166. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 17. März 2005
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Wolfgang Thierse:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, sich zu erheben.
Im Alter von 80 Jahren ist am 7. März 2005 Walter Arendt gestorben. Er war von 1961 bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 1961 bis 1969 zugleich Abgeordneter im Europaparlament. Von 1969 bis 1976 amtierte er als Minister für Arbeit und Sozialordnung in den Kabinetten Brandt und Schmidt.
Walter Arendt war seiner Heimat im Ruhrgebiet eng verbunden. Wie schon sein Vater ergriff er den Beruf des Bergmanns. Nach seiner Zeit als Soldat und der anschließenden Kriegsgefangenschaft studierte er an der Akademie für Arbeit in Frankfurt am Main sowie an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg. Er engagierte sich in der IG Bergbau, deren Vorsitz er 1964 übernahm. In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nahm Walter Arendt zahlreiche Funktionen wahr. Als einer der führenden Energie- und Sozialexperten hat er sich stets für den Erhalt der deutschen Montanindustrie engagiert.
Sowohl als Parlamentarier wie später auch als Minister blieb Walter Arendt seinen Wurzeln und seinen Werten verpflichtet. Es war ihm ein Anliegen, insbesondere die Interessen von Bergleuten und sozial Benachteiligten zu vertreten. In seiner Zeit als Mitglied der Bundesregierung reformierte er das Betriebsverfassungsgesetz, führte kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen ein und verbesserte die soziale Absicherung von Kriegsopfern. Walter Arendt hat das Gesicht unserer sozialen Marktwirtschaft entscheidend mitgeprägt.
Sie haben sich zu Ehren Walter Arendts erhoben; ich danke Ihnen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Sitzung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung am 14. März 2005 – Auswirkungen auf Wissenschaft und Forschung
(siehe 165. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 24)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
– Drucksache 15/5099 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 25)
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 15/5114 –
b Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05
– Drucksache 15/5113 –
Berichterstattung:Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Gisela Piltz, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: DNA-Reihentests auf sichere Rechtsgrundlage stellen
– Drucksache 15/4695 –
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss
ZP 5 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISESS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts
– Drucksache 15/4834 –
(Erste Beratung 158. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)
– Drucksache 15/5133 –
Berichterstattung:Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß Helmut Heiderich Ulrike Höfken Dr. Christel Happach-Kasan
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abg. Helmut Heiderich, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gentechnikgesetz wettbewerbsfähig vervollständigen
– Drucksachen 15/4828, 15/5134 –
Berichterstattung:Abgeordnete Dr Elvira Drobinski-Weiß Helmut Heiderich Ulrike Höfken Dr. Christel Happach-Kasan
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit erforderlich – abgewichen werden.
Darüber hinaus sollen folgende Tagesordnungspunkte umgestellt werden: Tagesordnungspunkt 8 – Menschenrechte – nach Punkt 4, Tagesordnungspunkt 10 – Arzneimittelgesetz – nach Punkt 7, Tagesordnungspunkt 5 – Änderung des Einführungsgesetzes zum BGB – nach Punkt 9 sowie die Gesetzentwürfe unter Tagesordnungspunkt 20 nach Punkt 21.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Sodann möchte ich nachträglich dem Kollegen Volker Kröning, der am 15. März seinen 60. Geburtstag feierte, die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler
Aus Verantwortung für unser Land: Deutschlands Kräfte stärken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
Gerhard Schröder, Bundeskanzler:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast genau zwei Jahren habe ich im Deutschen Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Die Agenda 2010 ist die Antwort auf zwei große Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft wie viele andere Gesellschaften in Europa ausgesetzt ist: zum einen der Herausforderung, die mit der Globalisierung unserer Wirtschaft und damit der Globalisierung des Wirtschaftens zusammenhängt, und zum anderen einen radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft.
Mir liegt daran, dass klar wird: Die Agenda 2010 ist ein Instrument, um unter veränderten Bedingungen Sozialstaatlichkeit und damit den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu sichern.
Sie ist ein notwendiges Instrument; denn der Zusammenhalt unserer Gesellschaft lässt sich nur dann sichern, wenn wir zu Veränderungen in der Politik bereit sind. Die Veränderung schafft die Möglichkeit des Bewahrens; denn das, was über Generationen in Deutschland von einer jetzt älter gewordenen Generation aufgebaut worden ist, hat es verdient, bewahrt zu werden.
Aber genauso klar muss sein angesichts der letzten Debatten muss das immer wieder deutlich gemacht werden : Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist kein Luxus, den man in schwieriger werdenden Zeiten beiseite schaffen könnte.
Solidarität in einer Gesellschaft das Einstehen der Starken für die Schwachen, der Gesunden für die Kranken und der Jungen für die Alten ist gewiss eine Tugend. Sie ist aber zugleich auch Voraussetzung des ökonomischen Erfolgs in den entwickelten Gesellschaften Europas.
Wer den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft infrage stellt, wer soziale Kohäsion als überflüssiges Zierwerk in guten Zeiten betrachtet, der stellt eben nicht nur wichtige Errungenschaften von Politik und Gesellschaft in unserem Land infrage, nein, er ist vielmehr dabei, den inneren Frieden zu zerstören. Der innere Frieden ist nicht zuletzt ein ökonomisches Datum, eine Voraussetzung auch dafür, erfolgreich und effizient zu produzieren.
Die Agenda 2010 ist gewiss ein anspruchsvolles Reformprogramm, das der Name bringt das schon zum Ausdruck weit über die gegenwärtige Legislaturperiode hinausreicht. Die Agenda 2010 will Wirklichkeit gestalten und sie will verändern. Sie ist deshalb mit einem Reformbegriff verbunden, der sich eben nicht in Gesetzesbeschlüssen ob im Bundestag oder Bundesrat erschöpft, sondern bei dem es darum geht, die Wirklichkeit in Deutschland zu verändern. Deshalb ist es so wichtig, dass als Teil der Reformen, die mit dem Begriff „Agenda 2010“ bezeichnet werden, nicht zuletzt die Umsetzung dieser Reformen gemeint ist und keineswegs nur das Beschließen von entsprechenden Gesetzen.
Der Gesetzesbeschluss so begriffen bei der Gesundheitsreform, bei der Rentenreform, vor allen Dingen aber bei der Arbeitsmarktreform ist die Voraussetzung für den Reformprozess; er ist der Anfang, aber keineswegs dessen Ende.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich darauf eingehe, welche Wirkungen die Agenda 2010 entfaltet hat, ist es schlicht unumgänglich, Bemerkungen zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Es ist gar keine Frage, dass die Zahlen, mit denen wir konfrontiert worden sind, uns alle bedrücken müssen. Mehr als 5 Millionen Arbeitslose, die im Februar gezählt worden sind, sind die ernsthafteste Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft steht.
Aber klar muss auch sein: Gerade wenn man das als ernsthafte Herausforderung begreift – und das tun wir alle –, dann ist es erforderlich, aufklärerisch tätig zu werden, was denn diese Zahlen im Einzelnen begründet. Wir haben steigende Zahlen der Erwerbstätigen.
Wir rechnen 2005 mit mehr als 300 000 zusätzlichen Erwerbstätigen. 2004 waren es 140 000. Ich erwähne das nicht, um die andere Zahl zu relativieren, die ich genannt habe. Ich sage aber, dass der Reformprozess, den wir in Gang gesetzt haben und der in etlichen Bereichen gerade zwei Monate alt ist, gleichwohl zu greifen beginnt.
Es bleibt dabei: Niemand darf über die Zahl von über 5 Millionen gezählten Arbeitslosen hinwegsehen oder sie sogar zu bagatellisieren versuchen. Es ist wichtig, den Menschen in Deutschland, die nicht zuletzt wegen dieser Zahl Verunsicherung spüren, zu erklären, wie sie denn zustande kommt. Allein im Januar dieses Jahres sind 360 000 Menschen zusätzlich in die Arbeitslosenstatistik gekommen. Das waren nun keineswegs neue Arbeitslose, sondern es waren Menschen, die bislang in der Sozialhilfestatistik geführt worden sind. Es waren Menschen, die – obwohl erwerbsfähig – keinerlei Angebote an Erwerbsarbeit bekommen haben. In den großen Städten Deutschlands ist die Zahl der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger – das ist eine Zahl des Statistischen Bundesamtes, nicht meine – im Durchschnitt um sage und schreibe 95 Prozent reduziert worden. Dies sind Menschen, die keine Arbeit hatten und die man in die Sozialhilfe gedrängt hatte, ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gelingt es uns zunächst, deutlich zu machen, dass wir sie als Menschen begreifen, die nicht vergessen sind,
als Menschen begreifen, die wir brauchen und denen wir über Qualifizierung und Angebote eine Perspektive für ein Leben ohne staatliche Unterstützung geben wollen.
Ich weiß, dass das ein ungemein schwieriger Prozess sein wird. Aber es ist einer, der schon aus dem Grund unternommen werden muss, weil die Hälfte dieser Menschen Jugendliche unter 25 Jahre sind. Es kann doch nicht richtig sein, dass wir sie einfach in der Sozialhilfe abgedrängt liegen lassen, zwar notdürftig versorgt, aber ohne Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben. Ich will das jedenfalls nicht.
Wir haben mit den Reformen, die gemeinhin als „Hartz-Reformen“ bezeichnet werden, den ernst gemeinten und ernsthaften Versuch gemacht, diese und andere Menschen in die Arbeitsmärkte einzugliedern. Wir setzen auf das Prinzip des Förderns, aber auch des Forderns. Diejenigen, um die es geht, werden Angebote erhalten – es sind nicht immer solche, die sie erwarten –, das zu tun, zu dem sie in der Lage sind, um für sich und ihre Familien ein Einkommen und Auskommen durch Arbeit zu schaffen. Wir haben deutlich gemacht, dass zumutbare Arbeit in Deutschland auch von denjenigen geleistet werden muss, die sich in Deutschland legal aufhalten. Das werden wir durchsetzen. Die Hartz-Reformen, die wir eingeleitet haben, sind zu genau diesem Zweck gemacht worden.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur Bundesagentur für Arbeit: Die frühere Bundesanstalt für Arbeit mit mehr als 90 000 Beschäftigten war eine Organisation, bei der 10 Prozent derer, die dort tätig gewesen sind, mit Vermittlung in den Arbeitsmarkt beschäftigt waren, 90 Prozent der dort Tätigen dagegen mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Das war kein Zustand, der aufrechterhalten werden konnte. Die Zusammenlegung der beiden sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat den Zweck, diesen Zustand zu beenden. Man kann ihn nur beenden, wenn sich die Art und Weise, wie diese Agentur arbeitet, von Grund auf ändert,
wenn Vermittlung und nicht Betreuung im Vordergrund steht.
Wir sind vorangekommen. Im Januar mussten Hunderttausende von Anträgen auf Arbeitslosengeld II geprüft und beschieden werden. Erinnern wir uns: Manch einer hat geglaubt, dass das von denen, die in der Agentur beschäftigt sind, nicht zu leisten sei. Aber es ist doch geleistet worden. Ich finde, an dieser Stelle ist auch ein Wort des Dankes wegen des Arbeitseinsatzes dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angebracht.
Wir werden erreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und den Agenturen vor Ort besser als in der Vergangenheit wird. Aber auch das ist eine Umstellung, die bewältigt werden muss. Wir werden und wir müssen erreichen, dass sich die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – es sind über 90 000 – ändert, dass sie wegkommen von Betreuung und hinkommen zur aktiven Vermittlung derer, die ihnen anvertraut sind.
In diesem Zusammenhang Folgendes: Es ist leicht, über diejenigen zu lästern, die diese Arbeit zu tun haben. Ich kenne nicht viele Unternehmen großen Zuschnitts, die eine so gewaltige Umstellung dessen, was sie Kerngeschäft nennen, in dieser Zeit mit diesen Erfolgen erreicht haben. Ich wiederhole: Ich kenne nicht viele Unternehmen.
Wer über den Arbeitsmarkt spricht, muss über Ausbildung in Deutschland reden. Wir haben in diesem Haus vielfach darüber diskutiert und auch gestritten. Wir sind schließlich dazu gekommen, zu sagen: Es ist nicht zuletzt die Verantwortung der Wirtschaft, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen.
Lasst mich deutlich sagen: Wer nicht ausbildet, sägt sich ökonomisch den Ast ab, auf dem er morgen zu sitzen hat.
Ich bin froh darüber, dass es durch eine Kraftanstrengung, und zwar eine gemeinsame von Regierung und Wirtschaft, gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsverträge auch in den Betrieben deutlich zu steigern. Ich bin froh darüber, dass es uns gelungen ist, allen, die ausbildungsfähig sind, auch ein Angebot zu machen. Dieser Prozess muss weitergehen. Die Aufgabe, Ausbildungsplätze zu schaffen, ist nicht zu Ende seit dem letzten Jahr; sie beginnt in diesem Jahr, und zwar heute und morgen.
Ich bin all denen, die sich auf der Seite der Wirtschaft wie auf der Seite der Politik, insbesondere dem Präsidenten des DIHK und – lassen Sie mich das so sagen – Franz Müntefering,
die Mühe gemacht haben, dankbar für den Erfolg, der in diesem Pakt steckt.
Dieser Erfolg ist erzielt worden und er ist gewiss nicht durch Sie von der Opposition zustande gekommen.
Es ist ein Erfolg und wir müssen daran anknüpfen.
Wir haben im Zusammenhang mit der Agenda dann darüber zu reden, was denn aus den Reformen im Gesundheitssektor geworden ist. Wenn man sich das einmal anschaut, dann stellt man doch fest, dass das, was wir übrigens gemeinsam gemacht haben – das wird ja gelegentlich gerne vergessen; jedenfalls dann, wenn es eng wird –,
positive Wirkungen entfaltet hat. Damit komme ich zu den Krankenkassen, denn wir müssen darüber reden, wie wir es hinbekommen, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden. In 2003 haben die Krankenkassen einen Verlust von nahezu 3 Milliarden Euro gemacht, in 2004 – das steht inzwischen fest – einen Gewinn von 4 Milliarden Euro. Ich sage hier ohne Wenn und Aber: Dieser Gewinn von 4 Milliarden Euro muss zu großen Teilen in Form von Beitragssenkungen und damit in Form von Senkung der Lohnzusatzkosten weitergegeben werden.
Er muss weitergegeben werden in Form von Beitragssenkungen und nicht – das sage ich bewusst, obwohl ich zu Neid nun wirklich unfähig bin – in Form einer Erhöhung der Gehälter der Kassenvorstände.
Es wird, meine Damen und Herren – das ist auch ein gemeinsamer Beschluss; ich hoffe, wir vertreten ihn auch gemeinsam –, zum 1. Juli dieses Jahres zur Umfinanzierung bei Krankengeld und Zahnersatz kommen.
– Ich höre schon wieder: „Das habt ihr alleine gemacht!“.
Das ist aber Teil der Gesundheitsreform, meine Damen und Herren, und wird dazu führen, dass die Betriebe erneut 4,5 Milliarden Euro an Lohnzusatzkosten weniger zahlen müssen. Ich hoffe, das wird dort auch bemerkt und zu Einstellungen führen.
Es ist ja interessant, dass dann, wenn, wie in diesem Fall, die eine Forderung erfüllt wurde, sogleich die nächste nachgeschoben wird. Das kann doch nicht sein. Die Unternehmen haben, wenn ich in diesem Bereich alles zusammennehme, fast 10 Milliarden Euro an potenziellen Lohnzusatzkosten einsparen können. Das führt zu verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, auch und gerade der mittelständischen. Die Folge davon dürfen doch nicht Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Antwort darauf muss sein, dass mehr Einstellungen vorgenommen werden.
Zum Arbeitsmarkt gehört auch die Diskussion, die in den letzten Tagen sehr intensiv in der Presse – das habe ich sehr wohl mitbekommen – um die Frage geführt wurde, wie es sich mit dem Kündigungsschutz verhält. Ich finde, meine Damen und Herren, man sollte sich einmal klar machen, was auf diesem Sektor geleistet worden ist und welche Wirkungen das hat, jedenfalls haben sollte. Wie ist denn die Lage? In Betrieben unter zehn Mitarbeitern werden diejenigen, die ab Januar 2004 eingestellt wurden, in Bezug auf die entsprechenden Kündigungsschutzregelungen nicht mitgezählt. Schauen wir uns jetzt einmal an, welche Möglichkeiten es auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt. Es wird ja immer gesagt, er sei kaum flexibel. Das ist vielleicht auch interessant für diejenigen, die uns zuhören bzw. zuschauen, das wirklich einmal aufgearbeitet zu bekommen:
Unabhängig vom Alter der Person kann jedes Unternehmen jeden zwei Jahre lang befristet einstellen.
Wenn es sich um einen Existenzgründer handelt – es wird ja zu Recht viel darüber geredet –, dann sind Einstellungen mit einer Befristung von bis zu vier Jahren möglich. Das heißt, Existenzgründer können jeden vier Jahre lang befristet einstellen, ohne dass es für die Betreffenden irgendeine Form von Kündigungsschutz gäbe.
Schließlich zur Situation der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns ja alle besonders bewegt: Für Personen ab 50 Jahren existiert so gut wie kein Kündigungsschutz, denn für die ersten zwei Jahre besteht die Möglichkeit, sie befristet einzustellen. Für Personen ab dem 52. Lebensjahr gibt es keine gesetzlichen Regelungen mehr in Bezug auf befristete Einstellung. Sie können also unabhängig von den Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse jederzeit eingestellt und entlassen werden, da ein Kündigungsschutz für diese Personengruppe nicht mehr existiert.
Meine Damen und Herren, das sollte eigentlich dazu führen, dass das Gerede darüber, es habe keinen Sinn, einen älteren Arbeitnehmer einzustellen, weil man bei einem schwächeren Betriebsergebnis ihn nicht entlassen kann, nun endlich aufhört. Hier ist ein Popanz aufgebaut worden.
Ich will in dem Zusammenhang eines deutlich machen: Wer geglaubt hätte – wir haben ja alle erwartet, dass es so kommt –, dass die Lockerung des Kündigungsschutzes im eben dargestellten Sinne bei den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei denen über 50, zu einer massiven Einstellungswelle in den Betrieben führte, der sieht sich getäuscht. Das muss ich leider sagen.
Wir haben also in dem Bereich keinen Kündigungsschutz mehr. Trotzdem liegt die Beschäftigtenquote bei den älteren Arbeitnehmern bei nur sage und schreibe 40 Prozent. Dabei geht es um die, die über 55 sind. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Welche Vergeudung von Wissen, von Erfahrung, von Fähigkeiten, auch von Kreativität wird da volkswirtschaftlich betrieben! Das können wir auf Dauer doch nicht zulassen.
Ich wäre ja sehr dankbar, wenn angesichts dieser Lage, beim Kündigungsschutz mit gleichem Nachdruck und mit den gleichen großen Schlagzeilen darauf hingewiesen würde, dass jetzt nicht nur die Möglichkeit besteht, sondern dass es die Pflicht von Unternehmen ist, auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht zu verzichten, sondern sie in den Produktionsprozess einzubeziehen.
Das zweite große Thema, das mit der Diskussion um die angeblich mangelnde Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt immer zusammenhängt, ist die Frage der betrieblichen Bündnisse. Ich würde raten, einmal einen Blick in die Wirklichkeit zu werfen und nicht ständig neue ideologische Popanze aufzubauen.
Die Wirklichkeit in Deutschland – übrigens keineswegs nur bei den großen Unternehmen – ist doch so, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Gewerkschaften und ihre Betriebsräte sehr wohl in der Lage sind, betriebliche Bündnisse zu schließen, wenn es die Notwendigkeit dazu gibt, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Sie sind zum Verzicht immer noch bereit gewesen. Ich würde mir wünschen, die gleiche patriotische Einstellung, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, wäre auf der anderen Seite auch gegeben.
Übrigens funktionieren die betrieblichen Bündnisse keineswegs nur, wenn es darum geht, die Arbeitsplätze in bestehenden Betrieben zu retten. Nein, wer nicht mit Scheuklappen durch die Gegend läuft, der kann sehr wohl mitbekommen, wie zum Beispiel im Osten unseres Landes durch betriebliche Bündnisse Ansiedlungserfolge erreicht worden sind.
Ich nenne sie Ihnen gleich. Als es um die Frage ging, wo BMW investiert, ob in Tschechien, in der Slowakei oder in Deutschland, ist ein betriebliches Bündnis über Arbeitszeit- und Entgeltbedingungen geschlossen worden, das die Ansiedlung in Deutschland überhaupt erst möglich gemacht hat. Das zeigt doch, dass es funktioniert.
Ich könnte mit der gleichen Berechtigung Porsche nennen und auch andere Automobilfirmen, um die es geht, zum Beispiel Opel in Eisenach. Aber ich will eine Ansiedlungsentscheidung nennen, die jüngst nur zustande gekommen ist und zustande kommen konnte, weil die Gewerkschaft flexibel genug war – es handelt sich übrigens um Verdi –, ein solches betriebliches Bündnis abzuschließen.
Ich meine die Ansiedlung von DHL in Leipzig, ein interessanter Vorgang.
Man sieht doch, dass sich angesichts dessen, was wir bei der Diskussion um die Agenda 2010 vor zwei Jahren gesagt haben – gesetzlich handeln wir, wenn sich nichts bewegt –, sehr wohl etwas bewegt hat, dass es hinreichende Öffnungsklauseln gibt. Meine Bitte ist: Lasst uns auf die Einsichtsfähigkeit der Beschäftigten, ihrer Betriebsräte, ihrer Gewerkschaften setzen, die diese Einsichtsfähigkeit nachgewiesen haben, und lasst uns – es ist ja üblich geworden, sich auf Montesquieu zu beziehen –
auch in diesem Fall sagen: Ein Gesetz, das nicht notwendig ist, unterbleibt besser.
Ich glaube also, dass wir die Gewerkschaften und die Beschäftigten ermuntern sollten, diesen Weg der Flexibilisierung in den Betrieben weiterzugehen. Das geschieht auch. Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen, aber Sie kennen sie alle. Deswegen denke ich, dass wir weiter auf die Bereitschaft zur Flexibilität, die bereits nachgewiesen worden ist, setzen sollten; die Zahl der Beispiele ließe sich vermehren.
Teil der Agenda war auch, die Lohnnebenkosten dadurch zu begrenzen, dass die Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben. Entgegen allen Unkenrufen haben wir das geleistet, meine Damen und Herren. Das war nur durch eine Reihe von Reformschritten möglich, die schon wieder in Vergessenheit geraten sind; ich weiß nicht, warum. Es ist doch wohl so, dass die Beiträge nur deshalb stabil gehalten werden konnten, weil wir die Kapitaldeckung neben die Umlagefinanzierung gestellt haben.
20 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich eine Zusatzversorgung – meistens eine betriebliche – geschaffen; 20 Millionen Menschen haben eine Kapitaldeckung aufgebaut und damit das Verhältnis zwischen der solidarischen Umlagefinanzierung und der eigenen Vorsorge zugunsten der eigenen Vorsorge verändert.
