nicht mehr. Wir sind international wirtschaftspolitisch relativ gut aufgestellt und hören immer nur Ihre Ansagen, es sei alles furchtbar. Wie wollen Sie ausländische Investoren mit diesen Ansagen nach Deutschland bringen?
Diese Politik nutzt unserem Land nicht, sondern schadet ihm.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt zwei erfreuliche Nachrichten seitens des Statistischen Bundesamtes:
Erstens. Im Jahre 2004 hatten wir ein um 0,2 Prozent niedrigeres gesamtstaatliches Defizit als vorher berechnet. Es beträgt nunmehr 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Zweitens. Neben dem Bundesfinanzminister erwartet nun auch die Bundesbank, dass die Bundesrepublik Deutschland das 3Prozent-Defizitkriterium des Stabilitätspaktes in diesem Jahr einhalten kann.
Das ist also keine Ansage vonseiten der Bundesregierung oder des Bundesfinanzministeriums. Diese Erwartung trägt die Bundesbank mit. Wir sind sehr froh, dass wir mit unseren Analysen richtig liegen und sich andere unseren Bewertungen anschließen.
Ich hoffe sehr, dass diese Prognose Realität wird.
Nach mehreren Jahren der Stagnation und der Überschreitung des 3-Prozent-Defizitkriteriums befinden sich neben Deutschland und Frankreich noch mehrere europäische Länder im Defizitverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Vor dem Hintergrund der realen konjunkturellen Entwicklung und der bereits eingeleiteten Defizitverfahren wird eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im EU-Ministerrat verhandelt – nicht mehr und nicht weniger.
Der Pakt ist im Realitätstest des Konjunkturverlaufs in sehr schweres Fahrwasser geraten. Dem Pakt liegen theoretische Annahmen zugrunde, die sich in der Realität als nur sehr begrenzt tauglich erwiesen haben.
Im Zentrum der Reform stehen deshalb Überlegungen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner Anwendung den realen Konjunkturverläufen anzupassen,
ohne die Sanktionsmechanismen der EU-Kommission gegenüber den Nationalstaaten aufzugeben. Ich betone: Die beiden wesentlichen Kriterien für die Messung der fiskalischen Lage einer Volkswirtschaft bleiben unangetastet. Sowohl das 3-Prozent-Defizitkriterium als auch das 60-Prozent-Kriterium der Gesamtverschuldung bleiben unangetastet.
Das ist der erklärte Wille des Bundeskanzlers und des Bundesfinanzministers.
Nach dem Willen der EU-Kommission soll dem Schuldenstand und damit der Nachhaltigkeit
bei der haushaltspolitischen Überwachung mehr Gewicht gegeben werden. Diesen Willen unterstützen wir, weil der Gesamtschuldenstand in manchen Ländern sehr hoch ist und mehr oder weniger alle europäischen Länder wegen der demographischen Entwicklung erhebliche Probleme mit der impliziten Staatsverschuldung im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme haben oder bekommen werden. Das wissen wir und das wissen auch Sie. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie sich diesem Prozess derartig verweigern, wie Sie es derzeit tun.
Leider hat Deutschland mit einer Gesamtverschuldung von 66 Prozent gegen das 60-Prozent-Kriterium verstoßen. Das braucht man nicht schönzureden.
Das ist ein Problem. Alle Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 sollen dazu beitragen, die Gesamtverschuldung zurückzuführen und das 3-Prozent-Defizitkriterium wieder einzuhalten.
Strukturpolitische Maßnahmen wie die Rentenreform, die Gesundheitsreform oder die Arbeitsmarktreformen
entwickeln ihre Wirkungen mit zeitlichen Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass bei der Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes verwirklichte Strukturreformen berücksichtigt werden sollen, die nachweislich – das betone ich – nachhaltige Wirkungen haben; denn damit dokumentiert man, dass man für eine nachhaltige Struktur- und Finanzpolitik steht.
Richtig ist auch, dass Investitionen in die Zukunft, also in Forschung und Bildung, berücksichtigt werden. Das sind wir den kommenden Generationen schuldig.
Wir sind jedoch der Meinung, dass es eine lange Liste von Ausnahmeregelungen bei der Beurteilung des Defizits eines Landes nicht geben sollte.
Die Kriterien sollen in ihrer Anwendung vergleichbar sein.
Rückblickend ist festzustellen, dass dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ein eher mechanistisches Bild von Konjunkturverläufen zugrunde lag.
Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass die Definition einer scharfen Rezession – Wachstumsraten von minus 2 Prozent – zugunsten der Klarstellung aufgegeben wird, dass ein befristetes Überschreiten der Defizitobergrenze von 3 Prozent künftig generell bei negativen Wachstumsraten zulässig sein kann.
Damit wird der Erfahrung Rechnung getragen, Herr Professor Pinkwart, dass bereits eine Stagnationsphase im Konjunkturverlauf ein Überschreiten der Defizitkriterien nach sich ziehen kann.
Die Kritik von CDU/CSU und FDP an der Reform des Paktes ist ohnehin völlig realitätsfremd. Denn ob das Defizit am Ende eines Jahres bei 3,1 Prozent oder bei 2,9 Prozent – ein Wert, mit dem man das Kriterium eingehalten hätte –
liegt, das gibt überhaupt keine Auskunft über die wirtschaftliche Lage der jeweiligen Volkswirtschaft. Es sind andere Kriterien, die über die wirtschaftliche Lage einer Volkswirtschaft Auskunft geben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Scheel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Pinkwart?
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Pinkwart.
Dr. Andreas Pinkwart (FDP):
Frau Scheel, Sie sagen, dass man in rezessiven Phasen über die 3-Prozent-Grenze hinausgehen könne. Wie bewerten Sie konjunkturpolitisch das vergangene Jahr, dessen statistische Werte uns jetzt vorliegen? Wir hatten ein Wachstum von 1,6 Prozent. Sie haben das Maastricht-Kriterium mit 3,7 Prozent deutlich verfehlt. Im laufenden Jahr stoßen Sie an die Grenze von 3 Prozent, die nach Ihrer Interpretation die maximale Obergrenze darstellt.
Andere sehen uns deutlich über 3 Prozent. Die Bundesregierung geht von einem Wachstum von 1,6 Prozent aus. Trotzdem wird die Obergrenze komplett ausgereizt. Wie hoch soll denn dann noch die Neuverschuldung gemessen am BIP sein, wenn Sie in die nächste Rezession hineinkommen sollten?
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Professor Pinkwart, die strukturelle Schwierigkeit, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben,
ist die, dass die Beschäftigungsschwelle bei einem Wachstum von etwa 1,9 Prozent liegt.