Meine Damen und Herren, durch die Reformen hat sich die Rentenbezugsdauer verändert, weil wir es geschafft haben, beim realen Renteneintrittsalter ein Jahr draufzulegen. Das reicht nicht. Auch hier gilt: Es ist vielleicht notwendig, über die Frage nachzudenken, ob das nominale Renteneintrittsalter erhöht werden muss; aber viel wichtiger als diese Diskussion ist die Anstrengung zur Erhöhung des realen Renteneintrittsalters. Diese Anstrengung muss fortgesetzt werden, übrigens auch aus ökonomischen Gründen.
Die Lohnzusatzkosten für die Rente konnten übrigens nur stabil gehalten werden, weil wir massiv Geld über die – viel gescholtene – Ökosteuer in die Rentenkasse geben.
Deswegen warne ich diejenigen, die das oberflächlich kritisieren; eine Veränderung hätte nämlich negative Folgen für die Stabilität der Beiträge und damit für die Stabilität der Lohnzusatzkosten.
Ich füge hinzu: Wir sind es doch gewesen, die dafür gesorgt haben, dass das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung durchgesetzt wurde, ein Prinzip, bei dem es darum geht, dass diejenigen, die aktiv beschäftigt sind, in Bezug auf ihre Beiträge deutlich entlastet werden. Das wird so sein, meine Damen und Herren, und das wird Auswirkungen auf die Stabilität der Beiträge und der Lohnzusatzkosten haben.
Wer fair ist, wer die Sorgen, die es angesichts der Arbeitslosenzahlen ohne Zweifel gibt, ernst nimmt und wer auf der anderen Seite kein Zerrbild von Deutschland zeichnen will, der muss darauf hinweisen, dass diese Reformschritte – im Übrigen international höchst beachtet und gewürdigt – positive Erfolge gezeigt haben. Es ist keineswegs so, dass wir ökonomisch gesehen in einem Jammertal lebten. Im Gegenteil: Die Auftragseingänge im verarbeitenden Gewerbe sinken nicht, sie steigen. Im Januar hat der Export gegenüber dem Vorjahr um 9,5 Prozent zugenommen, und das in einer Situation, in der wir durch die Euro/Dollar-Relation wahrlich nicht bevorzugt werden, in einer Situation, in der international inzwischen eingesehen wird, dass in den letzten Jahren unter den G-8-Staaten allein Deutschland real mehr Anteil auf den internationalen Märkten gewonnen hat. Das ist doch ein Zeichen von Kraft, die in der Volkswirtschaft steckt, und nicht von Schwäche.
Wir würden einen riesigen Fehler machen, wenn wir es zuließen, dass ein Zerrbild der Lage Deutschlands gezeichnet würde. Wir haben Probleme – keine Frage. Aber wir haben auch die Kraft – das ist nachgewiesen –, mit diesen Problemen fertig zu werden.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass das, was sich mit der Agenda verbindet, wirklich Wirkungen zeitigt und dass wir gut daran tun, unbeirrt und mit aller Kraft, über die wir verfügen, diese Reformen Wirklichkeit werden zu lassen und die Arbeit der Umsetzung anzugehen. Genau das tun wir.
Gleichwohl muss ich sagen: Es ist richtig, dass wir auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Impulse wir – wenn es geht, gemeinsam – geben können. Die internationale Situation, was den Wettbewerb angeht, hat sich ungeachtet der Kraft der deutschen Wirtschaft nicht verbessert, nicht nur wegen der Erweiterung der Europäischen Union, aber auch wegen der Erweiterung der Europäischen Union. Das führt naturgemäß dazu, dass wir uns zu überlegen haben, wie wir auf dem Gebiet der Steuerpolitik weiter vorgehen.
Bevor ich dazu Bemerkungen und Vorschläge mache, will ich auf eines hinweisen. Wie ist denn die Steuerdebatte verlaufen? Durch die drei Stufen der Steuerreform sind den Unternehmen und den privaten Haushalten 56 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden. Man muss das angesichts der ständigen Forderungen immer wieder sagen.
Wir haben den Spitzensteuersatz, der bei unserem Amtsantritt 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent gesenkt. Wir haben eine uralte Forderung des Mittelstandes, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Unternehmensteuer der Personengesellschaften – das ist bekanntlich die Einkommensteuer –, erfüllt. Großes Lob haben wir dafür nicht bekommen, obwohl wir es verdient gehabt hätten. Obwohl die Sache richtig war, hat es nie ein Lob gegeben.
Es ist eine enorme Erleichterung gerade für den Mittelstand, dass die Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer angerechnet wird.
Wir haben im Übrigen – das sage ich an die Adresse der Skeptiker – auch kräftig am unteren Ende gearbeitet. Die Reduzierung des Eingangsteuersatzes von 25,9 auf jetzt 15 Prozent ist von uns – ich darf sagen: von euch – geleistet worden.
Diesen Erfolg sollte man sich nicht kaputtmachen lassen. Die Folge dessen ist, dass Deutschland in diesem Bereich eine Steuerquote hat, die im unteren Drittel des europäischen Geleitzuges liegt.
Wir haben indessen – das wird den einen oder anderen schmerzen – ein Problem bei den Kapitalgesellschaften.
Das ist das Problem relativ hoher nomineller Steuersätze. Damit verbunden haben wir ein anderes Problem: Wegen der hohen nominellen Steuersätze wird immer wieder der Versuch unternommen, die eigentlich fälligen Steuern durch exorbitante Verrechnungspreise auf der einen Seite und Gewinnverlagerungen auf der anderen Seite nicht zahlen zu müssen. Wenn die Differenz zu groß ist, hat das zwei Folgen: Es wird versucht, sich bei jeder sich ergebenden Chance vor der Bezahlung der Steuern zu drücken. Das wiederum führt zu mangelnden Einnahmen bei den öffentlichen Haushalten.
Ich schlage deswegen vor, dass wir uns miteinander – wir brauchen den Bundesrat dazu – darauf einigen, den Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 19 Prozent zu senken. Es muss glasklar sein, dass es dabei darum geht, die Finanzierung so zu gestalten, dass das Steueraufkommen durch das Schließen von Steuerschlupflöchern nicht kleiner, sondern größer wird, die Finanzierung also aufkommensneutral gemacht wird.
Ich will andeuten, in welche Richtung meiner Meinung nach eine solche Finanzierung gehen sollte. Ich glaube, es ist angemessen, zwischen der Belastung der Unternehmen und derer zu unterscheiden, denen die Unternehmen gehören. Mit der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens haben wir das getan: Man kann die Besteuerung der Aktionäre im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrens verändern, also die Steuerbelastung der Aktionäre vergrößern und dafür die Steuerbelastung der Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, kleiner machen. Ich glaube, es ist auch angemessen, auf das zurückzukommen, was wir im Jahre 2003 miteinander diskutiert haben, nämlich die Frage, ob die Mindestbesteuerung nicht zur Senkung der Unternehmenssteuersätze – ich sage es ausdrücklich – erhöht werden kann. Schließlich glaube ich, dass wir beim Abbau von Steuersubventionen, den wir nicht so weit geschafft haben, wie es objektiv notwendig ist, endlich Ernst machen müssen.
Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir bei den Steuersparmodellen die Verlustverrechnungen deutlich beschränken und auf diese Weise Raum für das schaffen, was aus Wettbewerbsgründen für unsere Unternehmen notwendig ist – was wir also machen müssen, was wir aber im Interesse der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte aufkommensneutral gestalten müssen. Anders, meine Damen und Herren, wird es nicht gehen, aber so könnte es gehen!
Meine Bitte ist: Machen Sie mit bei dieser so wichtigen Operation.
Ich glaube, dass man darüber hinaus das verändern muss, was ich eingangs meiner Ausführungen zur Steuerpolitik erwähnt habe, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer. Als wir diese Operation seinerzeit durchgeführt haben, haben wir gesagt: Mit der Operation erreichen wir, dass wir die Gewerbesteuer bis zu einem Hebesatz von 390 Punkten voll anrechnungsfähig machen. Es gibt jetzt eine interessante Entwicklung: In dem Moment, in dem man den Spitzensteuersatz senkt, entstehen Folgen negativer Art für die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Der Satz liegt jetzt bei ungefähr 340 Punkten. Ich finde, im Interesse der Förderung des Mittelstandes sollten wir den alten Zustand wiederherstellen. Das geht, wenn man den Anrechnungsfaktor der Gewerbesteuer von jetzt 1,8 Prozent auf 2 Prozent erhöht. Ich bin für eine solche Maßnahme und hoffe auf tätige Mitarbeit im Bundesrat, meine Damen und Herren.
Schließlich geht es mir um eine Frage, die im Bundesrat gelegentlich schon diskutiert worden ist und hinsichtlich deren ich glaube, dass man endlich Nägel mit Köpfen machen muss. Wir reden ja sehr intensiv über Neugründungen und über die Frage, wie wir Neugründungen von Betrieben erleichtern können. Das ist auch richtig so. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir diejenigen erhalten können, die es schon gibt.
In den nächsten Jahren wird es eine große Anzahl von Betriebsübergängen – man nennt sie auch Erbschaften – geben.
Ich beziehe mich – damit dies völlig klar ist – nicht auf private Erbschaften, sondern auf die Übergänge von Betrieben, insbesondere von kleinen und mittleren.
Ich bin dafür – ich weiß, Herr Ministerpräsident, dass auch Bayern dafür ist –, dass wir das Modell umsetzen, über das diskutiert worden ist, nämlich bei einem Betriebsübergang jedes Jahr 10 Prozent der an sich fälligen Erbschaftsteuer abzuziehen, wenn dieser Betrieb erhalten wird. Ich weiß, dass sowohl in Bayern als auch in Nordrhein-Westfalen, meine Herren Ministerpräsidenten, darüber diskutiert worden ist. Ich finde, das kann und soll man machen. Ich weiß, dass die betroffenen Kollegen in den Ländern dafür geradestehen müssen. Denn die Steuern, die da anfallen, sind Steuern der Länder.
– Die Maßnahme ist absolut sinnvoll.
Die Bundesregierung wird einen solchen Gesetzesvorschlag unterstützen und, wenn Sie uns bitten, auch selber einbringen. Aber klar ist natürlich, dass es dann im Bundesrat kein Gewürge geben darf, sondern dass Sie sicherzustellen haben, dass das auch läuft.
Denn es geht ja nicht, solche Gesetze im Bundesrat einzubringen und sie später abzulehnen. Soweit ich weiß, hat die Staatsregierung das nach dem Motto getan: Wir bringen ein, wenn die Ablehnung gesichert ist. Das kann ja nicht der Fall sein.
Lassen Sie uns also diese Maßnahme, auf die der Mittelstand in Deutschland wartet, bitte schön auch wirklich machen!
Wir schlagen zusätzlich vor, dass wir die Mittelstandsbank des Bundes in den Stand versetzen, innovativen Mittelständlern für die Förderung von Innovationen Kredite in Höhe von 2 Prozent unter dem Marktzins zu gewähren.
Das, glaube ich, wäre ein Paket zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, das sofort auf den Weg gebracht werden könnte, ohne dass man auf etwas verzichtet, ein Paket, das wir ohnehin machen müssen und zu dem der Sachverständigenrat gebeten worden ist, Vorschläge zu machen.
Wir haben in der Tat das Problem, dass wir in einem vereinigten Europa außerordentlich unterschiedliche Steuersätze – ich rede über die direkten Steuern – und außerordentlich unterschiedliche Bemessungsgrundlagen haben. Wir arbeiten sehr daran – das ist schwer genug; das ist übrigens nicht nur auf die neuen Mitglieder bezogen; es gibt auch ältere Mitglieder, die da Schwierigkeiten machen –, eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die direkten Steuern zu schaffen. Angesichts der Entscheidungsprozesse in Europa ist das erstens nicht leicht und zweitens wird es dauern. Das liegt nicht an uns. Aber wenn ich mir einige andere Länder anschaue, dann weiß ich, was da an Arbeit bevorsteht. Ich sage es noch einmal: Das ist keineswegs nur auf die neuen Mitglieder bezogen, die ab 1. Mai letzten Jahres dabei sind. Auch große ältere Mitgliedstaaten – ich denke an Inseln und Ähnliches – haben da ein erhebliches Verweigerungspotenzial; das muss man einfach so sehen.
Ich bin dafür, dass man dies einbezieht und dass man den Sachverständigenrat auf dieser Grundlage bittet, möglichst rasch – ich hoffe, bis zum Herbst dieses Jahres – Konkretes dazu vorzulegen, wozu der Sachverständigenrat schon einen Vorschlag gemacht hat, nämlich wie man auf der Basis gemeinsamer Bemessungsgrundlagen zu einer rechtsformneutralen Besteuerung der Unternehmen kommen kann. Das ist ein wichtiger Punkt.
Die Fachleute nennen das Dual Income, also die Trennung bei der Steuer zwischen betrieblicher und privater Sphäre ohne Ansehung der Rechtsform des Unternehmens. Daran wird gearbeitet. Diese Vorschläge sollen bis Ende oder besser bis Herbst dieses Jahres vorliegen.
Wir werden dann miteinander darüber reden müssen, wie wir diese umsetzen. Dabei ist eines zu berücksichtigen: Wenn man sich das vorstellt, erkennt man, dass man in der Besteuerung zu bestimmten Sätzen kommen wird. Es kann sein, dass die kleinen und mittleren Unternehmen, wenn man bestimmte Sätze vorsieht, dann unter Umständen höher besteuert werden, als das gegenwärtig der Fall ist. Das wäre falsch.
Deswegen wird man sehr genau betrachten müssen, um was es dabei geht.
Der Sachverständigenrat ist gebeten worden, ein Sondergutachten vorzulegen; dies wird er sicherlich auch tun.
Meine Bitte ist, diese Dinge rasch in Angriff zu nehmen. Alle meine Vorschläge verbauen nicht den Weg in eine grundsätzlich erneuerte Unternehmensbesteuerung nach dem skizzierten Muster. Wir sollten uns darauf verständigen, sie jetzt zu realisieren.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung daran anknüpfen, meine Damen und Herren: Wenn wir dies miteinander tun – angesichts der Situation der öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen wird es eine gewaltige Kraftanstrengung sein –, dann erwarte ich, dass nicht gleich die nächste Forderung nachgeschoben wird.
Wenn die Politik einen Rahmen geschaffen haben wird, der wirklich auskömmlich ist, dann sollte endlich das ständige Gerede von der Verlagerung von Betriebsstätten und Arbeitsplätzen aufhören und in Deutschland investiert werden. Diese Erwartung richte ich an die deutsche Wirtschaft.
Der zweite Bereich, über den wir uns verständigen müssen, betrifft die kurzfristige Verstärkung der Investitionen. Die langfristigen strukturellen Grundlagen sind durch die Reform-Agenda angelegt; aber wir müssen kurzfristig etwas tun, meine Damen und Herren. Ich will jetzt nicht in alle Einzelheiten gehen.
– Nun warten Sie ab; wie Sie gemerkt haben, erwähne ich genügend Konkretisierungen.
Wir müssen schneller zu Existenzgründungen kommen, als es gegenwärtig der Fall ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit einer Novelle des GmbH-Gesetzes können wir zu einer substanziellen Absenkung des für die Gründung notwendigen Mindestkapitals kommen. Wir werden ein elektronisches Handelsregister einführen, damit Neugründungen binnen Tagen realisiert werden können und nicht Monate brauchen. Dieser Punkt hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun.
Des Weiteren müssen wir jede Anstrengung unternehmen, um bei der Verkehrsinfrastruktur mehr als bislang vorgesehen zu machen.
Deshalb werden wir jährlich 500 Millionen Euro zusätzlich im Haushalt mobilisieren, um ein Zweimilliardenprogramm für die nächsten vier Jahre aufzulegen, das die Verkehrsinfrastruktur verbessert.
In diesem Bereich nutzen wir nicht alle Möglichkeiten, um auch privates Geld zu mobilisieren. Deshalb halte ich es für wichtig, zu prüfen, ob es möglich ist, durch Finanzierungen über private Gesellschaften nach österreichischem Vorbild zu einer Verstetigung der Infrastrukturinvestitionen zu kommen.
Wir werden mit dem von den Fraktionen vorbereiteten Beschleunigungsgesetz versuchen, im Bereich der Public Private Partnership privates Kapital in Milliardenhöhe zu mobilisieren,
um konkrete Projekte wie die A 1 in Nordrhein-Westfalen und die A 4 in Thüringen zusammen mit der Wirtschaft schneller umzusetzen, als es bei knappen öffentlichen Mitteln möglich wäre.
Wir werden ein Planvereinfachungsgesetz vorlegen, das hilft, diese Investitionen schneller zu realisieren, als es gegenwärtig der Fall ist. Dies werden wir nicht auf einen Teil unseres Landes beschränken und es auch auf Investitionen in Stromnetze ausdehnen, die wir in der nächsten Zeit dringend brauchen und die ebenfalls zügiger ausgebaut werden müssen.
Mit der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz, auf die sich die Koalitionsfraktionen unter Mithilfe des einen und anderen geeinigt haben, werden wir mehr Rechtssicherheit für die Energieversorger erreichen. Wir werden erreichen – das ist von den Energieversorgern mitgeteilt worden –, dass bis zum Jahre 2010 sage und schreibe 20 Milliarden Euro in neue Kraftwerke, in die Ertüchtigung alter Kraftwerke und in die Netze investiert werden. Das ist eine Entwicklung, die ich für außerordentlich positiv ebenso wie für außerordentlich notwendig halte.
Lassen Sie mich zu einem Punkt kommen, der nach meiner Meinung wichtig ist und über den – auch zu Recht – viel gestritten worden ist. Ich meine die Frage: Wie geht es mit der Grünen Gentechnik weiter? Wir werden ein Gentechnik-II-Gesetz bekommen, das zusammen mit dem ersten Gesetz einen vernünftigen Rechtsrahmen für Investitionen in diesem Bereich darstellt.
Ich weiß, meine Damen und Herren, dass in diesem Gesetz bezogen auf die Haftungsfragen nicht alles so ist, wie sich das die Wirtschaft, die investieren soll und will, vorgestellt hat. Viele haben gesagt: Die Haftung sollen die öffentlichen Hände übernehmen. Aber ist das wirklich der richtige Weg? Können wir bei allem, was von der Wirtschaft neu begonnen wird, die Risiken wirklich so verteilen oder ist es nicht sinnvoll, zu sagen: Wir wollen einen vernünftigen Rahmen setzen; wir erwarten aber auch, dass ihr auf der Basis dieser gesetzlichen Regelungen zu Fonds kommt, die die Haftung unter euch regeln?
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass manchmal merkwürdig argumentiert wird, wenn man einerseits alles und jedes dem Staat überlassen will, jedenfalls dann, wenn man selbst betroffen ist, andererseits aber immer über Staatsfreiheit und Staatsferne redet.
Ich glaube, dass mit beiden Gesetzesvorhaben ein fairer Ausgleich und Planungsregelungen geschaffen worden sind, die Investitionen ermöglichen. Ich weiß, dass ein großes deutsches Unternehmen demnächst Ausbringungen machen wird. Ich bin im Übrigen bereit – wir haben das schon im Bundesrat angekündigt –, den gesetzlichen Rahmen zu setzen und die Aktionen auf der Basis dieses gesetzlichen Rahmens auch wirklich zu gestalten und nach zwei Jahren zu überprüfen. Wir werden sehen, ob wir in diesem Bereich unter dem europäischen Gesichtspunkt zu Veränderungen kommen müssen oder nicht. Vor einem sollten wir uns aber hüten, nämlich davor, die Zurückhaltung im gesamten Bereich der Gentechnik – es geht übrigens auch um Rote und Weiße Gentechnik – einseitig zu verteilen.
Ich erinnere an die Debatten zum therapeutischen Klonen hier im Deutschen Bundestag, wo ich quer durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages – ich sage das mit allem Respekt – ein Maß an Zurückhaltung erlebt habe, das ich jedenfalls nicht für richtig halten konnte. Ich will das nur so sagen.
– Ich weiß, Herr Gerhardt, dass wir da einer Meinung sind. Es ist auch nicht schlimm, wenn auch wir einmal einer Meinung sind.
Ich will das hier nur sehr deutlich sagen, damit nicht der Eindruck entsteht, die Sensibilität in diesem Bereich – um es freundschaftlich zu sagen – sei nur in der Mitte des Hohen Hauses vorhanden, also nur bei den Grünen,
und die anderen seien nur darauf aus, das wirtschaftlich Vernünftige zu tun.
Ich denke, wir wollen eine vernünftige Balance finden. Mit den Gentechnikgesetzen I und II ist sie fürs Erste gefunden. Also lassen Sie uns nicht Debatten von gestern führen, sondern darauf setzen, dass jetzt die Ausbringung geschieht und wir in diesem Bereich weiterkommen. Wir werden dann sehen, ob wir nach zwei Jahren zu Veränderungen des gesetzlichen Rahmens kommen müssen oder nicht. Jedenfalls sollte begonnen werden. Ich denke, das ist die Aufgabe, die vor uns liegt.
Wir werden im Übrigen – weil ich beim Thema Investitionen bin – dafür sorgen, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm bis 2007 auf dem jetzigen Niveau – das sind insgesamt 720 Millionen Euro, die nach bisherigen Erfahrungen Investitionen in Höhe von etwa 5 Milliarden Euro auslösen – weitergeführt werden kann. Das ist durchfinanziert und das kann hier geschehen.
Im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen und vor allen Dingen der Handwerksbetriebe geht es um den Erhalt von immerhin 60 000 Arbeitsplätzen und – wo möglich – um die Neuschaffung weiterer Arbeitsplätze. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden, wahrlich nichts, was auf die leichte Schulter genommen werden könnte.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, zu welchen neuen Impulsen es vor dem Hintergrund der Diskussion über die Agenda 2010 und der Aufgaben der Bundesagentur auf dem Arbeitsmarkt nach meiner Auffassung kommen muss.
Ich glaube, dass diejenigen, die da seinerzeit im Vermittlungsausschuss besonders tätig waren, inzwischen eingesehen haben, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten von Langzeitarbeitslosen noch einmal überprüfen müssen.
Wir hatten seinerzeit Vorschläge gemacht. Ich will übrigens sagen: Ich gehe sehr respektvoll mit den Gegenvorschlägen um. Auch sie enthalten diskussionswürdige Überlegungen. Das kann man nicht bestreiten. Denn wir müssen der Gefahr widerstehen, dass wir über Transferleistungen einerseits und Hinzuverdienstmöglichkeiten andererseits dafür sorgen, dass Menschen zu lange in diesen Beschäftigungsverhältnissen bleiben. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den diejenigen eingebracht haben, die damals skeptisch waren, und den man nicht mit leichter Hand wegwischen darf. Ich glaube, es lässt sich ein vernünftiger Mittelweg finden. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten. Denn auch da brauchen wir eine Zustimmung des Bundesrates, wenn wir das verändern wollen – wofür ich bin.
Den entscheidenden Punkt werden wir in der nächsten Zeit bei der Stärkung der Vermittlungsaktivitäten – zunächst für die unter 25-Jährigen – leisten müssen.
Sie wissen: Diejenigen, die unter das SGB II fallen – das sind diejenigen, die Arbeitslosengeld II bekommen –, haben einen Rechtsanspruch entweder auf einen Ausbildungsplatz, auf eine Maßnahme der Qualifizierung oder auf einen Arbeitsplatz. Wenn wir bei den Langzeitarbeitslosen mit aller Kraft beginnen, können wir es schaffen, diesen Rechtsanspruch zu realisieren. Wir haben dafür etwa 7 Milliarden Euro in der Bundesagentur zur Verfügung. Wir sollten dieses Bemühen auf diejenigen ausdehnen, die unter das SGB III fallen, die also Arbeitslosengeld I beziehen oder keine Leistungen bekommen, weil sie noch bei den Eltern sind und diese Leistungen aus diesem Sicherungssystem bekommen.
Mir geht es darum – ich bin mir mit dem Wirtschafts- und Arbeitsminister völlig einig –, dass wir die Kräfte der Bundesagentur auf zwei Bereiche konzentrieren. Zum Ersten müssen wir es schaffen, den Jungen eine Perspektive zu geben.
Das ist übrigens auch aus demographischen Gründen notwendig. Wenn wir es nicht schaffen, die mehr als 600 000 jungen Leute unter 25 Jahren aus der Perspektivlosigkeit herauszuholen, dann werden wir das bitter bereuen, weil uns in kürzester Zeit die Arbeitskräfte fehlen werden, die wir brauchen, um weiter Wachstum generieren zu können. Das ist der Zusammenhang. Es wäre auch eine ökonomische Katastrophe, diese Leute in der Anonymität zu lassen und ihnen keine Perspektive zu geben.
Zum Zweiten müssen wir uns auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – auf die über 55- oder über 58-Jährigen – konzentrieren, speziell im Osten. Auch hier müssen wir die Vermittlungstätigkeiten verstärken. Wir werden das tun. Wir müssen auch mit denen zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft Zusatzbeschäftigung bereitstellen können und sollen. Wir stellen uns zum Beispiel vor, 250 Millionen Euro zu mobilisieren, um in Bereichen, die besonders gut sind, mehr zu tun. Formen des Wettbewerbsdenkens wie Best Practice sind, glaube ich, auch in diesem Bereich angemessen und vernünftig und sollten ausgebaut werden.
Ich habe mich mit der Frage der befristeten Beschäftigung auseinander gesetzt. Gelegentlich wird über Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt diskutiert, ohne wirklich zu den Punkten zu kommen. Es gibt einen Punkt, wo ich selber meine, dass wir bei der Befristung etwas tun müssen: Wir müssen die befristete Beschäftigung erleichtern, in dem wir das absolute Verbot der Vorbeschäftigung aufheben. Ich glaube, diese Entwicklung ist richtig und vernünftig.
Ich plädiere dafür, dieses Verbot auf zwei Jahre zu beschränken, damit Kettenarbeitsverträge nicht unbegrenzt möglich sind.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang – auch das betrifft den Arbeitsmarkt – auf etwas hinweisen, was uns allen Sorgen macht, nämlich die in letzter Zeit evident gewordene Umgehung der Vereinbarungen, die wir anlässlich der Erweiterung der Europäischen Union getroffen haben, was die Schutzfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Umgehung der Entsenderichtlinie angeht.
Im Fleischerhandwerk und zunehmend auch im Baunebengewerbe – bei den Fliesenlegern, aber auch in anderen Bereichen – haben wir den Tatbestand, dass Sicherungsvorschriften für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Flucht in Scheinselbstständigkeit und Ähnliches umgangen werden und damit unsere Volkswirtschaft schwerster Schaden zugefügt wird,
übrigens auch den betroffenen ausländischen Arbeitnehmern, die nicht menschenwürdig beschäftigt werden. Wir müssen dazu kommen – auch hier braucht es die Zusammenarbeit von Bund und Ländern –, dass wir mit dem Aufbau von Taskforces, wie das so schön heißt, unnachsichtig alle legalen Möglichkeiten nutzen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Wir brauchen nicht nur Recht und Ordnung im Inneren, wir brauchen auch Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt; auch dort müssen wir sie herstellen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sagen zu einer Diskussion über ein europäisches Vorhaben, das nicht nur in Deutschland die Menschen bewegt, sondern auch in unseren Nachbarländern: Ich meine die Dienstleistungsrichtlinie. Klar ist zunächst: Die Fehlentwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben mit der Dienstleistungsrichtlinie nichts zu tun: weil sie noch nicht gilt. Und ganz klar ist auch: So wie Herr Bolkestein, der ehemalige EU-Kommissar, sie sich vorgestellt hat, wird sie nicht in Kraft treten.
Ich bin mir darüber mit dem französischen Präsidenten völlig einig – mit anderen im Übrigen auch –: Wir können nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfreiheit, für die man im Prinzip durchaus sein sollte, zu Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheitsstandards, die wir aus guten Gründen für unsere Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebaut haben, missachtet werden, und wir können nicht zulassen, dass die freien Wohlfahrtsverbände und diejenigen, die die Pflege von Alten und Kranken verantworten, in die Situation gebracht werden, dass sie nicht mehr mitkönnen, weil sie kaputtkonkurriert werden.
Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in Europa sein und das wird es mit uns auch nicht geben. Ich bin frohen Mutes, dass man das sowohl im Europäischen Parlament als auch in der Europäischen Kommission noch einsehen wird.
Meine Damen und Herren, ich will mich über das hinaus einem weiteren Thema widmen: Das ist die Frage, wie wir mit dem umgehen, was wir in Zukunft einerseits im Bildungssektor und andererseits im Bereich von Forschung und Entwicklung machen müssen. Ich glaube, wir finden sehr schnell eine Übereinstimmung in diesem Hohen Hause – ich hoffe, auch in der deutschen Öffentlichkeit – darüber, dass das Wohl und Wehe der deutschen Volkswirtschaft, die Chance, in Deutschland Wohlstand zu erhalten und, wo immer es geht, zu mehren, von unserer Fähigkeit abhängt, Geld zu mobilisieren, um in die Zukunft zu investieren.
Wir müssen weg von Vergangenheitssubventionen, hin zu Zukunftsinvestitionen. Wenn man sich die Situation in Europa anschaut, stellt man fest, dass Deutschland, was die Forschungs- und Entwicklungsausgaben angeht, besser ist als der Durchschnitt, besser ist als die großen Industrienationen, mit denen wir in erster Linie zu konkurrieren haben, aber deutlich schlechter als zum Beispiel die Skandinavier. Es ist völlig klar: Wenn wir oben bleiben wollen, wenn wir Spitze bleiben wollen in der Weltwirtschaft, dann müssen wir mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Und wir müssen es jetzt tun – wir können es nicht auf die lange Bank schieben.
Deshalb sage ich: Wer über Subventionsabbau redet, der kann, wenn er ernst genommen werden will, nicht darüber hinwegsehen, dass er zur Förderung von Forschung und Entwicklung die Eigenheimzulage hergeben muss.
Und kommen Sie mir jetzt nicht mit „Damit finanzieren wir eine große Steuerreform!“. Im ersten Jahr würden die Einsparungen bei gerade einmal 300 Millionen Euro liegen; damit wäre das wirklich schwierig. Ich sage: Das ist eine Subvention, durch deren Streichung in Zukunft zwischen 6 und 8 Milliarden Euro mobilisiert werden können. Das einzig Vernünftige, was man tun kann, ist, diese Mittel zu nehmen und sie samt und sonders in Forschung und Entwicklung auf der Bundesebene einerseits und in Bildungsinvestitionen auf der Landesebene andererseits zu stecken.
Deshalb muss das Gewürge im Vermittlungsausschuss aufhören. Die Mittel für die Eigenheimzulage müssen ausschließlich für Forschung und Entwicklung sowie für Investitionen in Bildung eingesetzt werden.
In diesem Zusammenhang sage ich in aller Klarheit: Ich halte es wirklich für höchst bedenklich, wie mit den 4 Milliarden Euro verfahren wird, die wir für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen.
Ich halte das für unverantwortlich, und zwar aus folgendem Grund: Investitionen in diesem Bereich – in Betreuung – sind objektiv notwendig zur Förderung der Kinder, die in den Familien das Maß an Förderung, das an sich erforderlich ist, nicht erfahren. Es gibt viele Gründe dafür, die man leider immer wieder feststellen muss. Wer über PISA redet – das ist bedauerlicherweise ja fast schon wieder vergessen –,
der muss als Erstes darüber sprechen, wie wir es schaffen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit eine Lebenschance zu geben. Das läuft über Bildung. Wenn es nicht anders geht, dann läuft das eben über Bildung und Betreuung.
Einer der größten Fehler, den wir machen könnten – ich hoffe, das werden die Ökonomen zunehmend begreifen –, wäre, nicht zu erkennen, dass wir ohne Investitionen in Betreuung volkswirtschaftlich in ungeheure Schwierigkeiten kämen, weil wir dadurch das Potenzial von Frauen und somit auch das der deutschen Wirtschaft nicht zureichend nutzen könnten.
Die Investitionen in Ganztagsbetreuung sind nicht nur eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit – das sind sie auch –, sie sind vor allen Dingen auch eine Frage der blanken ökonomischen Vernunft. Niemand in den Betrieben darf glauben, dass er das Arbeitskräftepotenzial, das wir schon in dieser Dekade brauchen, allein über eine gesteuerte Zuwanderung, für die ich bin, realisieren kann. Niemand darf das glauben. Das würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überstrapazieren. Es bleibt also dabei: Sowohl aus Gerechtigkeitsgründen als auch aus Gründen der ökonomischen Vernunft müssen wir und müssen auch die Betriebe in Betreuung investieren, weil dieses Potenzial sonst nicht genutzt werden kann. Das wäre schädlich für unsere Volkswirtschaft.
Im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit der Kommunen habe ich heute in der „Financial Times Deutschland“ – ich bitte die anderen um Entschuldigung – eine interessante Zahl zur Entwicklung der Gewerbesteuer gelesen, die ja den Kommunen zusteht. Sie beträgt inzwischen mehr als 28 Milliarden Euro und damit 4 Milliarden Euro mehr als im letzten Jahr. Man hat mir aufgeschrieben, dass das Nachkriegsrekord ist und im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 18 Prozent bedeutet.
Nun habe ich eine Bitte an die Herren Ministerpräsidenten: Reden Sie mit Ihren Innenministern darüber, dass wenigstens ein Teil dieses erheblichen Zuwachses von den Kommunen in notwendige Investitionen gebracht und nicht nur kameralistisch behandelt wird.
Das ist im Übrigen nicht alles. Wenn 95 Prozent der bisherigen Sozialhilfeempfänger in das Arbeitslosengeld II überführt werden – das hat das Gesetz ermöglicht; ob das immer mit aller Sensibilität ausgelegt worden ist, will ich dahingestellt sein lassen; ich neige schließlich nicht zu kräftigen Worten –,
dann steht jedenfalls fest, dass auch in diesem Bereich gewaltige Einsparungen zu verzeichnen sind, die genutzt werden sollten, damit in die Sanierung von Schulen, damit in die Sanierung von kommunalen Einrichtungen, damit in die Sanierung von kommunalen Straßen investiert werden kann. Wir haben die Möglichkeit, Investitionen in diesem Bereich loszutreten und damit neuen Schwung in die Investitionstätigkeit zu bringen. Diese müssen wir auch nutzen.
Zu den Zukunftsinvestitionen wird gehören – das ist wirklich schwierig –, die Pflegeversicherung in Ordnung zu bringen. Wir wollen das bis zum Herbst dieses Jahres machen. Wir als Koalition wollen ein gemeinsames Programm vorlegen, das auf der einen Seite Klarheit und Sicherheit in die Finanzierung bringt sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen ambulanter und stationärer Betreuung ermöglicht und das auf der anderen Seite etwas für diejenigen tut, die mit am schwersten dran sind, nämlich die Demenzkranken. Wir müssen in diesem Bereich etwas tun. Wir wollen hier eine große Anstrengung unternehmen. Das wird nur gehen, wenn wir uns möglichst auf ein gemeinsames Konzept einigen.
Ich will noch ein Wort zu dem sagen, was meines Erachtens die Entsprechung des Reformprogramms für die sozialen Sicherungssysteme und der Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft ist. Ich meine die Föderalismusreform. Ich glaube, wir sollten einen neuen Anfang machen.
Es ist eine Legende, dass die Bundesregierung – ja, ich – von vornherein gegen diese Reform gewesen wäre. Aber Legenden sind manchmal langlebig. Ich sage Ihnen ganz klar: Mich interessieren in diesem Zusammenhang nicht Kompetenzen, sondern mich interessiert, was passiert. Das gilt ausdrücklich auch für den Bildungsbereich. Ich sage hier klar: Wir brauchen in dieser Frage einen neuen Anlauf. Die Kommission, die Sie, Herr Ministerpräsident Stoiber, und Herr Müntefering geleitet haben, hat gute Ergebnisse vorzuweisen.
85 bis 90 Prozent waren konsensfähig. Ich frage mich, warum wir nicht zumindest diese umsetzen; aber bitte schön!
Ich sage für die Bundesregierung: Ich werde jeden Vorschlag – auch auf dem schwierigen Gebiet der Kompetenzen für die Bildung – unterstützen, auf den Sie sich mit Ihrem Kovorsitzenden einigen. Sie können sicher sein: Wir beide setzen das auch durch. Ob Sie das mit Ihren Kollegen Ministerpräsidenten hinbekommen, ist eine andere Frage.
Ich halte das für notwendig, weil es bei einer Föderalismusreform wirklich darum geht, das, was wir auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Wirtschaft geleistet haben und weiter leisten werden, durch eine Entsprechung im Staatsaufbau zu ergänzen, die zu mehr Klarheit in den Kompetenzen und damit auch in den Verantwortlichkeiten und die zu mehr Effizienz in unserem föderalen Staatsaufbau führt. Das brauchen wir, wenn wir vorankommen wollen. Ich werde zu denen gehören, die einen solch neuen Ansatz, für den ich ausdrücklich werbe, mit aller Kraft unterstützen.
Ich hoffe, eines ist deutlich geworden: Wir sind in einer wirklich schwierigen Situation, was die Arbeitsmarktzahlen angeht. Man kann sie partiell erklären. Aber selbst wenn man sie erklärt, wie ich das getan habe, bleibt die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Das ist die Herausforderung in unserem Land. Alle, die sich zu diesen Fragen geäußert haben, haben gesagt: Das ist kein konjunkturelles Problem. Ich glaube, in dieser apodiktischen Form ist das nicht ganz richtig. Es ist auch ein konjunkturelles Problem, aber nicht in erster Linie. Das gebe ich zu. Es ist mehr ein strukturelles Problem. Aber auf dieses strukturelle Problem haben wir mit dem, was in der Agenda 2010 steht, und dem, was ich an neuen Impulsen vorgeschlagen habe, reagiert.
Eines muss dabei klar sein – das erwähne ich zum Schluss ausdrücklich noch einmal –: Wir sind in Deutschland und in Europa verglichen mit anderen Weltregionen deswegen in einer vergleichsweise guten Situation, weil wir ein europäisches Sozialmodell in unterschiedlichen Formen in der Europäischen Union erhalten haben, das den Menschen zweierlei ermöglicht, nämlich die Teilhabe am erarbeiteten Wohlstand und die Teilhabe an den Entscheidungen über die politischen Prozesse. Ich glaube, wir würden einen schwerwiegenden Fehler machen, wenn wir aus sehr kurzfristigen Erwägungen heraus, weil uns wirklich Sorgen bedrücken, das Prinzip des Sozialstaates und damit das Prinzip des Zusammenhalts unserer Gesellschaft über Bord werfen würden.
Das wäre ein schwerer Fehler.
Was wir auf den Weg gebracht haben und was wir vorhaben, ist nicht einfach. Zum Teil kann es die Koalition aus eigener Kraft schaffen. Dort, wo sie das kann, wird sie es tun. Zum anderen Teil braucht sie wegen unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse hier und im Bundesrat die Zusammenarbeit all derer, die an dieser Zusammenarbeit interessiert sind, weil sie unser Land voranbringen wollen. Ich bin zu einer solchen Zusammenarbeit bereit und ich hoffe, dass wir hier im Deutschen Bundestag einen guten Anfang gemacht haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Kollegin Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir hier im Saal und viele Menschen im Lande sind sich einig, dass wir in dieser Woche eine bemerkenswerte Rede des Bundespräsidenten gehört haben.
Bemerkenswert an dieser Rede des Bundespräsidenten war nicht allein, dass er alle entscheidenden Politikfelder erfasst hat, dass er die Probleme klar benannt und eindeutig die Richtung für die Antworten angegeben hat, sondern bemerkenswert war für mich, dass die Rede zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland groß und stark gemacht hat und was Deutschland jetzt in diesen Tagen und Monaten wieder braucht.
Das ist nämlich eine Politik mit Ordnung – nicht irgendeiner Ordnung, sondern der Ordnung der Freiheit, der Ordnung der sozialen Marktwirtschaft.
An der Rede des Kanzlers heute war nicht allein auffällig, dass er zum wiederholten Mal über die Tatsache gesprochen hat, dass auch die Umsetzung der Reformen als Reformen anzusehen sind, dass er Belehrungen, Prophezeiungen, Beschönigungen und Beschuldigungen vorgebracht hat, dass er es manchmal auch an Ernsthaftigkeit vermissen ließ
und dass er viele Einzelmaßnahmen genannt hat – das ist alles schön und gut –; auffällig war auch, dass er nicht zum Kern dessen vorgedrungen ist, was Deutschland braucht.
Es geht nämlich um die Frage, mit welcher Ordnung der Freiheit wir im 21. Jahrhundert die Zukunft dieses Landes gestalten wollen.
Genau darin besteht der Unterschied zwischen Reparaturmaßnahmen und dem Glauben an die Kraft der sozialen Marktwirtschaft und die Kraft der Freiheit, die den Menschen erst mündig macht.
Natürlich ist es auch kein Zufall, dass der Bundeskanzler heute bewusst kein Bekenntnis zu Studiengebühren und zu bestimmten Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt – betriebliche Bündnisse, Kündigungsschutz, Flexibilisierungen – abgelegt hat.
Das ist eine sehr durchsichtige Strategie und es ist ganz klar, warum Sie so vorgehen. Sie wollen es nämlich uns überlassen, die notwendigen Dinge anzusprechen,
und mit einer Strategie nach dem Motto „Mit denen würde es nur noch schlimmer“ durch das Land ziehen. Aber diese Strategie wird nicht aufgehen. Denn sie ist schon in Schleswig-Holstein nicht aufgegangen. Dort ist Rot-Grün abgewählt. Das wird sich fortsetzen, weil sich die Menschen keine Angst mehr machen lassen. Sie haben nur noch eine Angst, und zwar davor, arbeitslos zu werden. Diese Angst zählt.
Angesichts von 5,2 Millionen Arbeitslosen brauchen wir ein umfassendes Konzept. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, dass diese Zahl bedrückend ist. Aber wenn das so ist – im Übrigen wären 4,8 Millionen genauso bedrückend –, dann muss man feststellen: Wir brauchen ein Konzept, das alle wichtigen Bereiche umfasst, ein Konzept, das weitere Strukturreformen in Angriff nimmt und sich nicht im Klein-Klein verliert, ein Konzept, das alles der einen Frage unterordnet, nämlich wie wir zu mehr Arbeit kommen. Daran muss sich alles in diesem Land ausrichten.
Wir müssen ran an die Realität! Die Realität heißt: Die Welt verändert sich rasant. Bei einem schnellen Wandel sind schnelle Antworten notwendig. Insofern leben wir sozusagen in den zweiten Gründerjahren dieser Bundesrepublik Deutschland und deshalb müssen wir uns entscheiden, ob wir den Geist der Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland wieder aufnehmen oder ob wir ihn aufgeben wollen. Ich meine, wir müssen diesen Geist aufnehmen: den Geist der Freiheit, den Geist der kleinen Einheiten, den Geist, der den Menschen etwas zutraut.
Der Zusammenhang besteht doch gerade darin, dass dann, wenn wir diesen Geist nicht wieder vitalisieren, als erstes die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, und zwar sowohl in Bezug auf diejenigen, die Hilfe brauchen, als auch auf diejenigen, die Leistung erbringen. Wer sich nicht ausreichend zur Freiheit bekennt, wird den sozialen Zusammenhalt von Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft aufs Spiel setzen.
Wenn wir den sozialen Zusammenhalt wollen – er ist doch gerade die große Leistung der sozialen Marktwirtschaft gewesen und muss auch die große Leistung einer neuen sozialen Marktwirtschaft sein –, dann müssen wir uns doch erst einmal mit der Realität vertraut machen.
Es ist doch so: Die Wachstumsprognosen sind nicht so wie erwartet. Dafür kann ich niemanden verantwortlich machen, sondern das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn statt 1,6 Prozent Wachstum nur 0,8 Prozent erwartet werden, wäre es richtig gewesen, deutlich zu sagen, was das für den Haushalt, die Zahlen, die nach Brüssel gemeldet werden, und die eigenen Möglichkeiten bedeutet, und Sie hätten sich Gedanken darüber machen müssen, was Sie heute realistischerweise zur Zukunft des Bundeshaushaltes in diesem Jahr sagen können. Das wäre das Erste gewesen; das haben wir erwartet.
Herr Bundeskanzler, Sie haben davon gesprochen, dass wir zwar ein Strukturproblem haben, dass wir es aber bereits durch die durchgeführten Reformen eigentlich gelöst haben. Wenn Sie ehrlich dieser Meinung sind, dann werden Sie Deutschland in den Untergang führen. Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß.
Wir haben weiterhin strukturelle Probleme; das ist die Wahrheit. Sie selbst haben noch 1998 gesagt: Bei allem, was wir tun, wollen wir uns am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen und dafür sorgen, dass jedes Instrument auf den Prüfstand gestellt wird, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeitsplätze sichert oder Arbeitsplätze schafft. Das war die Zeit, in der Sie gesagt haben: Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, dann sind wir es nicht wert, wieder gewählt zu werden. In dieser Zeit haben Sie die Realitäten noch gesehen, Herr Bundeskanzler.
Dass die Schaffung von Arbeitsplätzen erste Priorität hat, ist angesichts der Zahlen klar. Die entscheidende Frage ist: Wo sind denn zukunftsfähige Arbeitsplätze? Ich habe von Ihnen dazu wenig gehört, und wenn, dann nur sehr Bedauerliches. Das, was Sie zur Grünen Gentechnik gesagt haben, klingt wie Hohn in den Ohren derer, die sich dieser Technologie widmen wollen.
Hier ist Ihr Wirtschaftsminister noch ehrlicher. Er hat vor Vertretern der bayerischen Wirtschaft gesagt: Es ist nicht verantwortbar, alles so zu belassen, wie es ist. Recht hat der Mann. Aber er kann sich nicht durchsetzen. Nun sind auch Sie noch umgefallen, obwohl Sie eigentlich wissen, dass es nicht richtig ist. Es ist doch ein Hohn, in einem einzigen Wirtschaftsbereich der Industrie die gesamte Haftung aufzuzwingen, während in allen anderen Wirtschaftsbereichen die Verantwortlichkeit besser aufgeteilt ist. Warum gerade in diesem Zukunftsbereich? So entstehen keine Arbeitsplätze.