Das heißt, wenn das Wachstum unter 1,9 Prozent liegt, haben wir weniger Steuereinnahmen, höhere Arbeitslosigkeit und damit höhere Ausgaben für den Staat.
Wir haben, um genau diese Problematik anzugehen, strukturelle Reformen gemacht.
Ich habe die Rentenreform und andere Reformen, die bereits gemacht worden sind, angesprochen.
Diese führen im Ergebnis dazu, dass die Beschäftigungsschwelle ein Stückchen sinkt.
Deswegen kann es passieren, dass man in Zeiten, in denen es wirtschaftlich zwar etwas nach vorne geht, die Strukturreformen aber noch nicht so wirken, über die 3-Prozent-Grenze schwappt, obwohl man vernünftig aufgestellt ist. Das ist der Punkt, auf den ich eigentlich verweisen wollte. Die Tatsache, dass das Defizit knapp über oder knapp unter 3 Prozent liegt, sagt nichts darüber aus, ob unsere Volkswirtschaft dazu in der Lage ist, eine nachhaltige Finanzpolitik im Sinne des Wachstums- und Stabilitätspakts zu erreichen. Es sind vielmehr die strukturellen Fragen, die entscheidend sind. Es ist eine qualitative Bewertung notwendig.
Die qualitative Bewertung soll über die Reformdiskussion, die auf europäischer Ebene derzeit geführt wird, erfolgen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Scheel, die Fragen und Antworten sollten kurz und präzise sein. Wir sind hier nicht im Seminar. Es wäre zwar notwendig, aber es ist leider nicht so.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin über Ihre Einschätzung froh, dass ich einen großen Beitrag zur Aufklärung geleistet und dazu beigetragen habe, dass die Union und die FDP die wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen und gesamtstaatlichen Vorgehensweisen verstehen. Es freut mich sehr, dass mir das gelungen ist.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Die Redezeit ist gleich vorbei. Das, was überhaupt nicht mehr diskutiert wird, ist die Frage, warum eigentlich der Wachstums- und Stabilitätspakt eingeführt worden ist. Er ist deswegen eingeführt worden, weil wir eine stabile Währung wollten,
auch im Hinblick auf Leistungsbilanzdefizite und Haushaltsdefizite in den USA. Der Wert des Euro hat sich gegenüber dem Dollar erhöht. Der Euro wird verstärkt als Reservewährung gehalten. Europa hat sich eine stabile, wertbeständige Währung gegeben. Das muss man sehen. Das war der Grund, warum der Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeführt worden ist: Man wollte eine stabile Währung in Europa.
Die Debatte, die wir jetzt über das Defizitkriterium und darüber führen, ob man die Defizitkriterien realitätstauglicher gestalten soll, hat damit zu tun. Aber das ursprüngliche Ziel, eine Währung im gesamten Euroraum mit dieser wunderbaren Stabilität zu schaffen, ist erreicht. Dieses Ziel wird auch in der Zukunft weiterhin umgesetzt.
Darauf muss man immer wieder verweisen. Die Frage, ob das Kriterium von 3 Prozent überschritten wird oder nicht, ist zwar eine wichtige Frage – das will ich nicht in den Hintergrund drängen –, aber wir wollen auch alles tun, um den konjunkturellen Aufschwung zu stärken. Wir wollen alles tun, um die Binnennachfrage anzukurbeln –
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Scheel, Ihre Redezeit ist schon lange abgelaufen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– und im Rahmen dessen den Konsolidierungspfad weiter zu beschreiten.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon von der CDU/CSU-Fraktion.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass Rot-Grün in allen Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik und der Haushalts- und Finanzpolitik nach der Methode „Haltet den Dieb!“ vorgeht, ist keine Überraschung. Aber dass Sie, Frau Staatssekretärin, in der Frage der finanziellen Perspektive der Europäischen Union Äußerungen der Bayerischen Staatsregierung heranziehen, ohne Ross und Reiter zu nennen, schlägt dem Fass den Boden aus.
Insofern fordere ich Sie auf: Entweder Sie nennen Ross und Reiter oder Sie nehmen diese Aussage zurück! Es gibt keine Zielrichtung der CDU und der CSU und der von ihnen getragenen Landesregierungen in Deutschland, einer Erhöhung des europäischen Haushalts zuzustimmen.
Ich will in Erinnerung rufen, dass es bei diesem Tagesordnungspunkt um ein zentrales Thema geht.
Der Deutsche Bundestag hat am 2. Dezember 1992, also vor etwas mehr als zwölf Jahren, nahezu einstimmig – 543 von 568 abgegebenen Stimmen waren dafür; auch die Abgeordneten der SPD- und der grünen Fraktion haben zugestimmt; nur die Kommunisten waren dagegen – folgenden Beschluss gefasst:
Der Deutsche Bundestag nimmt die Besorgnis in der Bevölkerung über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung ernst. ... Der Deutsche Bundestag wird sich jedem Versuch widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind.
Deshalb müssen wir diese Debatte im Parlament führen.
Der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in einem „Spiegel“-Interview vom 24. Februar 1997 verkündet:
Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, die den Maastricht-Vertrag noch ernst nehmen. ... Ich will, dass die Stabilitätskriterien strikt eingehalten werden. ... Die Europäische Kommission soll darüber wachen, dass die Fiskalpolitik der Einzelstaaten nicht aus dem Ruder läuft.
Wir haben es doch hier mit einer galoppierenden Schizophrenie zu tun!
Wenn es keine Schizophrenie ist, dann ist es zumindest Gedächtnisverlust.
Die Wahrheit liegt doch ganz woanders: Der Kanzler und sein Erfüllungsgehilfe Hans Eichel haben sich nach sechs Jahren Regierungsverantwortung in Sachen Haushalts- und Fiskalpolitik als unfähig erwiesen
und wollen nun dem einzigen noch verbliebenen Kontrollinstrument solider Haushaltspolitik, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, den Garaus machen.
Im internationalen Umfeld liest es sich wie Kabarett: Erst initiiert Deutschland den Stabilitätspakt zum Schutz der gemeinsamen Währung. Dann möchte eben dieses Land die Regeln des Euros mit aller Gewalt wieder streichen und zum krönenden Abschluss behaupten die Beteiligten auch noch allen Ernstes, dass der Pakt durch die Änderungen gestärkt wird. Über diese politische Darstellung lacht ganz Europa.