Ich kann nur sagen – auch Herr Steinbrück fordert das immer wieder ein –: Lassen Sie uns die Richtlinien der Europäischen Union eins zu eins umsetzen! Hätten wir das bei der Gentechnikrichtlinie gemacht, dann wären wir heute weiter. In zwei Jahren – das ist heute die Hälfte des Zeitraums, in dem sich das Wissen der Menschheit verdoppelt – sind viele Betriebe abgewandert. Angesichts dessen können Sie doch nicht sagen: Lassen Sie uns abwarten und dann schauen wir einmal! Denn wir wissen schon heute, welche Folgen das haben wird.
Bei aller Freude über Investitionen im Energiebereich wissen wir doch, dass wir keine konsistente Energiepolitik haben,
dass es volkswirtschaftlicher Unsinn ist, vorzeitig aus der Kernenergie auszusteigen,
und dass wir keine dauerhafte Perspektive haben.
Wir wissen ebenfalls, dass 40 Prozent zusätzliche Kosten auf jede Kilowattstunde, verursacht durch den Staat, zu viel sind und dass die Lenkungsinstrumente – dort der Emissionshandel, hier das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die KWK-Förderung – nicht zusammenpassen. Eine konsistente Energiepolitik könnte weitaus mehr Arbeitsplätze in Deutschland sichern als zurzeit.
Der Bundesumweltminister hat darauf verwiesen, dass er mit seiner subventionierten erneuerbaren Energie 120 000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Das freut mich. Aber Sie müssen sich einmal die Frage stellen: Wie viel Arbeitsplätze hat dieser Mann schon verhindert? Das sind mit Sicherheit sehr viel mehr.
Der Pharmastandort Deutschland ist – das gilt insbesondere für die forschende Arzneimittelindustrie – durch die Ausführung der Festbetragsregelung beeinträchtigt. Wir bekennen uns zur Gesundheitsreform; aber wir haben nicht beschlossen, dass die patentgeschützten Medikamente benachteiligt werden. Der Pharmastandort Deutschland ist international in Verruf geraten, mit nicht absehbaren Folgen für die Bundesrepublik Deutschland und die Arbeitsplätze in diesem Lande.
Wir sind natürlich dafür, dass Sie Public Private Partnership endlich auf den Weg bringen. Darüber wird doch seit mittlerweile drei Jahren diskutiert. Wir sind auch dafür, dass Sie die Mauteinnahmen schneller zu Ausgaben ummünzen. Es hat ja lange genug gedauert, bis der Bundesverkehrsminister die Sache endlich auf der Reihe hatte.
All das werden wir natürlich aktiv unterstützen. Wir sind auch für ein CO2-Investitionsprogramm. Aber ich bitte Sie inständig: Lassen Sie uns aus den Nachteilen des Bisherigen lernen und lassen Sie uns effizienter vorgehen! Dann werden wir Sie selbstverständlich unterstützen.
Wichtig sind die Arbeitsplätze der Zukunft – das sind diejenigen Arbeitsplätze, die unseren Wohlstand sichern – und wichtig ist natürlich auch, dass wir Einstellungshemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt senken. Wir müssen weiterhin überlegen, was Menschen daran hindert, wieder in Arbeit zu kommen.
Ich sage Ihnen zu – eine entsprechende Verabredung haben wir getroffen; das kam auch in Ihren heutigen Aussagen zum Ausdruck –, dass wir daran mitwirken, dass bei den Zuverdienstmöglichkeiten im Rahmen von Hartz IV etwas geändert wird. Ich sage Ihnen aber auch: Die überdimensionale Förderung von 1-Euro-Jobs insbesondere für junge Leute wird in die Irre führen. Wir müssen alles daransetzen, dass wir auf dem ersten Arbeitsmarkt mehr Beschäftigung bekommen. Deshalb wollen wir etwas ändern.
Ich habe irgendwo gehört, dass Sie jetzt Bürokratie abbauen und die Planungsverfahren beschleunigen wollen. Noch Ende letzten Jahres haben wir hier gesessen und gerungen, ob wir die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um ein Jahr oder vielleicht um zehn Jahre verlängern. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie sich an die Arbeit! Das hätten wir längst haben können. Natürlich können wir diese Regelung auch auf Energieleitungen ausdehnen.
Sie haben kein Wort zum Antidiskriminierungsgesetz gesagt.
Der Bundeskanzler wird schon gewusst haben, warum. Herr Steinbrück wird uns nachher erklären, wie er eine Eins-zu-eins-Umsetzung mit Rot-Grün schaffen will. Herr Steinbrück, halten Sie nicht einfach nur Reden im nordrhein-westfälischen Landtag, sondern überzeugen Sie fünf Sozialdemokraten aus Ihrem Landesverband! Wir stimmen zu und Sie können eins zu eins umsetzen.
Der Bundeskanzler hat uns erklärt, dass es mit den betrieblichen Bündnissen für Arbeit bei Opel, bei Siemens und bei anderen so gut klappt. Das ist richtig.
Das ist besonders für diejenigen, die in den Schlagzeilen sind, wichtig; man nutzt die Chance, in die Zeitung zu kommen. Aber oft müssen die Kleinen über Wochen und Monate daran arbeiten, dass die Gewerkschaften ihnen zustimmen, wenn sie eine solche Regelung brauchen. Wir wollen die Tarifautonomie überhaupt nicht angreifen;
vielmehr vertreten wir die Auffassung: Wenn die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der Laufzeit eines Tarifvertrages mit der Betriebsleitung einig ist, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag zur Erhaltung von Arbeitsplätzen sinnvoll ist, dann soll ihnen das unbürokratisch möglich sein. Trauen Sie den Leuten vor Ort etwas zu! Dazu fordern wir Sie auf.
Sie wollen jetzt kleinste Schritte beim Kündigungsschutz gehen. Okay, die gehen wir natürlich mit. Ich erinnere Sie aber an Ihre Rede zur Agenda 2010: Damals haben Sie von einem Optionsmodell beim Kündigungsschutz gesprochen. Warum beschließen wir nicht heute das, was Sie damals für richtig gehalten haben? Wir halten das immer noch für richtig. Deshalb werden wir weiterhin darüber reden.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Absenkung – das sagen alle Sachverständigen – der zu hohen Lohnzusatzkosten. Wir brauchen auch – dazu hätte ich nun wirklich gern ein Wort von Ihnen gehört, weil dieses Thema so allgegenwärtig ist und ja auch von Ihrem neuen Vorsitzenden des Sachverständigenrates fast täglich angesprochen wird – eine Entkopplung der Kosten für die sozialen Sicherungssysteme von den Arbeitskosten, ob es Ihnen passt oder nicht.
Natürlich wollen auch wir, weil wir genauso für die Gesundheitsreform eintreten wie Sie,
dass die Krankenkassenbeiträge sinken. Aber Sie müssen doch auch Folgendes sehen: Der Schätzerkreis sagt den Krankenkassen, dass ihre Ausgaben in diesem Jahr um 1,9 Prozent steigen. Zugleich sind noch die Schulden aus den vergangenen Jahren da und müssen erst einmal abbezahlt werden. Da ist es doch klar, dass die Krankenkassen sich überlegen, ob sie die Beiträge senken, wenn sie sie dann im gleichen Jahr vielleicht wieder erhöhen müssten. Lassen Sie uns also vernünftig auf die Kassen einwirken. Auch ich sage aber frei heraus: Ich finde es unmöglich, wenn die Vorstandsvorsitzenden mancher Krankenkassen offensichtlich vergessen haben, dass man in solch einem Job soziale Verantwortung einbringen muss. Das sage ich ganz ausdrücklich. Lassen Sie uns aber auch nichts Unmögliches von den Kassen verlangen. Es wäre nicht gut, wenn die Beiträge nach einer Senkung ein halbes Jahr später wieder erhöht werden müssten.
Nun zu den Aussagen zur Pflegeversicherung, die Sie hier gemacht haben. Ich hätte mir ehrlich gewünscht, dass diese etwas konkreter ausgefallen wären. Wie soll es denn nun gehen? Die Ministerin hat diese Woche schon vier Vorschläge gebracht. Deswegen sind wir schon ganz durcheinander.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn Sie einen Gesetzentwurf auf den Tisch legen, der der von allen Sachverständigen erhobenen Forderung Rechnung trägt, die Kosten für die Pflegeversicherung ein Stück weit von den Arbeitskosten zu entkoppeln.
Das heißt auf Deutsch – Sie haben diesen Begriff ja nicht in den Mund genommen –: Kapitaldeckung muss zu einer Säule der Pflegeversicherung werden. Wenn ein entsprechender Entwurf vorliegt, werden wir versuchen, mit Ihnen zusammenzukommen.
Die Frage, was Sie von der Bürgerversicherung halten, haben Sie in diesem Hause noch nicht beantwortet.
Es wäre mir Recht gewesen, wenn das heute geschehen wäre. Diese steht ja nun in totalem Widerspruch zu all dem, was Not tut.
Ich glaube, Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht gerechter wäre, die Krankheitskosten von Kindern, so wie wir das vorgeschlagen haben, von allen deutschen Steuerzahlern bezahlen zu lassen, als sie wieder denen in unserer Gesellschaft aufzubürden, deren Verdienst unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Das ist unser Modell.
Weil in diesem Zusammenhang gleich wieder der Vorwurf der Steuererhöhung fällt, lassen Sie mich sagen: Jawohl, wir haben entgegen unserem Steuerkonzept 21, das ganz klar sagt, welche Subventionstatbestände abgebaut werden sollen –
dagegen versuchen Sie ja schon wieder hinten und vorne zu hetzen; seien Sie einmal ehrlich –, und auch klar sagt, dass der Spitzensteuersatz auf 36 Prozent gesenkt werden soll, nun vor, diesen nur auf 39 Prozent zu senken, um auf diese Weise die Krankheitskosten der Kinder von den Gutverdienenden in diesem Lande bezahlen zu lassen. Das ist unser Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, meine Damen und Herren.
Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Benachteiligung der deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb beseitigt werden kann, haben Sie sich heute um ein Thema ein Stück weit herumgedrückt, das mit Sicherheit auf uns zukommt: Wie wird es angesichts europäischer Regelungen in Zukunft um die Mitbestimmung in Deutschland bestellt sein? Ich sage ausdrücklich, ich teile nicht die Meinung des früheren BDI-Vorsitzenden Rogowski, dass es sich hierbei um einen Irrläufer der Geschichte handelt.
Ich sage Ihnen, weil Sie vom europäischen Sozialstaatsmodell gesprochen haben: Wenn wir nur in Europa wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann müssen wir uns überlegen, wie wir in Deutschland die Mitbestimmung der Zukunft so europafest machen, dass wir dadurch nicht abfallen und Wettbewerbsnachteile haben. Dazu habe ich heute ein Wort von Ihnen vermisst; dieses Thema steht auf der Tagesordnung.
Dann stellt sich natürlich die Frage nach den Steuern. Als Erstes muss ich Ihnen einmal sagen: Man darf die Realitäten hier nicht völlig verkehren. Sie können nicht über alles informiert sein, was im Parlament stattfindet, aber gestern fand zum Beispiel im Finanzausschuss die Beratung über das Modell zur Erbschaftsteuer, so wie Sie es hier dargestellt haben, statt. Sie wissen sicherlich auch, wie die Regierungsfraktionen abgestimmt haben: glatte Ablehnung.
Aber manchmal kann man in Nächten etwas lernen und die Nacht scheint sehr lehrreich gewesen zu sein. Ich sage Ihnen: Unsere Stimmen haben Sie. Es ist ein bayerischer Antrag, die Ministerpräsidenten der Union werden das Modell unterstützen, wir haben es gestern bereits unterstützt. Also nichts wie ran; das können wir machen.
Meine Damen und Herren, Sie haben weiter vorgeschlagen, man solle ein Signal setzen bei der Körperschaftsteuer. Dazu sage ich Ihnen: Das hört sich gut an, das finden wir okay, aber Sie müssen auch genau sagen, wie es gegenfinanziert werden soll.
Es muss zum Schluss so sein, dass es der Wirtschaft in Deutschland nutzt. Es darf uns nicht anschließend mehr Kritik als Nutzen bringen. Wir sind im Grundsatz dazu bereit, solche Überlegungen zu unterstützen. Das ist keine Frage.
Dasselbe sage ich zu der Frage der Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Diese Überlegungen halten wir für vernünftig. Diesen Vorschlag können Sie in ein Gesetz umsetzen und Sie können damit rechnen, dass wir dem zustimmen.
Aber jetzt müssen wir aufpassen. Wir haben nach wie vor das Ziel einer großen, umfassenden Steuerreform, bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer so aufeinander abgestimmt werden, dass vor allen Dingen die Personengesellschaften, das heißt die Familienunternehmen, in Deutschland nicht die Leidtragenden sind.
Sie haben heute im Zusammenhang mit der Senkung des Körperschaftsteuersatzes kein einziges Wort zu Personengesellschaften und Familienunternehmen gesagt.
So geht das nun auf keinen Fall. Wenn die Gleichbehandlung garantiert wird, machen wir natürlich mit, keine Frage, aber für uns ist eine vernünftige Gegenfinanzierung Conditio sine qua non. Alles andere ist nicht machbar.
Jetzt kommen wir auf den Punkt. Wir müssen dann noch Spielraum haben – deshalb bestehen wir auch auf der Eigenheimzulage – für eine wirklich umfassende Steuerreform, und zwar nicht nur im Körperschaftsteuerbereich, so wie Sie es für den Sachverständigenrat sehen,
sondern auch im Einkommensteuerbereich. Die Menschen in diesem Lande wollen wieder verstehen, wer wofür wie viel Steuern zahlt. Das geht nur, wenn das Steuersystem einfacher und transparenter wird. Daran werden wir weiter arbeiten und wir laden Sie herzlich dazu ein, unser Steuerkonzept 21 zu unterstützen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch über die Zukunft der Bildung gesprochen. Wir sind dafür, dass mehr in Bildung investiert wird.
Tatsache ist aber, dass der Haushalt der Frau Forschungsministerin, was die eigentlichen Forschungsausgaben in Deutschland anbelangt, gesunken und nicht gestiegen ist.
Gestiegen ist er nur, weil das Forschungsministerium Aufgaben übernommen hat, die sicherlich wichtig sind, die aber von Haus aus nicht unbedingt in die Kompetenz des Bundes gehören. Das ist die Wahrheit über den Zustand des Haushalts.
Meine Damen und Herren, bei der SPD ist im Augenblick die Einheitsschule wieder ganz groß in der Diskussion.
Weil der Bundeskanzler meinte, über PISA sprechen zu müssen, muss ich ihn doch wirklich noch einmal daran erinnern, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen – alle mit klassischen Modellen, die mit Einheitsschule aber auch gar nichts zu tun haben – die ersten vier Plätze bei der PISA-Studie belegt haben.
Das spricht für das gegliederte Schulsystem.
Ein Nachbarland von Sachsen, das auf Platz drei liegt, ist Brandenburg; es liegt auf Platz 15. Wissen Sie, woher die Berater kamen, die den Brandenburgern ihr Schulsystem nahe gebracht haben? Aus Nordrhein-Westfalen! Das heißt, es muss sich nicht nur in Brandenburg etwas ändern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben zum Thema Föderalismus gesprochen. Eines geht natürlich nicht – das haben Sie sicherlich auch nicht ernst gemeint –: an einer Stelle zu widersprechen und diesen Punkt offen zu lassen, um später zu sehen, was man da machen kann, und an einer anderen Stelle direkt beschließen zu wollen. Wir sind ja großzügig und gutmütig, aber völlig dumm sind wir nicht.
Dass bei einer solchen Reform der bundesstaatlichen Ordnung Dinge zusammenhängen –
wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Umweltrecht auf die Bundesebene gehoben werden kann, weil uns ein einheitliches Gesetzbuch helfen kann, aber dafür muss der Wettbewerb in den Bildungssystemen gestärkt werden; das kann nicht einfach entkoppelt werden –, dass wir nicht das eine machen können und das andere nicht, das werden Sie verstehen.
Wir können – das sage ich ausdrücklich – bei der Föderalismusreform natürlich vorankommen und wir sollten auch vorankommen. Aber dazu muss man eines akzeptieren, nämlich die Grundgesetzordnung. Sie ist so, wie sie ist; geändert werden kann sie nur mit einer Zweidrittelmehrheit. Sie haben vor dem Verfassungsgericht bei der Juniorprofessur verloren, dann sind Sie mit den Studiengebühren auf die Nase gefallen. Ich weiß nicht, wie viele Verfassungsgerichtsprozesse Sie noch verlieren wollen. Aber ändern können wir die Ordnung nur gemeinsam. Es empfiehlt sich, die Realitäten anzuerkennen. Ich bin ganz sicher, dass man dann auch einen guten Weg finden kann.
Zu einem Thema haben Sie heute sicherheitshalber gar nichts gesagt, nämlich zu den Schulden und zum Stabilitätspakt. Sie haben uns gesagt, was Sie hier und dort machen wollen, zum Beispiel bei der KfW. Das ist alles prima. Aber Zinsverbilligungen kommen natürlich bei irgendjemandem an. In Ihrem Kabinett heißt dieser Mann Eichel. Er ist dafür verantwortlich, dass die Maastricht-Kriterien eingehalten werden.
Nun arbeiten Sie nächste Woche wieder sehr daran, dass die Maastricht-Kriterien aufgeweicht werden. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn wir in den wichtigen Stunden, wo wir über die Zukunft dieses Landes debattieren, noch mehr Wechsel auf die Zukunft aufnehmen, ohne uns um die Kinder und Enkel zu scheren, dann brauchen wir über Bildung und Forschung nicht mehr zu sprechen; dann versündigen wir uns.
Deshalb wäre es angesichts der nach unten korrigierten Wirtschaftsprognosen, des ganz knappen Haushalts, den Herr Eichel aufgestellt hat – wie immer auf Kante genäht –, und der zusätzlichen Ausgaben, die Sie uns heute hier in Aussicht gestellt haben, schon interessant, zu erfahren, wie Sie das zusammenbringen wollen. Entweder Sie rechnen nicht damit, dass die Kommunen die Programme abrufen können – das ist natürlich auch eine Möglichkeit: ein Programm aufzulegen, das keiner benutzen kann, weil er selber so arm ist, dass er dazu nicht die Erlaubnis erhält –, oder aber Sie müssen sagen, wie Sie das finanzieren wollen. Darüber muss gesprochen werden; denn so können wir die Dinge nicht hinnehmen.
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute einige Einzelmaßnahmen dargelegt. Ich habe dazu Stellung genommen. Aber was fehlt, ist die ordnungspolitische Linie.
Der Bundeskanzler, die Bundesregierung ist bestenfalls Reparateur, aber eben kein Architekt einer neuen sozialen Marktwirtschaft.
Deutschland hat sicherlich eine Reputation. Herr Bundeskanzler, Sie kommen mehr im Ausland herum als wir. Wenn Sie dort zuhören – ich hoffe, dass Sie das tun –, dann kennen Sie die Fragen, die man an unser Land stellt. Eine Frage ist, ob wir noch die Kraft haben, Spitze zu sein, oder ob wir immer weiter abfallen.
Morgen jährt sich zum 15. Mal der Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl in der früheren DDR. Dieser Tag war für viele, die hier sitzen, sehr bewegend. Mit diesem Tag verbinde ich persönlich die Einsicht, dass wir bei Veränderungen trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten immer auch dazugewinnen können. Aber das erfordert, dass wir einen roten Faden haben, dass wir wissen, wo es langgeht, und die Richtung kennen, dass wir eine Vision haben und dass wir die Kräfte aktivieren, die uns stark machen. Dazu gehört für mich die Freiheit; denn sie ist notwendig, damit Gerechtigkeit und Solidarität entstehen können.
Wir werden heute Nachmittag miteinander sprechen. Ich sage Ihnen zu: Wir werden die Gesetzesvorlagen, die Sie einbringen, fair und konstruktiv prüfen.
Wir werden, wie wir das als Opposition immer gemacht haben, klare Kriterien für unsere Prüfung anlegen. Ich will sie hier ganz deutlich benennen:
Erstens. Vorrang hat alles, was Beschäftigung fördert und nichts kostet. Das ist in der heutigen Zeit das Beste.
Zweitens. Was Beschäftigung fördert und etwas kostet, muss mit Blick auf die Zukunft solide finanziert sein.
Drittens. Was Beschäftigung gefährdet, das wird zurückgezogen, geändert oder unterlassen. Auch das werden wir einfordern, Herr Bundeskanzler.
Denn eine Politik des „Weiter so!“ verbietet sich angesichts der Lage unseres Landes. Herr Bundeskanzler, Sie sind Getriebener der Entwicklung und nicht Gestalter der Entwicklung.
Das ist das Bedauerliche für Deutschland.
Damit wir gestalten können, brauchen wir Mut und Kraft. Wir brauchen vor allem Mut und Kraft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und die Wahrheit zu erkennen. Wir müssen den Menschen in diesem Land etwas zutrauen. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen. Die Menschen müssen über die Wahrheit informiert werden.
– Man erkennt an Ihren Zurufen, dass Ihnen das nicht passt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist inzwischen so, dass die Wahrheit von Rot-Grün als Angriff
und die Wiederholung der Wahrheit von Rot-Grün als Kampagne empfunden wird. So sind die Realitäten in diesem Lande.
Ich kann Ihnen ganz klar sagen, wo das endet: In einer Wagenburgmentalität,
zum Schluss wird der Überbringer der schlechten Nachrichten beschimpft und die Dinge werden nicht so akzeptiert, wie sie sind. Sie erwecken nur den Eindruck, dass Sie für die Zukunft gut gerüstet seien. Zu dieser Wagenburgmentalität gehört beispielsweise, dass Sie in Kiel eine Koalition schmieden, obwohl Sie abgewählt sind. Aber die Menschen werden sich dazu ihre Meinung bilden.
Zur Wagenburgmentalität gehört auch die Art und Weise, mit der der Außenminister mit seinen Schwierigkeiten umgeht.
Aber diese Wagenburgmentalität hilft uns nicht weiter. Deshalb haben wir Ihnen – darüber debattieren wir heute – einen Pakt für Deutschland angeboten, einen Pakt, in dem wir uns deutlich dafür aussprechen, den Menschen in diesem Lande etwas zuzutrauen, sie nicht zentralistisch zu dirigieren, sondern ihnen Spielräume zu lassen, damit sie in diesem Land – ich betone: in diesem Land – ihre Kräfte wieder entfalten können. Das ist Verantwortung für Deutschland.
In diesem Sinne sage ich: An einem solchen Pakt für Deutschland wirken wir gerne mit.
Herzlichen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion der SPD, Franz Müntefering, das Wort.
Franz Müntefering (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.
Das war die Botschaft von Bundeskanzler Schröder beim Start der Agenda 2010 vor zwei Jahren. Für die Koalition gilt das unverändert weiter. Wir wollen sozialen Fortschritt, Erneuerung und Zusammenhalt; das ist das Ziel unserer Politik.
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers von heute und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind weitere wichtige Schritte hin zur Lage Deutschlands im Jahre 2010: hin zu Wohlstand für alle, zu sozialer Gerechtigkeit und zu einer Politik der Nachhaltigkeit. Wir sind in Deutschland mitten in diesem Prozess der Veränderung. Der ist nicht leicht; dafür braucht man Mut. Manchen von denen, die ein Stück mitgegangen sind, dauert es zu lange. Manche von denen, die ein Stück mitgegangen sind, trauen sich nicht, sich dazu zu bekennen. Manche von denen wollen nichts damit zu tun haben. Die Generalrevision von Rüttgers und die Bereitschaft von Milbradt, gegen sich selbst zu demonstrieren, sind noch nicht vergessen. Wenn endlich einmal einer aus der Opposition sagen würde, wie sich das mit der Arbeitslosenstatistik und Hartz IV verhält – das haben wir alle miteinander beschlossen –, wäre das einfach einmal ein Akt der Ehrlichkeit und der Wahrheit, die Sie, Frau Merkel, eben eingefordert haben.
Wir haben ein Maß an Arbeitslosigkeit wie bei Helmut Kohl 1998 und zudem die Veränderungen der Statistik durch Hartz IV. Das ist wahr. Das ist viel. Das auszusprechen macht schon einmal deutlich, wie man die Zusammenhänge sieht. Wir jedenfalls werden den Weg der Agenda 2010 weitergehen. Wenn Sie wollen, können Sie mitgehen. Es geht dabei um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es geht um Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt. Es geht um gleiche Bildungschancen, um die Potenziale der älter werdenden Gesellschaft. Es geht um den Investitionsstandort Deutschland und es geht um die Frage, wie sich Politik organisiert.
Wir haben uns alle vorgenommen, heute Morgen nicht polemisch zu sein. Frau Merkel, ich hatte aber bei Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der Spur waren, weil Sie sich gestern etwas in der Erwartung dessen, was der Bundeskanzler sagen könnte, aufgeschrieben haben, er Ihnen aber nun ein breites Konzept dessen vorgelegt hat, was wir bereit und fähig sind zu tun.
Darauf waren Sie nicht eingestellt und das hat Ihnen ein bisschen die Sprache verschlagen.
Deswegen will ich in Abweichung von meinem Konzept gerne auf ein paar Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben. Kommen wir zunächst zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 5 Prozent. Eine solche Senkung bedeutet 11 Milliarden Euro weniger in der Kasse der Bundesagentur für Arbeit. Wenn Sie dann mit uns zusammen ein Konzept vorlegen wollen, das ganz besonders die Interessenlage der unter 25-Jährigen im Blick hat – nach der Melodie: am Ende dieses Jahres ist keiner von ihnen mehr länger als drei Monate in Arbeitslosigkeit –, und wenn Sie auf unserem Weg – der da heißt: die Maßnahmen für die über 58-Jährigen sollen in Zukunft so lange verlängert werden, bis sich der Ruhestand anschließt – mitgehen wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass der Bundesagentur für Arbeit das nötige Geld zur Verfügung steht. Da kann man nicht gleichzeitig eben mal 11 Milliarden Euro aus populistischen Gründen streichen wollen. Das passt doch alles nicht zusammen!
Sie haben vorsichtshalber nichts zu der Notwendigkeit von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt gesagt. Wir haben im letzten Jahr ein Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beschlossen. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS genannt und beim Zoll gebündelt, umfasst heute 5 300 und bald 7 000 Personen. Die Schattenwirtschaft ist im letzten Jahr zum ersten Mal seit 1975 gesunken. Sie ist noch zu hoch. Die FKS hat im letzten Jahr Schäden in Höhe von 475 Millionen Euro im Bereich der Steuern und der Sozialversicherungsabgaben, die nicht entrichtet worden sind, aufgedeckt. Sie hat 91 000 Strafverfahren und 52 000 Bußgeldverfahren eingeleitet.
Sie sprechen darüber nicht gerne. Wenn wir dieses Thema ansprechen, kommt bei Ihnen sofort die Sache mit der Putzfrau. Uns geht es nicht um die Putzfrauen, sondern darum, dass die illegale Tätigkeit in Deutschland, die ein Ausmaß angenommen hat, das nicht mehr akzeptabel ist, mit allem Nachdruck bekämpft wird.
Die Menschen in diesem Land, die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichen Arbeitgeber, sollen sich darauf verlassen können, dass sie nicht die Dummen sind. Diejenigen, die an den Gesetzen vorbeimarschieren, müssen erfasst werden. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Das wollen wir so.
Sie haben etwas zur Pflegeversicherung gesagt, Frau Merkel, und haben dafür plädiert, man müsse im Interesse der Stabilität der Lohnnebenkosten andere Finanzierungsformen finden; Sie haben sich vorsichtig ausgedrückt. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen – der Bundeskanzler hat es deutlich gemacht –: Wir werden uns dazu im Laufe dieses Jahres positionieren. Es gibt im Bereich der Pflegeversicherung keine Lohnnebenkosten. Diese 1,7 Prozent werden von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allein gezahlt.
Man sollte wissen, über was man miteinander redet.
Sie haben das Antidiskriminierungsgesetz angesprochen. Bei uns in der ganzen Koalition – die Bundesregierung ist dabei – ist klar, dass es das Antidiskriminierungsgesetz geben wird.
Das haben wir vereinbart. Es wird kommen, und zwar, Frau Merkel, was den arbeitsrechtlichen Teil angeht, eins zu eins, wie die EU das vorgeschrieben hat.
Da gibt es bei Ihnen eine interessante Entwicklung: Wir haben in der letzten Woche eine Debatte über einen Antrag geführt, den Sie eingebracht haben. Dieser Antrag lautete: „Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“.
Inzwischen heißt es bei Ihnen: Der Vorschlag der EU soll eins zu eins umgesetzt werden. Das ist interessant.
Wir sagen Ihnen trotzdem: Dieses Antidiskriminierungsgesetz wird es geben. Im arbeitsrechtlichen Teil wird der Vorschlag eins zu eins umgesetzt und im zivilrechtlichen Teil sehen wir mehr vor, als von der europäischen Ebene vorgegeben wurde, weil zum Beispiel auch Behinderte in das Antidiskriminierungsgesetz einbezogen werden sollen.
So werden wir das nach der Anhörung deutlich verändert gemeinsam vorlegen und so schnell wie möglich im Deutschen Bundestag und im Bundesrat zur Beschlussfassung vorlegen.
Sie haben über die Gentechnik gesprochen. Wir alle haben in den letzten Tagen Zeit gehabt, mit dem VCI und großen bedeutenden Chemieunternehmen in Deutschland zu sprechen. Alle miteinander sagen:
Lasst uns einmal zwei Jahre schauen, was da läuft und wie das mit der Haftungsfrage ausgehen wird! Dann werden wir in zwei Jahren weitersehen. Das hat der Bundeskanzler angesprochen.
Deshalb lohnt es sich nicht, sich an dieser Stelle zu echauffieren. Wir haben im ersten Gentechnikgesetz klare Entscheidungen getroffen. Wir haben zwei Jahre Zeit, um zu prüfen, ob etwas korrigiert werden muss. Das sagen alle miteinander. Das zweite Gentechnikgesetz werden wir jetzt beschließen; denn auch da sind wir einer Meinung. Das wird schnell vorangehen; bei der Standortliste sind wir uns völlig einig.
Es gibt keinen Grund zu weiterer Aufregung.
Zur Erbschaftsteuer. Sie haben eben locker erzählt – dafür haben Sie auf Ihrer Seite große Begeisterung ausgelöst –, dass gestern der Antrag Bayerns angeblich im Finanzausschuss des Bundestages abgelehnt worden sei.
Der Antrag Bayerns stand gestern im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, im Finanzausschuss, überhaupt nicht zur Abstimmung.
Was gestern im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages abgelehnt worden ist, war das gesamte Steuerkonzept der CDU/CSU, das sie in ihrem „Pakt für Deutschland“ vorgeschlagen hatte.
Dies habe ich klargestellt, Frau Merkel, weil Sie zum Schluss so viel von der Wahrheit geredet haben. Sie haben immer haarscharf an ihr vorbei argumentiert.
Dann haben Sie verlangt, der Kanzler solle etwas zu den Schulden sagen. Der Kanzler hat deutlich gemacht, dass wir einen Großteil der zusätzlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung durch den Wegfall der Eigenheimzulage finanzieren wollen. Diese Zulage hat auch Sozialdemokraten immer gut gefallen; viele von uns sagen: Es wäre schön, wenn wir sie behalten könnten. Aber so zu tun, als gäbe es keine Vorschläge, ist ebenfalls dicht an der Wahrheit vorbei gewesen. Wir wollen Bildung, Forschung und Technologie fördern und dies auch durch den Wegfall der Eigenheimzulage finanzieren. Machen Sie an dieser Stelle endlich mit! Das wäre schon gut.
Frau Merkel, Sie haben sich – –
– Sie hat ständigen Beratungsbedarf; das ist klar.
Sie haben sich sehr nebulös zu der Frage geäußert, ob man neue Schulden machen kann. Sie sind heute so unklar geblieben wie auch schon in den letzten Wochen.
Am 16. März wurden Sie, Frau Merkel, im „Handelsblatt“ wie folgt wiedergegeben:
Wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht auf der einen Seite bei den Steuersätzen geben und mit der anderen bei der Mindestbesteuerung wieder einsammeln.
Im selben Interview wurden Sie weiterhin zitiert:
Für eine steuerliche Realentlastung der Wirtschaft haben wir nur sehr enge Spielräume.
Heute wollen Sie beides: Die Wirtschaft soll entlastet werden, aber neue Schulden sollen wir auch nicht machen. Erklären Sie einmal, wie das gehen soll!
Nun zu Ihren Ausführungen zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung: In der Tat gab es in der Föderalismuskommission weitgehende Einigkeit zu vielen Punkten, die wir auch wieder aufrufen und gemeinsam beschließen können. Dabei ging es unter anderem darum, die Zustimmungsrechte des Bundesrates so zu verändern, dass nicht mehr etwa 60 Prozent, sondern etwa nur noch 30 Prozent der Gesetze einer Zustimmungspflicht unterliegen. Dies soll dadurch geschehen, dass die Gesetze stärker als bisher in materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Teile aufgegliedert werden.
Wir hatten des Weiteren vereinbart, dass die Gesetzgebungskompetenzen klarer zugeordnet werden. Die Länder können die Organisations- und Personalhoheit für die bei ihnen und bei den Kommunen Beschäftigten haben. Dies schließt Art. 33 Abs. 5 GG ein; die Grundsätze des Berufsbeamtentums können fortentwickelt werden. Wer sich ein bisschen damit auskennt, weiß, wie viel Musik darin steckt.
Die Länder können das gesamte Wohnungswesen haben, all das, was sozialen Wohnungsbau ausmacht; sie bekommen auch das Geld, das dafür heute vom Bund zur Verfügung gestellt wird. Die Länder können das Versammlungsrecht, das Ladenschlussrecht, das Gaststättenrecht und den gesamten Bereich der Flurbereinigung haben. All dies bedeutet eine deutliche Verlagerung von Kompetenzen hin zu den Ländern.
Einige andere Kompetenzen sollen an den Bund gehen, zum Beispiel die rechtliche Zuständigkeit für die Erzeugung und Nutzung von Kernenergie, das Melde- und Ausweiswesen sowie das Waffen- und Sprengstoffrecht.
Außerdem soll es 15 Materien geben, bei denen zukünftig nicht mehr die Erforderlichkeitsklausel gilt. Das heißt, dass die Länder nicht mehr nach Art. 72 Abs. 2 einen Anspruch auf Materien erheben können, die heute im Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet sind. Dazu gehört zum Beispiel das gesamte Arbeitsrecht.
Ferner war ein neuer Art. 104 b in der Diskussion, der insofern interessant war, als er engen Bezug zu Dingen hatte, die heute Morgen vom Kanzler, aber auch von Frau Merkel angesprochen worden sind. Einige Länder – als einen ihrer Vertreter kann ich den Ministerpräsidenten von Hessen sehr genau identifizieren – haben in diesem Zusammenhang gefordert, dass im Grundgesetz zukünftig stehen solle, der Bund dürfe Finanzhilfen an die Länder bzw. Gemeinden nur für Vorhaben geben, die nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder sind. Was heißt das? Darüber haben wir lange gesprochen. Die Länder – speziell Hessen und die B-Länder – haben uns gesagt: Ihr sollt in das Grundgesetz schreiben, dass ihr den Kommunen keine Hilfen mehr geben könnt, so wie ihr das jetzt zum Beispiel bei den Ganztagsschulen macht.
Die Begleitmusik des Herrn Koch – andere will ich dafür nicht in Anspruch nehmen – war eindeutig: Er will in seinem Leben nicht noch einmal erleben, so hat er gesagt, dass der Bund Gelder an die Länder und die Kommunen im Rahmen eines Konzeptes gibt, mit dem man so populär werden kann, wie das an dieser Stelle geschehen ist. Das war seine Begründung.
Wenn man sich den Abfluss der Gelder ansieht, kann man sich erklären, was eigentlich passiert ist. Von der 1 Milliarde Euro, die im letzten Jahr zur Verfügung standen, ist längst nicht alles abgeflossen. Das war in den einzelnen Ländern aber sehr unterschiedlich. Hessen standen 70 Millionen Euro zur Verfügung, abgerufen worden sind aber nur 2,8 Millionen Euro.
– Ja, das ist unglaublich, und zwar erstens im Hinblick auf die Interessen der Kinder sowie der Frauen und Mütter,
und zweitens im Hinblick auf die Arbeitsplätze. Hierdurch können konkrete Arbeitsmöglichkeiten für Handwerker und kleine Unternehmen vor Ort geschaffen werden.
Deshalb sage ich noch einmal das, was der Kanzler schon angesprochen hat: Wer will, dass es vor Ort Arbeit gibt, muss zum Beispiel dafür sorgen, dass diese Milliarde, die auch in diesem Jahr zur Verfügung steht, für den Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen eingesetzt wird. Das Geld steht zur Verfügung. Bitte nehmt es und macht endlich etwas damit.
Es war einvernehmlich vereinbart, dass die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbsteuer an die Länder fällt.
Einvernehmlich vereinbart war ein Steuertausch in dem Sinne, dass die Zuständigkeit für die Versicherungsteuer in Zukunft ganz bei den Ländern, aber die für die Kfz-Steuer beim Bund liegt. Einvernehmlich vereinbart war, dass das Finanzverwaltungsgesetz für die Steuerverwaltung im Sinne einer Präzisierung des Bundesrechtes in Bezug auf die Auftragsverwaltung, die Koordinierung der Prüfungsdienste und die Bündelung der Aktivitäten zur Bekämpfung von Steuerkriminalität bearbeitet wird. Einvernehmlich vereinbart war die Haftungsfrage in Bezug auf Europa. Einvernehmlich vereinbart war das Vorgehen von Bund und Ländern in Bezug auf den nationalen Stabilitätspakt. Einvernehmlich vereinbart waren Mitwirkungsrechte von Bund und Ländern in Bezug auf die nationale Interessenwahrnehmung in Europa. Einvernehmlich vereinbart war ein Großteil der Maßnahmen in Bezug auf die innere Sicherheit. Einvernehmlich vereinbart war, dass ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen wird: Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
Ich habe all diese Dinge noch einmal aufgezählt, weil ich glaube, dass wir auch dann, wenn wir in Hinblick auf Zusammenarbeit guten Willens sind, wissen müssen: Nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft oder die Gesellschaft im Allgemeinen muss Bürokratie beiseite geräumt werden. Auch die Demokratie muss sich so organisieren, dass wir glaubwürdig sind und nicht unnötig Hürden aufbauen, die vermeidbar sind. In diesem Sinne wäre das, was wir unter dem Punkt „Bundesstaatliche Ordnung“ vereinbart haben, ein guter Schritt.
Meine herzliche Einladung an alle, die wirklich wollen, dass sich Demokratie zeitgemäß organisiert, lautet: Lassen Sie uns das machen, was ich jetzt angesprochen habe. Im Laufe des Verfahrens werden wir sehen, ob wir auch noch die Vereinbarungen in den Bereichen Bildung und Umweltrecht hinbekommen; denn zumindest beim Umweltrecht sind wir schon dicht dran. Alles andere können wir miteinander machen. Das garantieren wir.
Ich will abschließend ein wenig darauf eingehen, was Sie, Frau Merkel, mit Worten zur Freiheit begonnen und auch geendet haben. Sie haben dazu in der letzten Zeit auch einige Artikel geschrieben. Ich habe mich gewundert, dass sich andere in der CDU/CSU, die dazu sicher auch das eine oder andere sagen könnten, dazu nie geäußert haben. Zwischen uns großen und kleinen demokratischen Parteien ist doch ein Rest von Akzeptanz vorhanden. Ich wundere mich, dass Sie sich so äußern.
Sie berufen sich auf Hayek. In seinem Werk arbeitete Hayek mit bestechender Logik und überzeugenden Argumenten heraus, dass es vor allem um die Gewährleistung individueller Freiheit als Voraussetzung für Fortschritt und Prosperität einer Gesellschaft geht, also vor allem um den gesetzgeberisch garantierten Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür und ungerechtfertigtem Zwang. Das klingt gut.
In Hayeks Buch „Die Verfassung der Freiheit“ steht:
Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig.
Gerechtigkeitsüberlegungen (geben) keine Rechtfertigung für eine „Korrektur“ des Marktergebnisses ab.
… so muss ich offen zugeben, dass ich, wenn Demokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränkten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin …
Man kann über solche Sachen diskutieren. Ich empfehle Ihnen aber sehr, Frau Merkel, sich das genau zu überlegen.
Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser Stelle Hayek oder Ludwig Erhard will.
Das ist ein Unterschied. Mit Hayek gibt es keine soziale Marktwirtschaft, mit Ludwig Erhard ja. Da hat es in den letzten Tagen schwer gerumpelt; er hat sich mehrmals im Grabe umgedreht. Darauf kann ich wetten.
Wir sind jetzt bei der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Staat. Sie wissen, dass wir Sozialdemokraten nicht nur für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eintreten, sondern auch davon überzeugt sind, dass der Staat eine Aufgabe hat und sie behalten muss. Diejenigen von Ihnen, die ehrlich sind, werden das nicht bestreiten. Die Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie weit geht das? Wie lösen wir das Spannungsverhältnis auf?
Wenn wir die Rolle des Staates ernst nehmen und von den Grundwerten ausgehen, die uns alle miteinander verbinden, müssen wir wissen, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht trennbar sind. Einer der Grundwerte alleine kann nicht funktionieren. Wir müssen sie alle drei miteinander haben. Dazu hat Johannes Rau, der damalige Bundespräsident, im Mai 2004 Bedenkenswertes gesagt:
Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.
Dazu legt er auch Regeln und Pflichten zu Gunsten der Gemeinschaft fest. Damit schafft der Staat Freiräume gegen puren Ökonomismus und gegen das alles beherrschende Dogma von Effizienz und Gewinnmaximierung.
Gewiss: Eigene Verantwortung und eigene Anstrengung sind notwendig und unverzichtbar. Mehr Eigenverantwortung darf aber nicht heißen, dass die Starken sich nur noch um sich selber kümmern und die anderen sehen sollen, wo sie bleiben.
Solidarität der Schwachen mit den Schwachen – das genügt nicht. Arbeitende für Arbeitslose, Junge für Alte, Gesunde für Kranke, Nichtbehinderte für Behinderte: Darauf bleibt jede Gesellschaft angewiesen.
Johannes Rau hat sehr Recht.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt.
Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um an meinen Kollegen Müntefering mit „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ anzuschließen: Die Kombination unser aller Erbanlagen macht uns alle einzigartig – wenige einzigartig begabt und viele einzigartig durchschnittlich. Wenn Sie denen, die einzigartig begabt sind, im Bildungssystem, in der steuerlichen Belastung und in ihren Lebenschancen nicht gerecht werden, wenn Sie eher eine Neid- und Vermeidungsgesellschaft gegen sie mobilisieren,
werden Sie der Gesellschaft nicht helfen, größte soziale Sicherheit für alle herzustellen – im Sinne Ludwig Erhards, über die marktwirtschaftliche Ordnung, nämlich den Arbeitsplatz. Wir haben die soziale Sicherheit durch ständig positive Wachstumsraten erheblich erhöht. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die soziale Sicherheit neu zu organisieren und sie vom Faktor Arbeit abzukoppeln. Wenn Sie diesen Weg nicht gehen, dann werden Sie die hohe Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Da durch Arbeit und Beschäftigung eine größere soziale Sicherheit als durch Hartz IV erreicht wird, bekenne ich mich entsprechend dem Bundespräsidenten – „Vorfahrt für Arbeitsplätze“ – für diesen Weg der Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme. Das muss man in einer Regierungserklärung auch ausdrücken.
Sie haben eine Zukunftsorientierung in Bildung und Forschung angesprochen. Frau Kollegin Merkel hat völlig Recht,
wenn sie sagt, es könne nicht über eine Zukunftsorientierung in Forschung und Entwicklung sowie Bildung geredet werden, wenn in Maastricht gleichzeitig eine Schneise in die Zukunftsorientierung geschlagen wird, die es uns in Deutschland erlauben würde, mehr Schulden zu machen. Bei Maastricht geht es für mich und meine Fraktion nicht nur um die Finanzen, die Kriterien und die Einhaltung des Vertrages. Durch die deutsche Verhaltensweise wird das Vertrauen der anderen in uns zerstört. Vertrauen war im Grunde genommen immer das größte Gut der deutschen Außenpolitik.
Herr Bundesaußenminister, hat irgendjemand im Bundeskabinett eigentlich einmal darüber nachgedacht, welchen Vertrauensverlust die Bundesrepublik Deutschland mit dieser Klempnerei am Maastricht-Vertrag erleidet? Er geht weit über finanzpolitische Erwägungen hinaus. Das ist ein Verlust des Image, des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland. Sie zerstören das gute Image Deutschlands mutwillig, das aufgrund der in der Welt wahrgenommenen Leistungsbereitschaft der Nachkriegsgeneration vorhanden ist.
Sie haben in Ihrer schriftlichen Erklärung eine kurze Replik im Hinblick auf veränderte Konjunkturaussichten gemacht und gesagt,
Sie würden sich dagegen wenden, dass die Forschungsinstitute jetzt kurzatmig Prognosen korrigieren. Das ist eine bemerkenswerte Einlassung. Sie haben sie nicht wörtlich so gemacht, aber ich erlaube mir einmal, das so darzustellen.
Ihr Bundesfinanzminister hat jedes Jahr den Haushalt eingebracht und gesagt, der Aufschwung stehe vor der Tür.
Das kann man in jeder Rede nachlesen. Sie haben jedes Jahr eine Prognose abgegeben und wir haben gesagt, dass sie am Ende nicht stimmen wird. Jedes Jahr hatten wir Recht, sie haben nicht gestimmt. Auch dieses Jahr wird sie nicht stimmen. Die anderen sind doch nicht schuld daran, dass wir hier so schwache Wachstumsraten haben. Sie setzen doch die Rahmenbedingungen, die zu solch schwachen Wachstumsraten führen.
Ihr Misstrauen gegen Ihre eigenen Prognosen ist sehr wohl begründet.
Zur Bildung. Ministerpräsident Steinbrück wird nachher reden.