Das Gegenteil ist der Fall: Durch Ihre Forderungen wird der Pakt nicht gestärkt, sondern massiv geschwächt. Sie machen den Bock zum Gärtner und schicken uns dann auch noch einen wirtschaftspolitischen Geisterfahrer in die Anhörung, der behauptet, der Pakt sei tot. Gleichzeitig stimmt die Bundesregierung auf der Grundlage des Pakts dem Defizitverfahren gegen Griechenland zu. In Deutschland herrscht in der Tat eine galoppierende Schizophrenie.
Man muss sich auch einmal im Detail mit den Forderungen, die der Bundesfinanzminister schriftlich an den EU-Ratspräsidenten gerichtet hat, auseinander setzen. Erstens wird die Einrechnung von Sonderlasten wie der deutschen Einheit gefordert. Die Wiedervereinigung ist 15 Jahre her. Sie kommen wirklich früh darauf, die Einrechnung der Sonderlasten der deutschen Einheit beim europäischen Stabilitätspakt zu fordern.
Zweitens fordern Sie die Anrechnung der Nettozahlungen an die EU. Lieber Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, wo bleiben denn dann die Nettoerträge? Bei einer ordentlichen Buchhaltung ist es doch das Mindeste, dass nicht nur die Einnahmen, sondern auch die Ausgaben mit eingerechnet werden.
Drittens verlangen Sie, dass Strukturreformen im Sozial-, Arbeits- und Steuerbereich ebenso anerkannt werden sollen wie viertens Ausgaben für Innovation, Forschung und Entwicklung oder fünftens Investitionen in Humankapital. Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt; denn Sie wollen die Kosten für den Beamtenapparat, den Sie zusätzlich erweitern wollen, herausrechnen und so die Last des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts verringern. Das können wir nicht mitmachen.
Sie wollen sechstens die konjunkturelle Entwicklung und siebtens den Beitrag eines Mitgliedstaates zur Stabilität des Währungsraums berücksichtigt wissen.
Sie haben die gestrige Debatte nach dem Motto geführt: Der Stabilitätsanker Deutschland gilt noch, weil unsere Inflation im Vergleich zum europäischen Durchschnitt so gering ist. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, das lernt man in der Volkswirtschaftslehre schon im ersten Semester: Wenn man einen einheitlichen Währungsraum mit starken und schwachen Volkswirtschaften hat, dann ist es automatisch so – Sie können das nachlesen; das ist der so genannte Balassa-Samuelson-Effekt –, dass insbesondere die Preise für nicht handelbare Güter und Dienstleistungen schneller steigen als die Preise für handelbare Güter. Vor diesem Hintergrund ist es ganz logisch, dass wir – genauso wie vor zehn Jahren in Spanien, Griechenland und Portugal sowie heute in den osteuropäischen Ländern – eine höhere Inflation haben. Daraus ergibt sich denklogisch, dass die Inflationsrate Deutschlands unter dem Durchschnitt der Europäischen Union liegt. Das kann also kein Argument für Ihre Position sein. Das ist vielmehr eine ganz einfache Wahrheit in der klassischen Wirtschafts- und Währungspolitik.
Achtens. Zu guter Letzt wollen Sie die Eröffnung eines Defizitverfahrens nur noch beim Nachweis eines schwerwiegenden Fehlers eines Mitgliedstaats ermöglichen. Das ist der Gipfel; denn damit setzen Sie die Forderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts schlicht und einfach außer Kraft. Das ist die Strategie von Rot-Grün. Sie wollen nämlich alles andere als den Pakt stärken. Sie wollen vielmehr durch die Aufweichung der Stabilitätskriterien lediglich den Bankrott Ihrer Politik verschleiern.
Weil Ihnen finanz- und haushaltspolitisch nichts mehr einfällt, wollen Sie die Lizenz zum ungehemmten Schuldenmachen. Dagegen wehren wir uns mit aller Kraft.
Vor diesem Hintergrund muss ich Ihnen sagen: Sie haben es schlicht und einfach nicht verstanden. Ihnen fehlt offensichtlich die intellektuelle Kraft, um die Fragestellungen von Wirtschafts- und Währungspolitik im Zusammenhang zu sehen. Es ist festzuhalten: Wir geben mittlerweile jeden fünften Euro, den wir durch Steuern einnehmen, für Schuldzinsen wieder aus. Dieses Geld fehlt uns an anderer Stelle, um Infrastruktur, Bildung und Innovation zu unterstützen.
Zusätzlich wird durch Ihre Fiskalpolitik der Spielraum für dringend notwendige Entlastungen auf der Steuer- und Abgabenseite erheblich eingeschränkt.
Sie müssen einfach verstehen: Solange die Möglichkeit besteht, Kredite aufzunehmen, wird das Geld durch Ihre Regierung mit vollen Händen aus dem Fenster geworfen. Rot-Grün verfährt seit Jahren nach den Grundsätzen: Erstens. Sind die Staatsfinanzen erst ruiniert, dann lebt sich’s gänzlich ungeniert. Zweitens. Nach uns die Sintflut. Wenn man Ihrer Argumentation folgte, müsste man Kredite aufnehmen, um in die Zukunft investieren zu können. Das ist heuchlerisch und stimmt nicht. Schulden sind nämlich keine Investitionen in die Zukunft. Schulden sind vielmehr die Steuern von morgen. Da haben Sie uns hineingeritten. Durch Ihre Politik verkaufen Sie die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder.
Ich kann Sie daher nur auffordern: Hören Sie auf! Nutzen Sie die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um Ihren Haushalt zu sanieren! Zerstören Sie nicht das Fundament der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion! Wer den Stabilitätspakt kaputtmacht, spielt mit der Zukunft unseres Landes. Sie sollten sich das sehr genau überlegen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Ortwin Runde von der SPD-Fraktion.
Ortwin Runde (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fahrenschon, ich weiß zwar nicht, ob Sie an der Debatte über die europäische Verfassung teilgenommen haben. Aber es wäre gut gewesen, wenn der Geist dieser Debatte den Inhalt Ihrer Rede ein Stück geprägt hätte.
Das ist ja wirklich ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Meine Damen und Herren von der Union, wir erleben die heutige Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt als dritte oder vierte Wiederholung im Parlament. Inzwischen kennen wir fast alle Argumente.
Die Bürger, die Zuhörer müssen sich doch fragen: Was ist an der Stabilität denn nicht in Ordnung?
Wie sehen die Fakten aus? Bei der Beantwortung dieser Fragen stellt man fest, dass der Euro sehr stabil ist, was die Preissteigerungen, das Preisniveau, den Binnenwert angeht. Der Binnenwert des Euro ist absolut stabil.