In der Bildungspolitik gibt es eine beklagenswerte Situation: Durch die PISA-Studien für Deutschland wurde nachgewiesen, dass die soziale Herkunft in keinem anderen Land so sehr über den Schulerfolg entscheidet wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde gesagt, dass dagegen etwas getan werden muss. Einverstanden. Bevor wir dagegen etwas tun, möchte ich nur den kurzen Hinweis geben: Bildung ist Hausgut der Länder und liegt in ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Die Länder müssen sich messen lassen. Die PISA-Studie richtet sich an sie und ihre Kultusminister, also an ihre politische Verantwortung. In keinem Bundesland ist die Verknüpfung zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg so eng und problematisch wie in Nordrhein-Westfalen.
Wir müssen das verfassungsrechtliche Hausgut der Länder beachten, die hier eine Verantwortung haben. Ich frage mich allerdings, ob die Einheitsschule die richtige Antwort ist.
Ich glaube, dass wir in diesem Land nur dann weiterkommen – auch mit der Beschäftigung –, wenn wir Wettbewerb im Bildungssystem haben. Leistung ist keine Körperverletzung.
Leistungsbereitschaft, das Heranführen an Prüfungen und das Bestehen von Herausforderungen gehören zum menschlichen Leben. Es ist entscheidend, Kinder in pädagogisch verantwortbarer Weise dort hinzuführen.
Es wäre in der Föderalismuskommission nicht zum Streit gekommen, wenn wir das beherzigt hätten, Herr Müntefering, was wir immer sagen: Die Hochschulen müssen autonom sein. Entlassen Sie sie doch in die Autonomie und damit in den Wettbewerb!
Lassen Sie sie doch ihre Studentinnen und Studenten selbst aussuchen! Lassen Sie sie doch über Studiengebühren so entscheiden, wie sie es wollen!
Die Frage ist doch nicht, ob der Bund oder die Länder zuständig sind. Warum haben Sie solche Angst vor dem Gebrauch der Freiheit durch die Wissenschaftler der Hochschulen? Warum haben Sie denn bei Forschung und Entwicklung eher das Bedürfnis, hinsichtlich der Technikfolgenrisikoabschätzung Gesetze zu machen, die die Forschung einschränken, als Wissenschaftlern in Deutschland, die ihre Forschungsarbeiten mit Ethik und klarem normativem Verhalten machen, einen Vertrauensvorschuss zu geben? Der Kern Ihres Problems bei dem ganzen Bürokratisierungsvorgang ist, dass Sie den Menschen eher misstrauen als vertrauen.
Wenn Sie das nicht überwinden, wird es in Deutschland keine Beschäftigung geben. Das ist nicht nur eine Frage der Bürokratie, sondern eine Frage der Einstellung.
Verschonen Sie uns mit Ihrer Lösung bei der Grünen Gentechnik! Sie wissen, dass dieser Bereich ein Wachstumsmarkt ist. Wir beide sind uns auch beim therapeutischen Klonen und bei der Stammzellenforschung einig. Sie wissen das genauso gut wie ich. Ihr Angebot, sich als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dafür einzusetzen, für die Grüne Gentechnik, die schon heute verantwortbare Ergebnisse zeigt und für die sich in Deutschland Forscher interessieren, die von diesem Wachstumsmarkt profitieren wollen, einen Haftungsfonds einzurichten, um praktisch mit diesem Auffangnetz die missratene Gesetzgebung zu korrigieren, kann doch nicht die Lösung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, einer großen Industrienation, für einen Wachstumsmarkt sein.
Das gilt auch für diejenigen, die anderer Meinung sind als Teile der Koalition. Das gilt auch für uns. Das nehme ich auch für mich in Anspruch. Wir beide haben genauso gute und ethisch überzeugende Gründe, die medizinische Forschung weiterzubringen, die das Leid von Menschen lindern kann. Aber ich habe den Vorteil, dass ich Vorsitzender einer Fraktion bin, die das weitestgehend mit mir teilt.
Sie sind Chef eines Kabinetts, das diese Auffassung so nicht teilt. Sie richten sich in Erklärungen oft – das kann man gut beobachten – an Ihre eigenen Reihen, um sie zu überzeugen, dass der Weg gegangen werden muss. Das ist auch bei der Gentechnik der Fall, Herr Bundeskanzler. Sie haben mit der Agenda 2010 die richtige Richtung vorgegeben. Sie haben diesen Prozess irreversibel gemacht; das bleibt Ihr Verdienst. Aber dass Sie so unglaubliche Anstrengungen unternehmen müssen, um Ihren sozialdemokratischen Genossinnen und Genossen bare Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, wird für mich immer unverständlich bleiben.
Wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass bei Ihnen und Ihrer Fraktion ein Minimum an volkswirtschaftlichen Kenntnissen darüber, wie Arbeitsplätze entstehen und die Mechanismen auf dem Arbeitsmarkt funktionieren, vorhanden ist.
Das, was Sie persönlich an physischer Kraft verbraucht haben, um diese Schmalspuragenda bis heute durchzusetzen, ist schon verwunderlich. Der Bundespräsident hat gesagt, es dürfe keine Reformpause eintreten. Ich füge hinzu: Sie hatten Ende des vergangenen Jahres die Anwandlung, dass jetzt eine eintreten könne. Sie wissen nun aber, dass das nicht möglich ist.
Erzählen Sie niemandem, die Zahl von über 5 Millionen Arbeitslosen habe sich aus den Gesetzen von Hartz I bis Hartz IV mechanistisch ergeben; die Menschen erführen jetzt endlich die Wahrheit. Nein, diese Arbeitslosenzahl – aus meiner Sicht ist sie in Wirklichkeit sogar höher als die, die gemeldet wird – kannten Sie und wir seit Jahren. Diese Arbeitslosen sind diejenigen, die sich in der Drehtür zwischen Beschäftigungslosigkeit, Weiterbildungskursen und erneuter Arbeitslosigkeit befanden. Diese Menschen haben Sie aus diesen Wartehallen nicht herausgelassen. Ihre Sozialpolitik war die Begleitung von Arbeitslosigkeit. Sie waren eher bereit, die Kompensation dafür zu erhöhen, als bei der Beschäftigung in Deutschland einen Durchbruch zu erzielen.
Daran hat Sie die Fraktion der FDP nicht gehindert. Gehindert haben Sie an diesem Durchbruch die Bundestagsfraktion der SPD und – das gilt insbesondere für Bereiche, in denen dieser Durchbruch gar kein Geld kostet – ohne Ende die Grünen, und zwar bei Verkehrsbaumaßnahmen und der Forschungsförderung.
Die KfW muss überhaupt kein Programm auflegen. Es wäre schon eine Wohltat für die Bundesrepublik Deutschland, wenn Sie Ihren Partner überzeugen könnten, Vorfahrt für Arbeitsplätze zu geben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka Fischer.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man heute Morgen der Debatte folgt, so kann man feststellen, dass sich alle Fraktionen zu Recht über das Schicksal von über 5 Millionen Arbeitslosen tiefe Sorgen machen. Diese Debatte wird von den Menschen verfolgt. Es wurde zu Recht auch auf die Rede des Bundespräsidenten hingewiesen. Wenn man die Debatte sorgfältig nachvollzieht, stellt sich allerdings die Frage, ob wir die Frage der Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Fernsehschirmen und am Radio beantworten können, nämlich ob wir es gemeinsam packen werden. Das ist die entscheidende Frage, um die es geht.
Vieles von dem, was ich hier gehört habe, ist im Wesentlichen parteipolitisch orientiert gewesen. Der Bundeskanzler hat heute in einer, wie ich finde, großen und beeindruckenden Rede ein Angebot gemacht,
in dem Prozess der Reformen weiterzugehen. Lassen wir für einen Augenblick die parteipolitische Kontroverse hinter uns. Um was geht es denn gegenwärtig? Tun wir als Vertreter von Parteien doch nicht so, als ob die eine Seite immer nur Recht hätte und die andere Seite immer nur auf der falschen Linie wäre! Wir müssen doch feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland vermutlich den tiefsten Wandel in den Sozialsystemen, in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt seit ihrer Gründung durchläuft. Das, was wir zu leisten haben – darüber müssen wir uns streiten und dann auch die Entscheidungen treffen –, ist, den Sozialstaat, der auf nationale Grenzen und ein sich langsam integrierendes Europa ausgerichtet war, für die Herausforderungen der Globalisierung fit zu machen, sodass soziale Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert ein Grundwert unserer Republik ist.
Wir werden daran gemessen werden, ob wir es gemeinsam packen. Ich möchte nicht wiederholen, was von verschiedenen Rednern gesagt wurde und was der Bundeskanzler in seiner beeindruckenden Rede dargestellt hat. Wir haben Hartz IV gemeinsam angepackt. Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist uns damals im Vermittlungsausschuss, in der großen Runde in jener Nacht, gelungen, die Gemeinsamkeit herzustellen. Das, was wir da geleistet haben, müssen wir den Menschen immer wieder erklären.
Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, wir wollen, dass mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit Schluss ist und dass die Menschen aus der Hoffnungslosigkeit herausgebracht werden.
Wir sind gegenwärtig in der Mitte des Stromes. Das müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Wir wollen, dass junge Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind – ich denke an über 100 000 Jugendliche, die, bevor sie überhaupt richtig ins Arbeitsleben eingetreten sind, bereits in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit angekommen sind –, einen Anspruch darauf haben, innerhalb von drei Monaten – der Wirtschaftsminister hat gesagt, dass er das in diesem Jahr erreichen möchte – einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder eine Arbeit zu erhalten. Das ist ein entscheidender Ansatz im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, aber auch gegen die Hoffnungslosigkeit bei der jungen Generation.
Das Zweite, worüber kaum geredet wird, sind die Alleinerziehenden. Wir wissen doch, dass gut ausgebildeten Alleinerziehenden in der Vergangenheit ein Schein für das Sozialamt gegeben und ihnen gesagt wurde: Gehen Sie doch zum Sozialamt, Sie haben Anspruch auf Sozialhilfe! Das war der Fall, wenn sie keinen Betreuungsplatz hatten. Da reicht nicht ein Kindergartenplatz, wo die Kinder nur vier oder fünf Stunden betreut werden. Das ist der falsche Weg, mit dem Hartz IV Schluss gemacht hat. Es geht entscheidend darum, dass wir eine Ganztagsbetreuung bekommen.
Eine Alleinerziehende, die einen Arbeitsplatz nachweisen kann, hat einen Anspruch auf Betreuung. Wo die Betreuung nicht funktioniert, ist die Bundesagentur in der Pflicht. Das ist richtig und wichtig.
Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was die älteren Arbeitnehmer, die diese Debatte verfolgen, denken werden. Wir reden über demographische Veränderungen, ein späteres Renteneintrittsalter und Altenarbeit. Das ist zwar alles richtig, aber sehr viele werden mit 50 Jahren ausgesteuert und haben kaum noch eine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden.
Ich frage Sie: Wie können Sie, wenn die Freiheitsrhetorik nicht hohl sein soll, an diesen Menschen vorbeigehen? Wir sind schließlich keine Repräsentanten einer Deutschland AG; wir sind vielmehr die gewählten politischen Repräsentanten, die sich auch und gerade um die Sorgen und Bedrängnisse dieser Menschen Gedanken machen und Lösungen anbieten müssen.
Das kann sich nicht darauf beschränken, Maßnahmen nur dann durchzuführen, wenn es den Unternehmen nützt.
Mit Hartz IV ist ein entsprechender Schwerpunkt gesetzt worden. Deswegen finde ich es richtig und wichtig, dass wir dem Angebot des Bundeskanzlers folgen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, bei den 1-Euro-Jobs die Entfristung herbeiführen – davon hängen viele dieser Jobs in Ostdeutschland ab – und damit Möglichkeiten für die über 55-Jährigen – seien wir doch ehrlich: mehr und mehr sind auch schon 50-Jährige betroffen – schaffen, um eine Trendwende zu erreichen. Wenn die Wirtschaft dennoch meint, mit 50 sei Schluss, und gleichzeitig, wie Herr Hundt , Rentenkürzungen fordert, dann sägt wohl jemand an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sollte das füglichst unterlassen.
In der heutigen Ausgabe einer Berliner Tageszeitung ist nachzulesen, welche Angebote für einen aktivierenden Arbeitsmarkt die OECD empfiehlt. Das entspricht genau dem, was wir mit Hartz IV gemeinsam – ich wiederhole: gemeinsam – angepackt haben.
Wir sind bereit, auch einen zweiten Schritt gemeinsam mit Ihnen zu gehen. Frau Merkel schlägt einen Pakt für Deutschland vor. Wir werden uns heute Nachmittag zu einem gemeinsamen Gespräch treffen. Ich glaube aber, dass ein Pakt für Deutschland nicht in der Weise funktionieren wird, dass die Regierung Gesetzesvorschläge macht und die Opposition diese wohlwollend prüft.
Das ist zwar huldvoll, aber es wird nicht reichen. Ich erkläre Ihnen auch, warum. Wir haben nämlich schlicht und einfach eine bundesstaatliche Ordnung. Frau Merkel als Partei- und Fraktionsvorsitzende kann das zwar so sehen, für die Ministerpräsidenten gilt das aber nicht. Denn die zweite Kammer steht mit in der bundesstaatlichen Verantwortung.
Insofern wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob der Wille vorhanden ist, das Ganze gemeinsam anzupacken.
– Um Angst geht es dabei überhaupt nicht. Das hat doch mit Angst nichts zu tun. Zuerst sagen Sie, Sie seien tief besorgt um die 5,2 Millionen Arbeitslosen. Wenn ich aber davon rede, dass wir es gemeinsam anpacken sollten, dann sprechen Sie von Angst. Das ist kleinste parteipolitische Münze.
Das nehmen uns die Menschen nicht mehr ab. Deswegen spreche ich von der Ordnung der Freiheit. Ich bin sehr dafür, das durchzudeklinieren. Parteien wie auch Demokratien haben mit Interessen zu tun. Es geht aber auch darum, Konsens über die widersprüchlichen Interessen herbeizuführen. Vielleicht – ich weiß es nicht – definieren wir Freiheit in einem Punkt unterschiedlich.
Ich bin nämlich der Meinung, dass es Freiheit unter den Bedingungen der sozialen Demokratie und der ökologischen Grenzen nur im Dreisatz gibt. Die Wettbewerbsfähigkeit, die auf Freiheit gründen muss, kann nicht bedeuten, dass wir uns von dem sozialen Gerechtigkeitsanspruch und der ökologischen Nachhaltigkeit verabschieden.
Insofern halte ich nichts von Vorfahrtsregeln, aus denen nicht deutlich wird, auf welcher Grundlage sie entstanden sind.
Lassen Sie uns an dieser Stelle die Ordnung der Freiheit durchdeklinieren. Im Zusammenhang mit der Ordnung der Freiheit wird festgestellt, dass sich Deutschland in einem traurigen Zustand befindet. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass wir ein binnenkonjunkturelles Problem haben. Im Export ist unsere Wirtschaft hervorragend aufgestellt. Wie sollte diese Leistung erbracht werden, wenn das nicht der Fall wäre?
Die Ordnung der Freiheit heißt, dass wir durch die Steuerreform gewaltige Entlastungen in Höhe von 50 Milliarden bis 60 Milliarden Euro für die Bürger und Unternehmen erreicht haben.
Die Unternehmensteuersätze wurden gesenkt, genauso wie der Spitzensteuersatz. Der Eingangssteuersatz wurde halbiert. Darauf wurde schon hingewiesen. Es ist richtig: Mit der Reform der Körperschaftsteuer und einigen anderen Maßnahmen wollen wir erreichen, dass das Steuersubstrat trotz offener europäischer Konkurrenz im Wesentlichen in Deutschland bleibt. Richtig ist ebenfalls, dass wir im Herbst dieses Jahres eine umfassende Unternehmensteuerreform und, so glaube ich, ein einheitliches Unternehmensbesteuerungsrecht brauchen. Das sind Punkte, in denen wir uns im Grunde genommen einig sind. Wenn dem so ist, dann sollten wir das den Menschen draußen aber auch klar machen, um Vertrauen zu schaffen, und nicht das Trennende in den Vordergrund stellen.
Ich komme zur Gesundheitsreform. Hier hat es mir ehrlich gesagt den Atem verschlagen. Frau Merkel, bedeutet Ordnung der Freiheit, dass Sie hier plötzlich Interessenvertreterin der Firma Pfizer sind, und das ausgerechnet bei der Festbetragsregelung?
Wenn man sich anschaut, wie viel Generika kosten, dann kann man doch nicht allen Ernstes einerseits fordern – dieses Lied hat Herr Gerhardt gerade wieder auf sehr banale Weise gesungen – „Staat raus!“ und andererseits die Interessen der Firma Pfizer gegen eine vernünftige Begrenzung der Gesundheitskosten verteidigen. So wird es nicht funktionieren.
Insgesamt ergibt sich durch die Reduzierung der Gesundheitskosten eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Gemeinsam mit der Rentenreform sowie der Umsteuerung am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen sind das doch gewaltige Entlastungen für die Unternehmen. Ich bin sehr für Ordnung der Freiheit. Für mich ist aber der entscheidende Punkt: Wenn ich Ordnung der Freiheit sage – –
– Was heißt Visa? Das können Sie doch alles im Untersuchungsausschuss klären. Ich habe Ihnen gesagt, welche Fehler ich gemacht habe. Aber das ändert nichts an den Fehlern, die Sie dabei sind zu begehen.
Herr Gerhardt, wenn Sie für die Ordnung der Freiheit sind, dann frage ich Sie: Wozu brauchen wir dann noch das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung im Gesundheitssystem?
– Ich komme gleich auf die Kopfpauschale und die Bürgerversicherung zu sprechen.
Es gibt in Nordrhein-Westfalen ein börsennotiertes Unternehmen, das gutes Geld mit Apothekenmehrfachbesitz verdient, aber nicht in Deutschland. Ich frage Sie: Wozu brauchen wir noch das Mehrfachbesitzverbot? Wir haben versucht, es zu öffnen. Wir hätten es gerne ganz beseitigt. Aber ihr habt es verhindert. Frau Merkel und Herr Gerhardt, lassen Sie es uns doch gemeinsam anpacken, wenn Sie der Meinung sind, dass das weg soll. Dann werden wir gemeinsam Erfolg haben.
– Nein, Herr Gerhardt. Aber es ist schön, dass Sie so geständig sind
und zugeben, dass Sie die Kassenärztliche Vereinigung und die Apotheken – deshalb halten Sie wohl am Mehrfachbesitzverbot fest – als Ihre Monopole begreifen. Das ist meines Erachtens eine klare Ansage. Ich verfüge jedenfalls über keine Monopole.
An diesem Punkt kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben doch enormen Erfolg mit der Änderung der Handwerksordnung erzielt. Es sind Neugründungen in enorm großer Zahl erfolgt. Aber warum machen wir hier nicht weiter? Wenn wir sehen, dass wir mit der Deregulierung der Handwerksordnung Erfolg haben, brauchen wir dann beispielsweise noch das Gebietsmonopol für Schornsteinfeger? Hier können wir entbürokratisieren und deregulieren.
– Jetzt kommt der Flächentarif. Wenn Sie sich die Tarifstruktur anschauen, dann wissen Sie doch, was los ist.
Wenn ich mir anschaue, was die Unternehmen in Ostdeutschland sowie die Bündnisse für Arbeit in Ost und West geleistet haben, und sehe, dass in manchen Fällen das Management einfach nicht mehr da ist, obwohl bei ihm die Verantwortung liegt, während sich die Belegschaft – beispielsweise bei Karstadt und Opel – sehr verantwortlich verhält, dann muss ich sagen: Ich bin froh, dass wir Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften haben, die dazu in der Lage sind. Wer will das infrage stellen?
Nun kommen Sie mit einem Gesetz zur Regelung der betrieblichen Bündnisse. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Es wird über Entbürokratisierung geredet. Die betrieblichen Bündnisse funktionieren. Die Bedingungen, die der Bundespräsident mit Hinweis auf Montesquieu gefordert hat, sind gegeben. Dennoch wollen CDU, CSU und FDP ein Gesetz zur Regelung der betrieblichen Bündnisse. Ich verstehe das nicht. Vielleicht haben Sie andere Interessen. Womöglich wollen Sie nicht wirklich die Ordnung der Freiheit realisieren, sondern Ihre Ideologie.
Was die Bildung angeht, möchte ich in beide Richtungen sagen: So kommen wir nicht voran. Es besteht die Gefahr, dass wir uns in der Frage „Einheitsschule oder dreigliedriges Schulsystem?“ wieder verhaken. Warum können wir das nicht hinter uns lassen? Der Verweis auf PISA mit Bezug auf Bayern und Baden-Württemberg ist richtig. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Sie wissen: Sie haben, was die Anzahl an Abiturienten angeht, die schmalste Zugangsquote. Sie wissen, woran das liegt.
Ich behaupte ja gar nicht, dass das Gesamtschulsystem, wie es bei uns ausgestaltet ist, das bessere ist.
Aber ich frage nicht: Wo steht Bayern, wo steht NordrheinWestfalen, wo steht Hessen? Vielmehr frage ich: Wer steht denn an der Spitze? Müssen wir das Rad neu erfinden? Ich sage an die Linke gerichtet: Aus unserer Sicht müssen wir akzeptieren, dass unser Platz an der Spitze der Wettbewerbs-, das heißt auch der Leistungsfähigkeit ist.
Exzellenz, Leistungsfähigkeit und Spitzenförderung sind in Deutschland dringend notwendig.
In Richtung der Rechten sage ich: Es kann doch nicht sein, dass unsere wichtigste Ressource, nämlich die nächste Generation, vom Geldbeutel der Eltern abhängt und dass es nicht möglich ist, gemeinsam ein Schulsystem zu entwickeln, das nicht mehr auf ideologischer Kontroverse und Grabenkämpfen gründet. Wir sollten uns vielmehr etwa am finnischen Schulsystem orientieren.
Viele Eltern haben Angst, dass die Qualität der Schulen nachlässt, wenn der Spracherwerb – er ist das erste Ziel, das wir erreichen müssen; Spracherwerb gilt zu Recht als A und O der Bildung, gerade für Zuwandererkinder – nicht mehr funktioniert. Besonders wichtig sind daher eine möglichst schnelle vorschulische Betreuung und ein vorschulischer Spracherwerb.
Das ist zunächst zu gewährleisten. Warum können Bund und Länder diesbezüglich keine gemeinsame Initiative starten? Herr Ministerpräsident Stoiber, das hätte auch den Effekt, dass Familie und Beruf viel besser miteinander vereinbar wären.
Egal welche Schulform wir haben, wenn wir in die Aus- und Fortbildung und in die individuelle Betreuung der Schüler nicht mehr investieren, dann werden wir – auch das ist ein greifbares Ergebnis von PISA – im europäischen Vergleich nicht aufholen. Deswegen müssen mehr Mittel in diesen Bereich fließen. Ich kann mir nur an den Kopf greifen, wenn in der Diskussion über eine Steuerreform gefordert wird, die Eigenheimzulage nicht abzuschaffen. Wenn meine soeben vorgenommene Analyse richtig ist, dann müssen die durch die Abschaffung der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel in die Bildung und in die Ausbildung fließen.
Späte Differenzierung, breiter Zugang, Leistung und Spitzenförderung – in Bezug auf all das erwarten die Menschen von uns doch, dass wir die Grabenkämpfe der Vergangenheit vergessen und uns einigen. Warum kann man das nicht im Rahmen der BundLänderGespräche klären? Ich kann Ihnen hier nochmals versichern: Für uns ist ein breiter Zugang – Stichwort Gerechtigkeit – ein entscheidender Punkt;
aber wir wissen um die Bedeutung der Spitzenförderung. Warum ist Ihre Seite nicht in der Lage, hier einen konsensorientierten Vorschlag zu machen, damit wir mit diesen Grabenkämpfen endlich aufhören, die nur zu einer Blockade unseres Bildungssystems führen und zum Schaden unseres Landes sind?
Ich habe die Debatte mit den Ministerpräsidenten verfolgt. Ich sage ganz offen: Ich bin vom Grundsatz her nicht dagegen,
dass die Länder die alleinige Zuständigkeit für die Bildung bekommen. Es gibt ein paar Länder, die in der Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen; aber es gibt viele Länder, die dazu nicht in der Lage sind.
– Nein, das ist doch absurd. Wenn man sich das Steueraufkommen des Freistaates Sachsen anschaut, dann stellt man fest, dass auch er dazu nicht in der Lage ist. Seien Sie an diesem Punkt nicht so engstirnig! Sie wissen doch ganz genau, dass alle ostdeutschen Länder, aber auch die kleineren westdeutschen Länder – auch da regiert die CDU, teilweise allein, teilweise in einer Koalition – diese Aufgabe angesichts des Steueraufkommens nicht bewältigen können.
Wenn man das machen will, ist die entscheidende Frage, wie die Qualitätssicherung tatsächlich garantiert wird, ohne dass Deutschland bildungspolitisch sozusagen weiter provinzialisiert wird. Das ist die große Sorge, die ich vor dem europäischen Hintergrund als Außenminister in die Debatte einbringe. Ich bin sehr dafür, dass man das diskutiert und dass man die Initiative, die der Bundeskanzler angesprochen hat, entsprechend aufnimmt. Wenn ich dann aber höre – Herr Stoiber, Sie wissen das ja –, dass von Herrn Koch die Förderung von Universitäten mit dem Argument abgelehnt wird, dass kein Krach zwischen Darmstadt und Frankfurt entstehen soll, dann kann ich dazu nur sagen: Das zeugt vom Selbstverständnis eines Kleinstfürstentums, nicht einmal mehr eines Duodezfürstentums. Das ist Provinzialismus auf der unteren Ebene. Ich finde vielmehr, dass wir da gemeinsam anpacken müssen.
Als Außenminister möchte ich es nicht versäumen, im Zusammenhang mit der Föderalismusreform eines klar zu machen – das sage ich auch in Richtung der Opposition –: Jede weitere Einschränkung der Vertretungskompetenz des Bundes in Europa ist gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
Das hat nichts mit rot-grüner Parteipolitik zu tun. Wenn die Länder weitere Versuche in diese Richtung unternehmen sollten, werde ich dagegenhalten, da ich das für völlig gegen die Interessen unseres Landes gerichtet halte. Auf diese Haltung müsste man sich doch einigen können.
Nun kommen wir zum entscheidenden Thema, zum Prinzip der Nachhaltigkeit.
Ich habe heute hören müssen, dass sich die CDU/CSU davon verabschieden will.
Man könnte ja geradezu meinen, umweltpolitische Maßnahmen seien die Wachstumsbremse schlechthin, wenn man Ihnen zuhört. Zugleich ist mir aber auch aufgefallen, dass Sie sich nicht mehr über die Ökosteuer auslassen. Es war eine Zeit lang Ihr Steckenpferd, auf die Ökosteuer einzudreschen. Mittlerweile scheinen Sie ganz genau zu wissen, dass die Abschaffung der Ökosteuer 2 Prozentpunkte in der Sozialversicherung ausmachen würde, die anderweitig finanziert werden müssten. Aber auch Sie wissen nicht, woher dieses Geld genommen werden sollte. Stattdessen betreiben Sie nun eine Kampagne gegen eine vorsorgende Umweltpolitik. Denken wir einmal an das, was der stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen, zuständig für den Umweltbereich, der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer, heute sagt: Er redet über vorsorgende Umweltpolitik, über Klimaschutz und über die gemeinsame globale Verantwortung in der einen Welt. Wenn ich mir demgegenüber anhöre, was Frau Merkel sagt, fühle ich mich bezüglich ihrer Ablehnung des Umweltschutzes in die 70er-Jahre zurückversetzt.
Umwelt ist heute einer der entscheidenden Produktions- und Arbeitsplatzfaktoren. Sie dagegen fahren Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien. Dabei tut eine neue Energiepolitik Not. Schauen Sie sich doch einmal die Lage in Peking heute an: Im Sommer sehen Sie dort die Sonne nicht mehr.
Schauen Sie sich die Umkehrung der Warenströme an und die Absorption, die diese große Volkswirtschaft auslöst. Denken Sie auch daran, dass Indien auf diesem Weg folgt. Vor diesem Hintergrund ist es doch absurd, als entwickeltes Industrieland nicht auf erneuerbare Energieträger zu setzen und nicht den Ehrgeiz zu haben, bei dieser Entwicklung an der Spitze zu stehen.
Insofern ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz von entscheidender Bedeutung. Entsprechendes gilt für das neue Energiewirtschaftsrecht, wodurch entsprechende Investitionen ausgelöst werden.
Zu dem, was Sie im Zusammenhang mit der Gentechnik sagen, kann ich Ihnen nur die Parole entgegenhalten: Ordnung der Freiheit. Sie schlagen allen Ernstes vor, eine Gemeinhaftung bei der Gentechnik einzuführen. Das kann doch nicht wahr sein.
Ich bin sehr dafür – das sage ich Ihnen noch einmal –, dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Wir werden es aber nicht hinnehmen – wer diese Vorstellung hegt, der wird auf entschiedenen Widerstand von unserer Seite stoßen –, dass man sich bei der Genehmigungspraxis an Amerika orientiert, zugleich deutsches Haftungsrecht einfordert und nur ein Klagerecht wie in China einräumt. Das wird nicht funktionieren.
Ich bin dafür – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dass wir ordnungspolitisch an dieses Thema herangehen. Das sage ich auch in Richtung der eigenen Fraktion. Es ergibt sich aus der Natur der Verantwortungsgesellschaft, dass Verfahren manchmal umständlich sind und lange dauern. Doch dann, wenn man eine Genehmigung hat – es sei denn, man handelt grob fahrlässig –,
wird Schadensfreistellung gewährt. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man nun aber der Meinung ist, in diesem Bereich weniger bürokratisch zu handeln, dann muss man die Ordnung der Freiheit auch durchdeklinieren. Wenn also nun andere Vorgaben bei der Genehmigung festgelegt werden, muss auch die Individualhaftung im Vordergrund stehen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Deswegen bin ich sehr dafür, dass man auch über diese Fragen ordnungspolitisch diskutiert. Aber man muss die Entscheidungen dann schon treffen. Man kann nicht auf der einen Seite Neuland betreten wollen und auf der anderen Seite den Rückbehalt der Gemeinhaftung fordern. Das wird nicht funktionieren. Wenn Unternehmerfreiheit durchdekliniert werden soll, dann auch und gerade im Haftungsrecht und damit in Bereichen, wo es durchaus riskant werden kann.
Meine Damen und Herren, wir haben die Möglichkeit, heute hier wirklich gemeinsam etwas zu packen – davon bin ich fest überzeugt –,
und zwar jenseits der parteipolitischen Kontroversen, die sein müssen und die bleiben werden. Aber wir haben angesichts der 5,2 Millionen arbeitslosen Menschen, vor allen Dingen der jungen Menschen, aber auch der großen Zahl älterer Menschen, die hoffnungslos geworden sind, nicht nur die Chance, dieses Problem anzupacken, sondern auch die Verpflichtung, dass wir es packen und dass wir Freiheit verbinden mit sozialer Gerechtigkeit und mit Nachhaltigkeit.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber.
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Herr Bundeskanzler, Sie selbst und Ihre Mitstreiter haben in den letzten Tagen für diese heutigen Stunden hohe Erwartungen geweckt. Gemessen an diesen hohen Erwartungen, an den Hoffnungen und an den Kommentaren, die wir gelesen haben, ist Ihre Regierungserklärung eine Enttäuschung.
Sie haben die reale Lage des Landes verdrängt, beschönigt und verharmlost.
Ihre Regierungserklärung belegt: Sie sind der Herausforderung, die die Arbeitslosigkeit an uns stellt, nicht gewachsen.
Dort, wo konkretes Handeln notwendig wäre, bieten Sie Unverbindliches.
Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, nach sechs Jahren Rot-Grün ist die Bilanz für Deutschland – und um die geht es heute – eindeutig negativ. Deutschland hat heute 5,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Es hat heute die schlechteste Arbeitsmarktbilanz seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Deutschland hat nach wie vor das geringste Wirtschaftswachstum in Europa. Ich brauche die Zahlen hier nicht darzustellen. Wir sind im Prinzip ein Hemmschuh bei der ökonomischen Entwicklung Europas geworden und das haben Sie entscheidend mitzuverantworten. Das ist die reale Bilanz.
Unser Land verstößt mit Rekordschulden gegen den europäischen Stabilitätspakt und ist damit der Hauptsünder.
Deutschland hat die geringsten öffentlichen Investitionen seit Gründung der Republik. Auch wenn Sie noch so viele Zwischenrufe machen: Die Menschen draußen im Lande spüren, dass in unserem Lande nicht mehr alles in Ordnung ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung.
Sie haben sich lange mit Hinweisen auf die Weltwirtschaft herausgeredet. Aber nicht die Weltwirtschaft und nicht die Konjunktur sind schuld an unseren Problemen,
sondern die Regierung ist schuld daran, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht mehr stimmen.
Natürlich setzen wir uns heute Nachmittag zusammen – das ist gar keine Frage – und vielleicht bringen wir auch etwas zustande.
Aber ich sage Ihnen auch: Wer in Deutschland mehr Arbeit und mehr Wachstum haben will, der braucht in Deutschland eine andere Regierung.
Vor sechs Jahren, Herr Bundeskanzler, sind Sie angetreten, um die makroökonomischen Bedingungen zu verändern. Ich erinnere mich an eine Ihrer Aussagen, als Sie als Ministerpräsident darauf angesprochen worden sind, warum die Arbeitslosenzahlen in Niedersachsen so hoch seien. Sie haben auf diese Frage geantwortet: Erlauben Sie mal, dafür sind die makroökonomischen Bedingungen verantwortlich. Die werden in Bonn, von Kohl, entschieden. Wenn ich die in der Hand habe, dann wird sich alles wenden. – Jetzt sehen wir, wie es sich gewendet hat, meine sehr verehrten Damen und Herren: Zum Schlechteren hat es sich gewendet!
Sie sind mit dem Ziel angetreten – Frau Merkel hat das sehr treffend gesagt –, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken. Weitere Äußerungen dazu will ich heute gar nicht zitieren. Jetzt versuchen Sie sich damit herauszureden, die Weltwirtschaftslage sei schwierig, die Globalisierung mache es schwierig und deswegen könne Ihre damalige Aussage heute keinen Bestand mehr haben. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn versucht wird, zentrale Aussagen so zu relativieren? Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Die Massenarbeitslosigkeit ist der Quell allen Übels in unserem Lande; sie ist das zentrale Problem unseres Landes, ökonomisch und gesellschaftlich. 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland sind aber auch staatspolitisch nicht hinnehmbar. Der mit der Massenarbeitslosigkeit einhergehende Verlust an Wohlstand, das Gefühl, von dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, die Ängste und Sorgen in Millionen von Familien – jede vierte Familie in Deutschland ist von Arbeitslosigkeit betroffen, jeder vierte der 26 Millionen Arbeitnehmer hat gegenwärtig konkret Angst um seinen Arbeitsplatz – verursachen die defätistische Stimmung.
Das ist das zentrale Problem. Wenn sich Hoffnungslosigkeit breit macht, dann steigt natürlich auch die Gefahr von Protestverhalten und Radikalisierung, gerade auch bei Wahlen.
Weil 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland staatspolitisch nicht hinnehmbar sind, haben CDU und CSU, haben Frau Merkel und ich die Initiative ergriffen.
Wir haben Ihnen geschrieben. Bemerkenswert ist schon, dass Sie als Regierungschef sich erst dadurch gezwungen sehen, hier zum Thema Arbeitslosigkeit Rede und Antwort zu stehen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben heute hier nicht als Gestalter, sondern als Getriebener gesprochen.
Bis gestern galt Ihre Aussage von Ende letzten Jahres/Anfang dieses Jahres: Wir, die Bundesregierung, die rot-grüne Koalition, haben jedenfalls unser Möglichstes zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit getan. – Das war zu wenig. Deswegen haben wir die Initiative ergriffen. Das, was Sie heute vorgelegt haben, ist zu wenig, um die Probleme wirklich bewältigen zu können, auch wenn wir miteinander reden.
Schauen Sie sich doch bitte einmal an, was Ihr Freund Tony Blair in Großbritannien gemacht hat.
Schauen Sie sich einmal an, wie Sozialdemokraten in den Niederlanden, in Dänemark oder in Schweden ihren Arbeitsmarkt entrümpelt und reformiert haben.
Dort ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit.
Warum hat eigentlich Kollege Müntefering so barsch und ablehnend auf das Angebot der Union reagiert?
Sie spüren genau, Herr Müntefering: Die für mehr Neueinstellungen notwendigen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind mit der SPD nicht zu schaffen. Diese Veränderungen sind mit der SPD nicht möglich, weil Teile der Gewerkschaften und der eigenen Klientel das nicht mitmachen würden. Sie alle spüren, dass die SPD mit der Agenda 2010 in eine Zerreißprobe geführt worden ist, die Sie nicht wiederholen wollen.
Ich erkenne ausdrücklich an – ich habe das schon vor zwei Jahren gesagt –, dass die Agenda 2010 für die SPD unbestritten ein weiter und steiniger Weg war. Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Die Agenda 2010 ist zwar für die SPD ein großer Schritt, aber für Deutschland ein viel zu kleiner Schritt.
Die Mehrheit unseres Volkes ist hinsichtlich der Reform- und Veränderungsbereitschaft längst weiter als die Regierung. Deswegen wird die Entfremdung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der rot-grünen Regierung immer größer.
Das ist der Grund dafür, warum Sie bei Umfragen in puncto Vertrauen und Lösungskompetenz immer weiter abstürzen.
Herr Bundeskanzler und Herr Vizekanzler, Ihre mangelnde Reformbereitschaft im Inneren ist der wahre Grund dafür, warum die Visaaffäre die Menschen so aufregt. Das Versagen bei der innenpolitischen Herausforderung Nummer eins, nämlich dem Arbeitsmarkt – darüber reden wir heute –, verbunden mit dem Öffnen der Tore nach draußen für Schwarzarbeiter und Billiglohnkonkurrenz, regt die Menschen zu Recht auf.
Es regt die Arbeitnehmerklientel der SPD zu Recht viel mehr auf als die Klientel der Besserverdienenden bei den Grünen. Das ist das zentrale Problem, mit dem Sie noch große Schwierigkeiten bekommen werden.
Herr Bundeskanzler, wir kommen heute Nachmittag zusammen. Ich appelliere daher an Sie, mehr und Konkreteres auf den Tisch zu legen als das, was Sie hier geboten haben.
Sie sind der Bundeskanzler und haben die Richtlinienkompetenz. Sie und nicht in erster Linie die Opposition haben etwas vorzulegen.
Ich vermisse vor allem substanzielle Vorschläge für die dringend notwendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie haben gesagt, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sei praktisch schon vollendet. Wenn Sie sich aber einmal den Arbeitsmarkt in der Europäischen Union anschauen, dann können Sie erkennen, dass wir die Unflexibelsten sind. Das ist auch ein Grund, warum wir jeden Tag 1 200 Arbeitsplätze ans Ausland verlieren.
Wir können nicht so weitermachen, dass wir die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht angehen und auf Nebengebiete ausweichen.
Ich vermisse konkrete Vorschläge
für einen radikalen Abbau der Bürokratie. Ich vermisse ebenfalls brauchbare Vorschläge zur Reduzierung der Steuerlast und der Arbeitskosten in Deutschland.
Das sind die Schlüssel für mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Eine entsprechende Agenda hat der Bundespräsident am Dienstag angemahnt und ihre Umsetzung eingefordert.
Es ist die Agenda einer Erneuerung und Wiederbelebung der Kraft und der Dynamik der sozialen Marktwirtschaft.
Wir, CDU und CSU, wären sofort bereit, das umzusetzen, was der Bundespräsident angemahnt hat. Aber was Sie, Herr Bundeskanzler, heute vorgestellt haben, bleibt weit hinter dem zurück, was Deutschland braucht und was für Deutschland erforderlich wäre.
Das bestätigen auch die Erfahrungen mit Ihrer Politik in den vergangenen Jahren. Lassen wir sie doch einmal Revue passieren! Sie haben heute ein wunderschönes Bild gezeichnet, nur nimmt Ihnen dieses Bild keiner mehr ab. Wer sechs Jahre lang die Arbeitslosigkeit mit Scheinlösungen wie JUMP-Programmen, Jobfloater, Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs bekämpfen will, dem fehlt in der Tat die Kompetenz.
Wer sechs Jahre lang den Mittelstand und junge Existenzgründer mit bürokratischen Regelungen lähmt, der hat keine Ahnung, wer die Jobmotoren in diesem Land sind.
Wer sechs Jahre lang – und darüber hinaus, Herr Fischer – Pharmazie, Chemie und Gentechnik effektiv – die Zahlen belegen das – aus dem Lande vertreibt, der kann nicht glaubwürdig von Forschung, Innovation und Zukunftssicherung reden.
Ich weiß, wovon ich rede, weil ich um jeden Arbeitsplatz in der Gentechnologie und in der Biotechnologie kämpfe.
Wenn Sie – das einmal als kleiner Hinweis – mit Professoren der Immunologie, die Krebsforschung betreiben, reden, dann werden Sie hören, wie schwierig das hier in Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England ist.
Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen bei den bürokratischen Hindernissen, mit denen diese Menschen zu kämpfen haben, ansetzen, nicht bei den Allgemeinplätzen, die Sie hier bringen.
Das Haupthindernis für neue Arbeitsplätze ist der verriegelte Arbeitsmarkt. Die Weltbank hat die Flexibilität des Arbeitsmarktes in 145 Staaten der Erde untersucht. Deutschland liegt weit abgeschlagen auf Platz 111. Das ist eine Bilanz, Herr Bundeskanzler! Mehr Arbeitsplätze schaffen heißt vor allen Dingen Einstellungshürden abbauen und Langzeitarbeitslosen wieder eine Chance geben.
Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist unsere Losung. Deshalb müssen wir betriebliche Bündnisse für Arbeit auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen. Sie haben vor zwei Jahren angekündigt, Sie würden das machen, wenn die Gewerkschaften nicht großflächig dazu bereit wären. Wir haben riesige Schwierigkeiten mit den Bündnissen für Arbeit – vielleicht nicht bei Siemens, aber bei den kleinen und mittleren Betrieben.
– Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben die Basis verloren. Bei diesen Betrieben ist das zentrale Problem.
– Ich brauche mich von Ihnen nicht auffordern zu lassen. Ich lebe in dem Bundesland, in dem es die wenigsten Arbeitslosen gibt. Wenn es überall so wäre wie in Bayern, dann wäre die Arbeitsmarktlage in Deutschland wesentlich besser. Das will ich auf Ihren Einwand hin einmal sagen.
Ich bleibe dabei: Wir brauchen eine Reform unseres beschäftigungsfeindlichen Kündigungsschutzes. Sie, Herr Bundeskanzler, verkennen die Lage völlig. Das ist ein Haupthindernis für Neueinstellungen; diese Beschäftigungsbremse muss weg. Sie berühmen sich doch immer Ihrer guten Kontakte zur Wirtschaft und auch zu den Repräsentanten der Wirtschaft. Sie reden doch mit denselben Menschen, mit denen ich auch rede. Es kann doch nicht sein, dass die mir sagen, der Kündigungsschutz sei eines der zentralen Einstellungshindernisse für die Jugend,
und man Ihnen etwas anderes erzählt. Gehen Sie an diese Dinge ernsthaft heran! Zur Klarstellung muss ich deutlich sagen: Die Änderung gilt ja nicht für diejenigen, die bereits in Lohn und Brot sind.
Für die wollen und können wir nichts ändern. Wir wollen es für die Zukunft ändern. Aber Sie sind nicht bereit, für die Zukunft etwas zu verändern. Stattdessen nehmen Sie mehr Überstunden in Kauf. Dabei wären mehr Einstellungen möglich, wenn der Kündigungsschutz anders wäre – wie zum Beispiel in Österreich, in den Beneluxstaaten oder in England. Dort wurde die Arbeitslosigkeit von 10 Prozent auf 4 Prozent gedrückt.
Sozial ist, was Arbeit schafft. Deswegen brauchen wir – Sie haben fairerweise dargestellt, was dafür und was dagegen spricht – mehr Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II im Hinblick auf die 400-Euro-Jobs und die 1-Euro-Jobs.
Insofern gibt es in der Tat nicht nur eine Lösung. Ich bin aber bereit, auch insofern Änderungen vorzunehmen.
Das hat dann allerdings Auswirkungen. Aber das werden wir heute Nachmittag besprechen.
Nun möchte ich ein Wort zu den Billiglohnkräften aus Osteuropa sagen. Sie selbst haben das angesprochen. Sie haben gesagt, dass man das nicht zulassen dürfe. Wir haben riesige Probleme, weil so genannte Dienstleistungsunternehmen in Ostbayern und in vielen anderen Teilen Deutschlands Metzgerarbeiten übernehmen und damit angestammte Handwerksbetriebe in außerordentliche Schwierigkeiten bringen.
Insofern geht es nicht um die Dienstleistungsrichtlinie. Sie haben das heute richtigerweise differenziert dargestellt. Die Probleme liegen in der EU-Osterweiterung. Wir haben sie darauf aufmerksam gemacht und gesagt, dass es, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, nicht reicht,
die Arbeitnehmerfreizügigkeit für insgesamt sieben Jahre zu begrenzen, sondern dass Sie das auch für die Dienstleistungsfreiheit machen müssen. Sie haben das letzten Endes abgelehnt und nur einen kleinen Kompromiss zugelassen. Jetzt haben wir die Probleme. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir hätten über diese Dinge auch einmal im Bundestag reden müssen.
Das Problem Europas, das man im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Verfassung angehen muss, ist doch die Frage: Ist es denn richtig, dass die Entscheidungen in Brüssel ohne Beteiligung der deutschen Öffentlichkeit und auch ohne Beteiligung des Parlamentes getroffen werden? Es weiß keiner, was da auf uns zu kommt.
Wir sind beim Erweiterungskommissar Verheugen abgeblitzt. Die Bundesregierung hat uns nicht unterstützt und jetzt sagen Sie: Das Problem werden wir lösen. Das werden Sie leider nicht mehr so ohne weiteres lösen können, weil die Zeit über dieses Problem hinweggegangen ist.