Herr Fahrenschon hat eben schon eine Begründung dafür geliefert, warum das Preissteigerungsniveau in Deutschland sehr viel geringer ist als in den anderen europäischen Ländern. Der Außenwert des Euro ist mit 1,32 Dollar so hoch, Herr Fahrenschon, dass man da in der Tat schon Bedenken haben muss.
Jeder, der Zeitung liest, stellt fest, dass in dieser Tatsache auch eine Bedrohung für unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung liegt.
Wenn wir über die Frage der Stabilität reden, dann führen wir also eine Phantomdebatte. Mit der Stabilität haben wir in Europa, haben wir in Deutschland kein Problem.
Das ist also nicht die Frage.
Worum geht es denn dann darüber hinaus? Herr Fahrenschon redet hier so, als wären wir Deutschen die Einzigen in Europa, die über eine Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachdenken und daran arbeiten.
Ich stelle dazu fest: Es gibt einen Bericht bzw. Vorschlag der Europäischen Kommission zur Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
– Das ist keine Schönrederei.
Hier sehe ich auch eine Analogie zu der Diskussion, die wir vorhin geführt haben. In jener Diskussion hat Herr Teufel gesagt, warum die europäische Verfassung aufgrund der Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, weiterentwickelt werden muss. Bereits vorher wurde schon gesagt, ein entscheidender Punkt für die europäische Verfassung sei gewesen, dass sich Europa dadurch verändert hat, dass die Europäische Union nicht mehr aus 15, sondern aus 25 Ländern besteht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Runde, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Ortwin Runde (SPD):
Natürlich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Schauerte.
Hartmut Schauerte (CDU/CSU):
Herr Kollege Runde, Sie haben jetzt erläutert, wie der Binnen- und Außenwert der europäischen Währung sein soll. Welche Ursachen das haben mag, will ich jetzt dahingestellt sein lassen. Der Stabilitätspakt stellt aber doch insbesondere auf eine grundsätzlich notwendige Begrenzung der Verschuldung ab. Entsprechend sind Obergrenzen für die Staaten bei der Verschuldung festgelegt worden.
Muss ich Ihren jetzigen Ausführungen entnehmen, dass Sie die Verschuldungsgrenze gar nicht ansprechen wollen, weil Sie glauben, dass wegen der Stabilität des Euros mehr Schulden möglich, vielleicht sogar sinnvoll sein könnten, um einen zu hohen Wert des Euros wieder zu reduzieren?
Ortwin Runde (SPD):
Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt hat das Ziel Stabilität erreicht. Andere Ziele wie Wachstum und Beschäftigungssicherung sind dadurch nicht erreicht worden, Herr Schauerte.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nach den Erkenntnissen der Europäischen Kommission – Almunia, Prodi und andere haben dies bewertet – dazu geführt, dass die Länder nicht aus der Rezession herauskommen, sondern dass eine prozyklische Entwicklung eintritt, dass die Konjunktur durch die entsprechenden Maßnahmen also abgewürgt wird. Insoweit war der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht erfolgreich.
– Nein, das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das gilt, so Almunia, insbesondere auch für Portugal. Schauen Sie sich auch einmal die Situation der Portugiesen oder der Niederländer an; dort ist es genauso.
Wenn die Kommission darangeht, den Pakt neu zu interpretieren und weiterzuentwickeln, dann stellt sich die Frage, welche Interessen wir als Deutsche in diese Weiterentwicklung des Pakts einbringen müssen. Herr Fahrenschon, da fallen mir natürlich sofort die Lasten der Einheit ein. Die Bewältigung der deutschen Einheit war wie eine Vorstufe dessen, was wir heute mit der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten erleben. Die gesamte Europäische Union muss dafür viel Geld aufbringen. Eine Leistung dieser Art haben wir als einzelnes Land erbracht, indem wir entsprechende Lasten geschultert haben. Dass man das im Stabilitäts- und Wachstumspakt im Hinblick auf die Beurteilung heranzieht, ist doch selbstverständlich. Dem liegt deutsches Interesse zugrunde. In Frankreich käme kein oppositioneller Politiker auf die Idee, eine gegenteilige Auffassung zu vertreten.
Schauen Sie sich einmal an, wie hoch der Anteil der Kosten und der Lasten der deutschen Einheit an der Verschuldungsgrenze von 60 Prozent ist. Das ist ein ganz erheblicher Umfang.
Dazu haben Sie sich in der Vergangenheit ab und an einmal bekannt. Das müssen Sie doch mit berücksichtigen.
Aus meiner Sicht ist es absolut vernünftig, dafür zu sein, die Nettozahlerposition bei der Interpretation zu beachten. Das entspricht doch unserem Interesse. Sie haben hier von Kuhhandel gesprochen. Der Zusammenhang zwischen der Anerkennung von Sonderlasten und den Ausgaben für Europa ist gegeben. Sie müssten daher eigentlich die Position der Bundesregierung unterstützen.
Wenn man sich die europäische Ebene anschaut, dann muss man sehen, dass der Pakt sinnvollerweise Zukunftsprobleme lösen sollte. Deutschland und andere Länder haben Probleme mit der demographischen Entwicklung. Überall dort müssen der Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden. Eine klare wirtschaftspolitische Erkenntnis ist: Zur Lösung dieser Probleme ist es notwendig, vorübergehend mehr auszugeben. Anders sind diese Reformen nicht umsetzbar und nicht durchsetzbar. Das bei der Bewertung zu berücksichtigen ist im europäischen Interesse. Anreize für Bildung und Forschung zu setzen muss doch unsere Zielsetzung sein.
Dass Sie sich aus der gesamten Diskussion über die Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit Ihrer fundamentalistischen Haltung – es gibt sie sonst nirgendwo in Europa – ausklinken, führt Sie in die totale Isolation und nimmt Ihnen jedes Recht, hier mitzudiskutieren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Runde, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Ortwin Runde (SPD):
Gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Michelbach, bitte schön.
Hans Michelbach (CDU/CSU):
Herr Kollege Runde, aus meiner Sicht tragen Sie hier eine sehr abenteuerliche Theorie vor. Ist es nicht eine Tatsache, dass die Länder der Eurozone, die in den vergangenen Jahren aufgrund von Reformen die Defizitquote eingehalten und damit den Pakt nicht gebrochen haben, bei weitem nicht die Probleme Deutschlands haben. Diese Länder haben mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Die Situation ist doch so, dass Deutschland den Pakt nicht eingehalten und mehr Schulden gemacht hat, wodurch genau diese Probleme entstanden sind. Ist es nicht so?
Ortwin Runde (SPD):
Herr Michelbach, ich muss sagen: Hier irren Sie sich. Die Holländer haben zeitweise, als sie noch in einer besseren Position gewesen sind, so argumentiert wie Sie. Schauen Sie sich einmal an, wie viele europäische Länder sich in Schwierigkeiten befinden. Wenn Sie das tun, dann werden Sie feststellen: Viele sind vom hohen Ross heruntergestiegen, weil die Realität sie eingeholt hat. Sie haben mittlerweile gemerkt, dass sie davon abhängig sind, dass die Wirtschaft in Deutschland wächst.
Daher haben sie ein Interesse daran, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt so ausgelegt wird, dass er wirtschaftliches Wachstum nicht abwürgt. Diese Erkenntnis haben inzwischen auch unsere Nachbarländer.
Herr Meister, Sie haben das Thema Unternehmensteuern angesprochen, aber das Desaster unerwähnt gelassen, das Ihre Steuersenkungsvorstellungen im Rahmen der allgemeinen Steuerreform in der Anhörung erlebt haben,
in der alle gesagt haben: Angesichts der gegenwärtigen Situation der Staatsfinanzen sind weitere Steuersenkungen nicht machbar. – Das war das eindeutige Ergebnis.
Geht erst einmal daran – so war die Empfehlung der Sachverständigen –, die Steuerschlupflöcher zu schließen;
wenn ihr dann gesehen habt, welche Auswirkungen das hat, könnt ihr euch über Steuersätze unterhalten!
Herr Meister – –
– Herr Michelbach. Herr Meister hat aber vorher gesprochen.
Es waren Herr Michelbach und Herr Meister, die ein Unternehmensteuerkonzept angemahnt haben. Schauen Sie sich einmal an, was Herr Merz seinerzeit geliefert hat!
Die Ansage war: auf dem Bierdeckel, synthetische Einkommensteuer, keine duale Besteuerung. Sie sind inzwischen in tiefe Nachdenklichkeit verfallen,
haben deswegen auch noch eine Schreibhemmung. Zu der Frage, was Ihre steuerpolitischen Vorstellungen sind, haben Sie bisher nur weiße Blätter produziert.
Eines noch zu der Funktion, die die Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt für Sie hat. Ich habe hier den Eindruck, dass Sie diese Debatte nur nutzen, um den Stabilitäts- und Wachstumspakt als Peitsche einzusetzen – in Richtung Flexibilisierung und Abbau in den Bereichen Tarifrecht, Mitbestimmung und Kündigungsschutz.
Da machen Sie sozusagen einen umgekehrten Helmut Schmidt,
aber ohne ökonomischen Sachverstand.
Diese Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspaktes werden wir natürlich nicht mitmachen,
weil das – jetzt komme ich wieder zu der Debatte heute früh zurück – keine Konzeption für ein solidarisches Europa ist und keine Zukunftsvision für Europa sein kann. Es ist eine ganz andere Vision, die Sie verfolgen. Sie wird unsere Unterstützung nicht finden. Wenn Sie sich der Realität annähern wollen, dann müssen Sie tatsächlich anders über den Stabilitäts- und Wachstumspakt reden und dürfen nicht ständig nur die Zahl drei betonen; das ist nicht hinreichend.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als nächster Redner hat der Kollege Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Olav Gutting (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gefällt Herrn Eichel nicht. Dafür habe ich Verständnis; denn Sünder mögen keine Gesetze. Aber was Sie von der Regierung auf europäischer Ebene mit der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes planen, ist eine Schande. Diese Regierung versündigt sich an zukünftigen Generationen in Europa.
1996 haben die europäischen Finanzminister auf dem EU-Gipfel in Dublin beschlossen, vor allem auf Druck von Deutschland, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu gründen: Das jährliche Loch in der Staatskasse darf nicht tiefer klaffen, als es 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht, und der gesamte Schuldenberg des Staates darf sich nicht höher auftürmen als bis zu 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.
Bisher gilt die Grenze von 3 Prozent. Wer die Grenze von 3 Prozent überschreitet, verstößt gegen den Pakt.
Das hat jeder verstanden. Dass es jeder versteht, ist wichtig.
Dies war vor allem für uns Deutsche ein ganz wichtiges Signal.
Die dauerhafte Stabilität der Deutschen Mark war von Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland für die Menschen in unserem Land Ausdruck wirtschaftlicher Stärke und Kontinuität.
Die deutsche Währung galt im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Währungen immer als Garant für Stabilität. Wir Deutsche hingen an unserer Mark.
Um die mit der Einführung des Euro verbundenen Sorgen und Ängste in der Bevölkerung, die es durchaus gab, zu zerstreuen, setzte die damalige Bundesregierung bei der Einführung des Euro auf Aufstellung und strikte Einhaltung strenger Stabilitätskriterien. Es war 1992 auch einmal gemeinsamer Wille dieses Hohen Hauses – wir haben es vorhin gehört –, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind. Was die Bundesregierung jetzt mit der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes plant, nennt man „Wegfall der Geschäftsgrundlage“. Es ist die Zerstörung der Basis, auf der das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die neue Währung beruht.
Die Forderung des Finanzministers und dieser Regierung, das Schuldenmachen nun zu erleichtern, bedeutet das Ende dieses Paktes.
Sie wollen die Kosten der Einheit, Sie wollen die Zahlungen an Brüssel, Sie wollen Kosten für Bildung und anderes bei der Berechnung berücksichtigt wissen. Wie wollen Sie bitte dann Ihren Fluchthelfern aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt Frankreich und Italien verbieten, beispielsweise die Kosten für Militärausgaben zu berücksichtigen? Wie wollten Sie Ihren Fluchthelfern dann erklären, dass das nicht geht?
Das wird Ihnen nicht gelingen, aber das stört Sie auch nicht. Diese Regierung weiß nämlich ganz genau um die verheerenden Auswirkungen ihres Handelns.
An ernsten und konkreten Warnungen hat es ja nicht gefehlt, sei es von der Bundesbank oder anderen Experten. Das haben wir ja alles schon gehört.
Es geht dieser Regierung einfach nur noch darum, die Macht zu sichern. Sie wollen im Wahljahr 2006 auf keinen Fall ein Defizitverfahren haben. Genauso wie sich SPD und Grüne derzeit in Schleswig-Holstein über den Willen der Wähler hinwegsetzen, genauso setzt sich diese Regierung über alle Warnungen und Mahnungen beim Pakt hinweg.
Der Schaden, der dadurch entsteht, und die Lasten, die Sie dadurch zukünftigen Generationen aufladen, scheinen Sie dabei nicht zu interessieren.
Die exzessive Verschuldungspolitik dieser Regierung ist ja auch gerade deshalb so schlimm, weil es die künftigen Generationen, die diese Rechnung bezahlen sollen, gar nicht geben wird. Europa ist ja der Kontinent mit den wenigsten Kindern. Europa hat nicht nur die wenigsten Kinder, sondern weltweit auch das geringste Wirtschaftswachstum.
Ich bin froh, Frau Staatssekretärin Hendricks, dass Sie vorhin gesagt haben, dass Sie kein kreditfinanziertes Investitionsprogramm planen. Ich hoffe, die ganze Regierung hat sich zwischenzeitlich von der Vorstellung verabschiedet,
der Staat könnte die Wirtschaft mit mehr Krediten hoch hieven. Wünschenswert wäre ein erhöhter Konsum, wünschenswert wäre eine erhöhte Investitionsbereitschaft. Hierzu brauchen wir aber verlässliche finanzpolitische Rahmenbedingungen. Verlässliches Wachstum wird es nur mit Stabilität geben und niemals ohne Stabilität.
Wer Hand an diesen Pakt legt, zerstört das Vertrauen der Menschen in diese Stabilität.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Köhler von der SPD-Fraktion.
Dr. Heinz Köhler (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über zwei Anträge zum europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beiden Anträgen ist gemeinsam, dass sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt erhalten wollen, um ein Funktionieren der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sicherzustellen. Dies drücken wir in unserem Antrag wie folgt aus:
Zur Sicherung der Stabilität der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) sind solide öffentliche Finanzen unabdingbar, die Währungsunion braucht auch in Zukunft ein funktionsfähiges und glaubwürdiges Instrument der finanzpolitischen Koordinierung.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat sich nach unserer Auffassung in seiner Grundkonzeption bewährt. In unserem Antrag heißt es daher weiter:
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen wesentlichen Bestandteilen – der 3-Prozent-Defizitgrenze und der 60-Prozent-Schuldengrenze – hat in den letzten Jahren auch unter schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine positive Wirkung auf die Finanzpolitiken in den Mitgliedstaaten der Währungsunion ausgeübt.
Wer allerdings, wie es verschiedentlich versucht wird und leider auch heute wieder versucht wurde, das dazu notwendige Ringen als „Aufweichungsversuche“ diffamiert, schadet der Glaubwürdigkeit des Paktes.
Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ist der Euroraum heute finanzpolitisch besser aufgestellt als die USA und Japan. Während das Defizit im Euroraum im Jahre 2004 2,9 Prozent betrug, betrug es in den USA 4,2 Prozent und in Japan sogar 7,1 Prozent.
Auch die Inflation hat sich in engen Grenzen gehalten: Die Steigerungsraten der Verbrauchspreise lagen zwischen 2000 und 2003 im Euroraum bei rund 2 Prozent, in Deutschland sogar nur bei 1 Prozent. Das heißt, der Euro ist nach innen und außen stabil.
Bei allen Erfolgen des Stabilitäts- und Wachstumspakts können wir die Augen aber nicht vor den Erfahrungen verschließen, die wir mit der Anwendung des Paktes in den vergangenen Jahren gemacht haben. Ein zentraler Auslöser für die Reformdebatte war die Kontroverse über die Nutzung der im Vertrag und im Pakt enthaltenen Ermessensspielräume. Die bisherige Anwendung ließ eine Diskussion durch Kommission und Ecofin-Rat über eine ökonomisch angemessene und richtige Finanzpolitik völlig in den Hintergrund treten. Deswegen sind wir für eine Reform des Paktes.
Eine solche Reform ist keine deutsche Erfindung. Auch sind wir deswegen in Europa nicht isoliert.
Schon vor längerer Zeit hat der damalige Präsident der EU-Kommission Romano Prodi den Pakt als „dumm“ bezeichnet. Zwischenzeitlich ist die Mehrheit der Mitgliedstaaten für eine Reform des Paktes. Selbst die Kommission als Hüterin der Verträge hat in ihrer Mitteilung vom 13. September 2004 eine Reihe von Reformvorschlägen gemacht. Insoweit ist die Zeit über den Antrag der Union hinweggegangen. Er steht nicht mehr auf der Agenda der europäischen Institutionen.
Warum will nun die Kommission eine Reform des Paktes? Bei der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts sind eben nicht nur Erfolge zu verbuchen. In einigen Ländern ist der Fortschritt in Richtung Schuldenabbau völlig unzureichend.
In diesem Jahr erfüllen lediglich fünf der zwölf Mitglieder des Euroraum die Hauptregel des Paktes. Mindestens drei Länder werden Defizite von über 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben, weitere drei wahrscheinlich.
Das sind die Zahlen von diesem Jahr.
Eine Reihe von ökonomischen Überlegungen steht neben politischen und institutionellen Gesichtspunkten hinter diesen Vorschlägen für ein ausgewogenes Anpassungspaket:
Erstens. In Anbetracht der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, was etwa wirtschaftliche Entwicklung oder Schuldenstand angeht, brauchen wir mehr Spielraum und ökonomisches Augenmaß bei der Beurteilung der Budgetentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Dieser Gesichtspunkt gewinnt vor dem Hintergrund der Erweiterung deutlich an Gewicht. Auf der Grundlage der bestehenden Vertragswerke sollen bestimmte Länderspezifika stärker in Rechnung gestellt werden, als es bisher geschehen ist.
Zweitens mangelt es dem gegenwärtigen Regelwerk an ausreichenden Anreizen, in wirtschaftlichen Aufschwungphasen haushaltspolitisch für schlechte Zeiten vorzusorgen. Wenn aber in guten Zeiten kein Haushaltsüberschuss erwirtschaftet wird, wie soll dies dann in schlechten Zeiten gelingen?
Drittens erwächst angesichts der demographischen Entwicklung in Europa die Einsicht, dass langfristigen Nachhaltigkeitsaspekten mehr Bedeutung beigemessen werden muss, als es noch Mitte der 90er-Jahre der Fall war.
Neben diesen ökonomischen Argumenten gibt es auch politisch-institutionelle Gründe, weshalb eine Überarbeitung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nötig ist.
Das ist auch das Ziel unseres Antrages. Im Lichte dieser Überlegungen erscheint es nach unserer Ansicht angebracht, das wirtschaftspolitische Regelwerk zu stärken und seine Anwendung zu verbessern. Verbesserung heißt in diesem Fall, den ökonomischen Gehalt der Regeln zu erhöhen, um den größer gewordenen Unterschiedlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten einer EU der 25 besser Rechnung tragen zu können.
Nach der Konzeption des EG-Vertrages dient das Instrumentarium der Haushaltsüberwachung zur Vermeidung schwerwiegender Fehler in der Haushalts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten. Der Vertrag selbst sagt: Es ist keineswegs Ziel und Aufgabe der finanzpolitischen Koordinierung, den Mitgliedstaaten in ihre täglichen Geschäfte hineinzuregieren. Das ist Sache der einzelnen Mitgliedstaaten und muss es auch bleiben.
Um es an der 3-Prozent-Defizitgrenze festzumachen: Eine Finanzpolitik ist doch nicht immer gut, solange das Defizit noch bei 2,9 Prozent liegt, und sie ist auch nicht notwendigerweise schlecht, wenn das Defizit auf 3,1 Prozent steigt. Die Sicht der Union ist hier völlig unökonomisch.
Es geht vielmehr darum, eine stabilitäts- und wachstumsgerechte Ausrichtung der Finanzpolitik zu gewährleisten. Einzelne Zahlen können dies nicht aufzeigen, sondern nur eine fundierte Analyse; eine Gesamtschau ist also nötig.
Oder wenn ein Land Strukturreformen umsetzt, die für mehr Wachstum und nachhaltige Finanzen entscheidend sind, aber zu einem Defizitanstieg über 3 Prozent führen – sollte dann ein Verfahren eröffnet werden? Wir sagen, in diesen Fällen nicht.
Ein zentrales Kriterium ist für uns die Konjunktur. Neben starken Wirtschaftsabschwüngen sollten auch Perioden der Stagnation Berücksichtigung finden. Zudem ist zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten zum Teil Sonderlasten zu schultern haben, die nicht primär Ausdruck einer finanzpolitischen Entscheidung sind. Ich darf hier für Deutschland die hohe finanzielle Belastung durch die deutsche Einheit nennen. Eine weitere Sonderbelastung, die von nationalen finanzpolitischen Erwägungen losgelöst ist, sind die hohen Transfers an den EU-Haushalt. Auch solche Zahlungen sollten im Rahmen finanzpolitischer Analysen Berücksichtigung finden.
Ich möchte noch einmal betonen: Es geht nicht um ein „Rausrechnen“, sondern es geht um die Philosophie der Einzelfallbeurteilungen. Eine sinnvolle Anwendung des Stabilitätspakts ist nur auf der Basis einer umfassenden ökonomischen Analyse des jeweiligen Einzelfalls möglich.
Insoweit sehen wir dem Europäischen Rat am 22. und 23. März hoffnungsvoll entgegen und fordern Sie auf, dem Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin, es hat Ihnen nicht gefallen, dass wir gesagt haben, Sie wollten den Pakt eigentlich nicht mehr. Aber die Debatte hat es der deutschen Öffentlichkeit gezeigt: Sie haben nur formal gesagt, Sie wollten den Pakt weiterhin; aber alles, was Sie inhaltlich gesagt haben, hat genau belegt, dass Sie mit einem Stabilitätsziel nichts anfangen können. Sie haben über die 3-Prozent-Grenze gesprochen, Frau Scheel. Aber Sie müssen sich einmal vor Augen führen, was eigentlich das Ziel ist, nämlich ein ausgeglichener Haushalt. Eine Neuverschuldung von 3 Prozent markiert dabei die Obergrenze.
Ziel der Haushaltspolitik sollen ausgeglichene Staatshaushalte sein.
Aber Sie reden nur noch über die Obergrenze der Neuverschuldung von 3 Prozent und die halten Sie nicht einmal ein, sondern überschreiten sie sogar um ein Viertel. Und dafür sollen wir Sie noch loben? Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Frau Hendricks, Sie hören es nicht gerne, wenn wir die Regierung kritisieren. Deshalb zitiere ich einmal einen Beobachter der politischen Szene.
Hendrik Munsberg kommentierte in der „Berliner Zeitung“ vom 18. Februar dieses Jahres:
Der Euro-Stabilitätspakt ist erledigt, mausetot. Hauptverantwortlich dafür sind Kanzler Gerhard Schröder und sein Erfüllungsgehilfe Hans Eichel.
Man muss sich in diesem Zusammenhang einmal daran erinnern, wie sich der Finanzminister in der Öffentlichkeit dargestellt hat: Er hat sich bevorzugt mit Sparschweinen ablichten lassen und er hat durch seinen hoch bezahlten PR-Berater die Geschichten in Umlauf bringen lassen, dass er beim Putzen der Wohnung von der Leiter gefallen ist und seine Döner in der Imbissstube an der Ecke selbst kauft.
Der Finanzminister hat immer von einem ausgeglichenen Haushalt gesprochen. Dann hat er aber auf einmal gemerkt, dass es nicht leicht sein wird, einen solchen zu erreichen. Danach war von „nahezu ausgeglichen“, also „close to balance“, die Rede. Von „close to balance“ ist jetzt ebenfalls keine Rede mehr. Inzwischen geht es nur noch um das 3-Prozent-Kriterium. Aber selbst das kann er nicht einhalten. Haushalts- und finanzpolitisch ist die Bilanz der Regierung katastrophal.
Statt aus der aktuellen Situation die richtigen Schlüsse zu ziehen, macht Eichel genau das Falsche. Wir befinden uns in der Fastenzeit. Während dieser Zeit versuchen einige, ihre überflüssigen Pfunde, die sie im Winter angesammelt haben, loszuwerden.
Wenn ich mir Herrn Eichels öffentliches Reden und Handeln anschaue, dann kann ich Parallelen feststellen: Er redet zwar die ganze Zeit vom Abnehmen, futtert aber sozusagen heimlich Pralinen, wenn er glaubt, keiner würde ihm zuschauen. Wenn er auf der Waage feststellen muss, dass sich nichts an dem Gewicht geändert hat, wirft er die Waage weg, anstatt die Pralinen wegzulassen. Das ist sein Konzept.
Sie legen in der Tat die Axt an den Stabilitätspakt. Sie wollen Forschungsausgaben, Bildungsausgaben und Nettozahlungen an die EU abziehen. Sie wollen die Kosten für Strukturreformen in den Sozialsystemen abziehen. Ich kann Ihnen noch weitere Anregungen geben: Sie bekommen die Franzosen mit ins Boot, wenn Sie vorschlagen, die Kosten für Überseedepartements und für die Force de Frappe abzuziehen. Die Griechen bekommen Sie mit ins Boot, wenn Sie vorschlagen, die Kosten für die Olympischen Spiele abzuziehen. Man könnte auch schon einmal an die Kosten für die Fußballweltmeisterschaft im nächsten Jahr denken. Sie können sich eine Reihe von Ausweichkriterien ausdenken. Aber damit höhlen Sie den Pakt aus. Sie wollen diesen Pakt nicht, weil Sie nie den Zusammenhang zwischen Stabilität und Wachstum in der Volkswirtschaft verstanden haben. Das ist das Problem.
Der Kanzler und der Finanzminister tragen die Meinung vor, dass zu viel Gewicht auf Stabilität und zu wenig auf Wachstum liege, es heiße aber doch „Stabilitäts- und Wachstumspakt“. Wenn das richtig wäre, dann müsste jetzt irgendwann einmal, nachdem Sie dieses Jahr das 3-Prozent-Kriterium zum vierten Mal in Folge reißen, eine positive Entwicklung auf der Wachstumsseite eintreten. Aber das Gegenteil ist richtig: Die Weltwirtschaft wächst mit 5 Prozent, die Wirtschaft in Europa mit 2,3 Prozent und Deutschlands Wirtschaft mit 1,5 Prozent. Das ist Ihre magere Bilanz. Außerdem befindet sich der Arbeitsmarkt im freien Fall. Man spricht schon von offiziell 5,2 Millionen Arbeitslosen. Jeden Tag gehen in Deutschland über 1 000 reguläre Beschäftigungsverhältnisse verloren. Diese Arbeitsplätze sind futsch. Dafür sind Sie verantwortlich. Und Sie wollen einfach das Regelwerk ändern, nur weil Sie es nicht einhalten können! Was ist denn das für eine miserable Politik?
Sie müssen sich einmal deutlich vor Augen führen, was Sie mit Ihrer Politik in Europa anrichten. Beim Fall des Eisernen Vorhangs und bei der Öffnung der EU haben wir uns vorgenommen, ein Europa der Stabilität zu schaffen. Wir haben die Maastricht-Kriterien in den Acquis communautaire aufgenommen. Dieses Regelwerk galt für Länder, die beitreten wollten und jetzt beigetreten sind. Es gilt auch für die Transformationsländer, die dazukommen wollen, die also Kandidatenstatus haben. Diesen Ländern wird gesagt, sie müssten eine ordentliche Haushaltspolitik vorweisen, um Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Wie soll jemand an der Spitze eines solchen Landes seiner Bevölkerung erklären, dass Anstrengungen notwendig sind und dass man harte Schnitte machen muss, um die Strukturen zu ändern, wenn wir, die wir diesen Pakt durchgesetzt haben, diejenigen sind, die mit diesem Pakt plötzlich nichts mehr zu tun haben wollen? Damit versündigen Sie sich an Europa. Wir waren auf einem guten Wege, ein Europa der Stabilität zu schaffen.
Inzwischen werden von Ihren Büchsenspannern im Finanzministerium – Frau Hendricks, Sie haben dies zwar vorhin dementiert, aber es gibt offenbar entsprechende Überlegungen – Konjunkturprogramme angekündigt. Einige Tagesordnungspunkte später können Sie heute ein Konjunkturprogramm ohne einen Steuereuro beschließen. Da reden wir über die Zukunft des Luftverkehrsstandortes Deutschland. Sie sind nicht in der Lage, dazu Ja zu sagen. Da geht es um eine Investition von 3,5 Milliarden Euro und um zusätzliche Arbeitsplätze.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Herr Kollege, es besteht die Bitte nach einer Zwischenfrage. Ihre Redezeit ist aber schon abgelaufen.
Ich erlaube Ihnen, diese Zwischenfrage zu beantworten. Aber dann können Sie nicht mehr in Ihrer Rede fortfahren.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Es gibt vonseiten der SPD den dringenden Wunsch, dass ich fortfahren darf.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Den mag es geben; aber den werde ich nicht erfüllen. – Bitte.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Bitte, die Zwischenfrage.
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
Herr Kollege Willsch, ist Ihnen bekannt, dass in diesem Haus, aber auch weit darüber hinaus die Bereitschaft besteht – Sie wissen das sicherlich als Mitglied des Unterausschusses zu Fragen der Europäischen Union –, die Bundesregierung dabei, die Kriterien einzuhalten, in der Weise zu unterstützen, dass wir uns darauf verständigen, dass die Ausgaben für den künftigen Finanzplanungszeitraum der EU auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzt werden sollen? Ich habe gerade recherchiert, dass es einen gleich lautenden Kabinettsbeschluss der Bayerischen Staatsregierung gibt. Sind Sie mit mir darin einig, dass damit die Aussagen der Frau Staatssekretärin, die sie vorhin gemacht hat, widerlegt sind?
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
Herr Kollege Kalb, ich kenne kein CDU/CSUregiertes Land, das für eine Ausweitung der Finanzierungsbasis der EU in dem Sinne ist,
wie das hier vorgetragen wurde. Ich glaube wohl, dass es in der Bayerischen Staatsregierung einen einschlägigen Beschluss dazu gibt. Wie gesagt, das gilt darüber hinaus aber auch für andere unionsgeführte Länder.
Einen Appell richte ich zum Abschluss an den Kanzler, der sich anlässlich des Bush-Besuches bemüßigt fühlte, an den Vergleich zu erinnern, wer Koch und wer Kellner ist. Gerade an dem Beispiel des Ausbaus des Flughafens in Frankfurt kann der Kanzler zeigen, ob er den Kellner zum Laufen bringt und die Grünen endlich bereit sind, Notwendigkeiten im Hinblick auf Zukunftsmärkte zu berücksichtigen, anzuerkennen, und er kann dafür sorgen, dass investiert wird und Arbeitsplätze in diesem Land entstehen und nicht das Gegenteil geschieht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 15/4915. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3957 mit dem Titel „Stabilitäts- und Wachstumspolitik fortsetzen – Den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenprobe! – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der beiden Oppositionsparteien angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3719 mit dem Titel „Für eine stabile Wirtschafts- und Währungsunion – europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht ändern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e sowie Zusatzpunkt 1 auf:
27. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Reisekostenrechts
– Drucksache 15/4919 –
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern (… Zuständigkeitslockerungsgesetz)
– Drucksache 15/4114 –
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hochbaustatistikgesetzes
– Drucksache 15/4738 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes
– Drucksache 15/4739 –
Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung
– Drucksache 15/2417 –
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Uwe Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt verbessern – Alkoholmissbrauch konsequent bekämpfen
– Drucksache 15/4942 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)InnenausschussRechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4114 soll zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 28 a. Ich rufe auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indonesien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/3882 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)
– Drucksache 15/4824 –
Berichterstattung:Abgeordneter Christian Müller (Zittau)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen.
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 160. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 25. Februar 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]