Neben der Deregulierung des Arbeitsmarktes brauchen wir eine wirkungsvolle Entlastung von Vorschriften und Bürokratie. Ausgerechnet die kleinen und mittleren Unternehmen, die Jobmotoren unserer Wirtschaft, müssen überproportional hohe Bürokratielasten tragen: Statistikpflichten, komplizierte Steuerregelungen, Genehmigungsmarathons und ein dickes Regelwerk an Arbeitsrechtsvorschriften. Ich habe mir das einmal angeschaut – es ist ja immer interessant, wenn man sich die Dinge im Gesetz ansieht –: Ab zwei Mitarbeitern in Deutschland muss es nach Geschlecht getrennte Toiletten geben; ab fünf Mitarbeitern besteht das Recht auf einen Betriebsrat; ab elf Mitarbeitern muss es einen Pausenraum geben; ab 16 Mitarbeitern besteht ein genereller Anspruch auf Teilzeit und, und, und. Angesichts dessen wollen wir die Leute ermutigen, sich selbstständig zu machen und Arbeitsplätze zu schaffen? Sie sollten einmal ernsthaft an diese Dinge herangehen und bereit sein, darüber zu diskutieren; denn das passt nicht mehr in das europäische Umfeld.
Es kann doch nicht sein, dass ein großes Unternehmen wie die Firma Siemens Bürokratiekosten in der Größenordnung seines Gewinns hat. Ein kleines Unternehmen mit zehn oder 15 Mitarbeitern, ein Durchschnittsunternehmen, hat heute Bürokratiekosten in der Größenordnung von 7 Prozent des Umsatzes bei einem Gewinn von 1 Prozent oder höchsten 2 Prozent. Das ist die Realität. Wenn wir so weitermachen und da nicht herangehen – das sind die entscheidenden Fragen –, werden wir den Jobmotor nicht anwerfen können.
In Ihrem Antidiskriminierungsgesetz kommt – das sage ich ganz offen – der rot-grüne Bürokratiewahn voll zum Durchbruch. Man sollte sich das einmal in der Praxis anschauen – ich kann die ganzen Beispiele gar nicht darstellen –: Wer einen Arbeitnehmer einstellt oder eine Wohnung vermietet, muss in Zukunft beweisen können, dass er niemanden diskriminiert hat.
– Natürlich wird das dazu führen. Sie reden wahrscheinlich zu viel mit den Politikern. Reden Sie einmal mit den Menschen, die davon betroffen sind! Die fühlen sich von dem Antidiskriminierungsgesetz außerordentlich gegängelt und haben Angst.
Jetzt diskutieren wir über eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen auch hier: Die CDU und die CSU haben frühzeitig gewarnt. Der Bundesrat hat vor einem Jahr eine Entschließung gegen die dem Antidiskriminierungsgesetz zugrunde liegenden europäischen Richtlinien gefasst. Hier haben wir wieder ein zentrales europäisches Problem. Möglicherweise ist im Bundestag nicht mit der notwendigen Schärfe darüber diskutiert worden. Im Bundesrat haben wir über diese Richtlinie außerordentlich hart und kontrovers diskutiert und haben gesagt: Diese Richtlinie passt nicht. Sie muss schon auf europäischer Ebene verändert werden. Sie hätten eine solche Richtlinie verhindern können. Aber Sie haben nichts dazu getan, diese Richtlinie zur Antidiskriminierung auf EU-Ebene zu verändern. Jetzt setzen Sie noch zulasten des Arbeitsmarktes drauf, wie Frau Merkel schon dargestellt hat.
Vielleicht kommen wir bei den Lohnzusatzkosten zu einem Ergebnis durch die Reduzierung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Ob das 1,5 oder 1 oder 0,7 Prozent sind – Herr Müntefering, da ist zweifelsohne noch etwas drin –, werden wir heute Nachmittag konkret bereden. Das brauche ich hier nicht im Einzelnen auszuführen.
Ein weiterer Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit, der mir sehr wichtig ist, ist die Senkung der Energiekosten. Ich verstehe ja die stille Verzweiflung vieler in der SPD über ihren grünen Koalitionspartner. Die Grünen-Vorsitzende Frau Roth bringt das grüne Politikverständnis trefflich zum Ausdruck: volle Emotion für Nischenthemen der Politik, aber keine Antwort auf die zentralen Probleme in Deutschland.
Die ganze Liebe der Grünen gehört der mit zig Milliarden subventionierten Windradwirtschaft, die gerade einmal 0,02 Prozent unseres Energiebedarfs deckt. Trotzdem raten Sie, Herr Außenminister, den Chinesen und Indern, auf regenerative Energien zu setzen. Sie wissen ganz genau, dass Sie hier Volksverdummung betreiben. Die Chinesen haben ein Wirtschaftswachstum von 9 Prozent und ein Energiewachstum von 18 Prozent. Sie erkaufen sich sozusagen ihr Wirtschaftswachstum mit einem doppelten Energiewachstum. Ohne die Kernenergie wäre die Welt gar nicht mehr vor der CO2-Belastung zu retten. Aber da Sie gegen die Kernenergie sind, schlagen Sie einem Land wie China mit 1,3 Milliarden Einwohnern Windräder vor. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Leute vor den Bildschirmen, meine Damen und Herren?
Sie reden zu wenig mit den energieintensiven Betrieben. Wenn Sie mit der Zementindustrie, der Aluminiumindustrie, der Pharmaindustrie und der Automobilindustrie redeten, würden Sie feststellen, dass der Strompreis in Deutschland nach dem in Italien der höchste ist. Dieser hohe Preis, der von Rot-Grün zu verantworten ist, kostet Arbeitsplätze, die im Bereich der regenerativen Energien gar nicht aufzufangen sind.
Die vierte Säule eines tragfähigen Konzepts für mehr Arbeit – in dieser Reihenfolge sehe ich es – ist die Senkung der Unternehmenssteuersätze. Die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die verbesserte Anrechnung der Gewerbesteuer und die erleichterte Unternehmensnachfolge für den Mittelstand, Herr Bundeskanzler, sind Ansätze, die in die richtige Richtung zeigen. Ich hoffe, dass damit auch alle Vorstellungen in der SPD zur Erhöhung der Erbschaftsteuer und zur Wiedereinführung der Vermögensteuer endgültig ad acta gelegt werden.
Aber Sie wissen, dass dies viel Geld kostet. Was Sie heute vorgeschlagen haben, geht in die Milliarden. Die Vorschläge, die Sie zur Gegenfinanzierung unterbreitet haben, gehen aber nicht in die Milliarden, sondern in dreistellige Millionenzahlen. Da heißt es bei Ihnen wieder nur „hätte“, „sollte“, „könnte“. Damit ist unserem Land nicht gedient. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bei 1,4 Billionen Euro Staatsschulden – über 850 Milliarden Euro Schulden des Bundes, über 400 Milliarden Euro Schulden der Länder und über 150 Milliarden Euro Schulden der Kommunen – ist es völlig unakzeptabel und der jungen Generation gegenüber unmoralisch, Ausgaben mit Schulden weiterzufinanzieren, wie Sie es hier machen wollen. Wir werden dies auf keinen Fall mitmachen.
Meine Damen, meine Herren, es war sehr interessant, was der Bundespräsident gestern in diesem Zusammenhang gesagt hat. Diese Dimension muss man sich noch einmal vor Augen halten: 1,4 Billionen Euro Staatsschulden,
7,1 Billionen Euro Schulden insgesamt, wenn man die Pensionsverpflichtungen hinzuzählt! Dies bedeutet, dass jemand, der heute hier in Berlin geboren wird, mit fast 90 000 Euro Schulden auf die Welt kommt. Dies ist auf die Dauer nicht mehr akzeptabel. Wo bleibt hier eigentlich die Nachhaltigkeit, die Sie im Umweltschutz immer so nach vorne tragen? Zur Finanzpolitik gehört sie genauso.
Eine letzte Bemerkung zur Föderalismuskommission: Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie beim Wort. Sie haben heute gesagt, es komme nicht auf die Kompetenzen, sondern auf die Sache an. Verzichten Sie bitte künftig auf die Übergriffe in die Kulturhoheit der Länder; dann sind wir uns schnell einig.
Ich verwahre mich dagegen – das sage ich ganz deutlich –, dass von Ihnen und von Herrn Müntefering der hessische Ministerpräsident sozusagen zum Buhmann stilisiert wird.
Das ist falsch. Ich stelle mich voll und ganz hinter Roland Koch. Mit ihm und anderen Kollegen bekommen wir eine vernünftige Föderalismusreform hin. – Was Herr Müntefering und ich als Vorsitzende hier zustande gebracht haben,
wurde von vielen zunächst als relativ kleinmütig angesehen. Aber als es gescheitert ist, wurden große Klagen laut.
Eine Renovierung des Grundgesetzes dieser Art bekommen Sie meines Erachtens in den nächsten zehn Jahren nicht mehr hin.
Sie müssen nämlich eines sehen: Die Ministerpräsidenten verzichten auf Einflussmöglichkeiten im Bund, wenn letzten Endes zwei Drittel aller Gesetze im Bundestag verabschiedet werden. Wenn künftig das Ausländergesetz im Bundesrat nicht mehr aufgehalten werden könnte, wenn Hartz IV vom Bundestag allein verabschiedet werden könnte, würden wir in Deutschland zu schnelleren Entscheidungen kommen. Auch ich sehe Deutschland in einer Krise, weil wir im Prinzip zu viel im Vermittlungsausschuss behandeln und die Menschen nicht mehr wissen, wer für dieses oder jenes die Verantwortung trägt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben immer wieder mehr oder weniger Sand ins Getriebe gestreut, weil Sie die Zuständigkeit für die Bildungspolitik für sich bzw. die Bundesregierung oder den Bund reklamieren.
Sie können nicht erwarten, dass die Ministerpräsidenten letzten Endes auf ganz erhebliche Kompetenzen verzichten.
Ich bin dafür und habe dafür gekämpft bis hin zur Änderung des Grundgesetzes bezüglich der Außenvertretung,
bis hin zu mehr Kompetenzen für das BKA, bis hin zur Übertragung der Zuständigkeiten im Umweltschutz auf den Bund – das sind weit reichende Dinge –
bis dahin, dass der Bund viel weniger von der so genannten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 des Grundgesetzes abhängig ist. Das wäre eine erhebliche Verbesserung zugunsten des Bundes. Aber wenn Sie diese wollen – die müssten Sie im Interesse Deutschlands und der Schnelligkeit der Entscheidungen wollen –, müssen Sie auch akzeptieren, dass die Länder nur dann mitmachen, wenn im Bildungsbereich Wettbewerbsföderalismus stattfindet
und damit die Länder, für die Bildungspolitik einen größeren Stellenwert hat, auch bessere Ergebnisse erzielen. Aber vielleicht ist hier noch nicht aller Tage Abend.
Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen braucht Deutschland in der Tat einen historischen Kraftakt. Was Sie heute vorgelegt haben, ist für mich ungenügend. Ich fordere Sie auf, zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch die Wege einzuschlagen, die der Bundespräsident am Dienstag angemahnt hat.
Wir als konstruktive Opposition
– da brauchen Sie gar nicht so zu lachen – bieten an, dafür Verantwortung zu tragen.
Als der Herr Bundeskanzler noch zusammen mit seinem Kollegen Lafontaine in der Opposition war, hätte er nicht im Traum daran gedacht,
der Regierung im Interesse Deutschlands die Hand zu reichen. Da wurde nur blockiert. Wir tun das nicht.
In dem Sinne hoffe ich auf ein vernünftiges Ergebnis.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück.
Peer Steinbrück, Ministerpräsident (Nordrhein-Westfalen):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn jemand das Angebot zu einem „Pakt für Deutschland“ macht, dann erwarte ich, dass anschließend entsprechende Reden gehalten werden.
Dem Angebot zu einem solchen „Pakt für Deutschland“ entsprach die Rede von Frau Merkel nicht und die Rede von Herrn Stoiber erst recht nicht.
Das waren keine staatspolitischen Reden. Das waren Parteitagsreden.
Die Standarderöffnungssätze, die ich heute noch einmal von Herrn Stoiber gehört habe, lese ich sehr häufig im Handbuch für Oppositionsredner.
Der erste Satz lautet: Gemessen an den Erwartungen, Herr Bundeskanzler, war Ihre Rede eine Enttäuschung. – Das ist wie e2–e4 im Schach. Das ist der Standarderöffnungssatz.
Der zweite Satz lautet dann: Sie sind der Aufgabe nicht gewachsen. – Welche Überraschung!
Der dritte Satz lautet: Deshalb brauchen wir eine andere Regierung. – Dies ist ein rhetorisches Highlight, das noch hinterhergeschoben wird.
In einer staatspolitischen Rede, Frau Merkel, hat man es nicht nötig, den Untergang Deutschlands an die Wand zu malen oder dem politischen Gegner zu unterstellen, er wolle Deutschland dahin führen. In einer staatspolitischen Rede glaubt man auch nicht, dass die anderen immer in der Wagenburg säßen und man selber den Stein der Weisen gepachtet habe.
Ich fürchte, dass die Verteilung von Deppen und Schlaubergern über die Parteien und die Fraktionen nicht so eindeutig ist, wie Frau Merkel es heute dargestellt hat.
Vielmehr läuft sie entlang der Normalverteilung der Bevölkerung.
Wer wie Frau Merkel glaubt, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben – nach dem Motto: Wir sagen die Wahrheit, aber Sie sind immer empört und aggressiv, wenn wir das tun –, gewinnt beim Publikum auch keine Glaubwürdigkeit.
Von dieser Debatte soll – so jedenfalls die Erwartung vieler, die uns zuhören – das deutliche Signal ausgehen, dass wir hier im Deutschen Bundestag und darüber hinaus im Bundesrat erneuerungsfähig und erneuerungsbereit sind. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir dieser Erwartung bisher entsprochen haben.
Zur Sache also: Der Standort Deutschland muss sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewähren. Er muss sich anstrengen und er wird renoviert werden müssen, kein Zweifel.
Ich fürchte, dass wir alle gemeinsam Versäumnisse aus den 90er-Jahren zu beklagen haben, auf allen Seiten, in allen politischen Parteien.
Ich glaube, dass wir sträflich lange – bis zum PISA-Schock – den Stellenwert der Bildung gemeinsam unterschätzt haben. Ich glaube, dass wir es über weite Teile der 90er-Jahre versäumt haben, uns rechtzeitig darauf einzustellen, wie ein Sozialstaatsmodell unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts aussieht. Ich glaube, dass wir lange der Debatte ausgewichen sind, wie soziale Gerechtigkeit neu zu definieren ist, insbesondere mit Blick auf Generationengerechtigkeit; dabei spielt der demographische Wandel eine erhebliche Rolle. Wir haben uns auch zu wenig Gedanken darüber gemacht, welche Rolle der Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt.
Da schleppt allerdings, jeder seinen Ballast mit, Herr Gerhardt, die FDP nicht viel anders als meine Partei. Denn wenn wir über einen handlungsfähigen Staat in einer sozialen Demokratie reden, dann reden wir in der Tat über ein anderes Staatsverständnis, als es die FDP hat.
Bezogen auf die Debatten, die Sie selber geführt haben, versuche ich mich daran zu erinnern, welche Impulse für eine solche Debatte vor 30 Jahren Herr Flach und Herr Maihofer gegeben haben und welche Impulse Sie heute geben.
Der demographische Wandel mit sehr deutlichen Folgen für die Finanzierung der vier Säulen unserer sozialen Transfers, eine zugegebenermaßen unzureichende Wachstumsdynamik, ein internationaler Wettbewerb, in dem das Kapital so mobil ist wie nie zuvor, in dem Raum- und Zeitgrenzen durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ausgehebelt werden und eine angespannte Haushaltslage bei unverändert hohen Erwartungen an die staatliche Leistungsbereitstellung – diese vier Faktoren führen unabweisbar zu notwendigen Strukturveränderungen und damit zu Reformen.
Aber der Standort Deutschland ist nicht so schlecht, wie er geredet wird.
In einer Meldung des „Handelsblatts“ vom 16. März wird sehr abgewogen zitiert. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young, das amerikanische Unternehmen Citigroup, die Amerikanische Handelskammer in Deutschland, der „Economist“ und die Ratingagentur Standard & Poor’s kommen zu dem Ergebnis: Insgesamt gehe Deutschland in die richtige Richtung. Der Blick von außen zeige viel Positives; die Deutschen müssten es nur noch merken.
Mir geht deshalb durch den Kopf, ob wir es bei den Reformnotwendigkeiten, die uns beschäftigen, nicht nur mit strukturellen Defiziten zu tun haben, sondern manchmal auch mit mentalen Einstellungen, die uns hinderlich sind, das Notwendige pragmatisch zu tun.
Wir sind sehr verliebt in eine negative Selffulfilling Prophecy. Wenn wir über Deutschland reden, erinnert das gelegentlich an sadomasochistische Praktiken.
Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung verdient; er bringt auch Erfolge. Angesichts erheblicher Widerstände und vieler opportunistischer Pirouetten, die ich auch und gerade bei der CDU in meinem Land, in Nordrhein-Westfalen, häufig erlebt habe, ist das Stehvermögen des Bundeskanzlers in diesem Prozess eine Qualität für sich.
Wenn man nicht grobschlächtig vorgeht, wenn man die Betrachtung nicht grobkörnig vornimmt, sondern versucht, sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann verbieten sich Vereinfachungen, allerdings auch simple Schlussfolgerungen, will sagen:
Erstens. Die realen Nettolöhne und -gehälter in Deutschland sind nicht das Problem. Die realen Nettolöhne und -gehälter vieler Menschen, die uns heute wahrscheinlich zuhören, dürften seit Ende der 90er-Jahre stagnieren; es dürfte nicht viel mehr geworden sein als das, was die Menschen vorher cash in der Tasche hatten. Das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskosten. Aber dann soll man in seiner Rede auch so differenzieren.
Zweitens. Die Steuerquote in Deutschland ist nicht das Hauptproblem: Sie ist im internationalen Vergleich ziemlich moderat. Das Hauptproblem in Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Abgabe auf den Produktionsfaktor Arbeit. Zugegebenermaßen haben wir im internationalen Vergleich eine Besteuerung unserer großen Kapitalgesellschaften oder der Körperschaften durch ein sehr intransparentes, sehr komplexes Steuersystem.
Drittens. Die Gewinnentwicklung der DAX-notierten Unternehmen – wenigstens im letzten Jahr, aber auch in der Perspektive für dieses Jahr – lässt nicht auf durchweg so schlechte Rahmenbedingungen in Deutschland schließen, wie Sie es in Ihren Beiträgen dargestellt haben.
Dass der Mittelstand größere Probleme hat, ist unbestritten – übrigens auch durch einen Faktor, der weniger politisch zu verantworten ist, nämlich durch das geänderte Finanzierungsverhalten des deutschen Bankensektors insgesamt.
Viertens. Der Exportüberschuss ist kein Indiz für die Schwäche der Bundesrepublik Deutschland.
Zur Flexibilität des Arbeitsmarktes bestätige ich gerne, was vom Bundeskanzler und auch von Herrn Müntefering heute schon angedeutet worden ist: Ich habe in Nordrhein-Westfalen auf der konkreten betrieblichen Ebene keine Schwierigkeiten mit Bündnissen für Arbeit.
Dabei ist es egal, ob es große Unternehmen sind. Glauben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede, bezogen auf ein großes Automobilunternehmen in Bochum, bezogen auf Karstadt, bezogen auf einen wichtigen Anlagenbauer wie Babcock oder andere Firmen, sogar bezogen auf solche, bei denen ein geordnetes Insolvenzverfahren anstand. Es gehört zur täglichen Aufgabe der Landesregierung, zusammen mit Betriebsräten, Gewerkschaften und dem Management – auch von kleineren und mittleren Unternehmen – die Kärrnerarbeit zu leisten, um diese Unternehmen zu stabilisieren und so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten.
Das funktioniert. Es funktioniert vielleicht sogar bis hin zu einem Fußball- oder Handballverein; so weit kann es gehen. Man macht es hinter den Kulissen. Man macht es nicht auf dem offenen Marktplatz, weil man versucht, diesen Firmen nicht zu schaden. Aber es funktioniert. In den über 50 000 Tarifverträgen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, gibt es viele Klauseln, von denen die Sozialpartner Gebrauch machen können, um solche flexiblen Bündnisse zu realisieren.
Im Übrigen finde ich – um bei dieser genaueren Beschreibung des Bildes von Deutschland zu bleiben –, dass die angekündigten, teilweise erheblichen Dividendenerhöhungen vieler Unternehmen in Deutschland auch die Frage nahe legen, ob sich nicht ein zusätzlicher Spielraum für arbeitsplatzschaffende Investitionen in Deutschland auftut.
Das alles sind Hinweise, die zu einer Differenzierung einladen und grobschlächtige Beiträge, wie wir sie auch heute gehört haben, verbieten. Es wäre ein großer Vorteil, wenn wir über diese Differenzierung stärker zueinander finden könnten.
Reformbedarf stellt sich mit Blick auf die Pflegeversicherung. Er stellt sich vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung auch mit Blick auf eine zukunftssichere Altersversorgung; dafür sind weitere Schritte notwendig. Er stellt sich mit Blick auf die Gesundheitsfinanzierung und die beiden konkurrierenden Modelle, die es dort gibt. Er stellt sich mit Blick auf die Föderalismusreform, die Bund-Länder-Beziehungen. Er stellt sich in meinen Augen auch mit Blick auf die Notwendigkeit, 23 Jahre nach der letzten Fortschreibung des Energieprogramms gemeinsam einen neuen energiepolitischen Rahmen zu finden. Er stellt sich schließlich auch mit Blick auf die Vereinfachung des Steuersystems in Deutschland, allerdings nicht nur mit der Fokussierung auf Steuersätze, sondern auch auf die Gestaltung von Bemessungsgrundlagen und Gewinnermittlungsmethoden.
Von Frau Merkel ist vorhin darauf hingewiesen worden, die CDU habe ein überzeugendes Steuerkonzept 21. Ich kenne dieses überzeugende Steuerkonzept nicht.
Ich weiß, dass es erst ein bisschen Faltlhauser und dann ein bisschen Merz geben soll.
Ich weiß, dass Sie den Menschen einreden, man könne den Einkommensteuerspitzensatz auf 36 Prozent reduzieren, obwohl wir alle in diesem Saal wissen, dass das undenkbar und nicht finanzierbar ist.
Ich weiß, dass Sie den sozialen Ausgleich bei Ihrem Prämienmodell dadurch finanzieren wollen, dass Sie den abgesenkten Steuersatz etwas zurücknehmen. Das heißt, Sie finanzieren dieses Prämienmodell aus nicht gegenfinanzierten Steuererleichterungen.
Das ist eine erstaunliche Leistung.
Wir alle wissen – in dieser Passage kann ich mich ausnahmsweise auf den Kollegen Stoiber beziehen –, dass die öffentlichen Haushalte eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 36 Prozent nicht überstehen würden.
– Auch in Bayern nicht. – Es ist völlig irrwitzig, den Menschen im Augenblick solche Steuersenkungen zu versprechen.
Der Punkt ist: Sie wissen das, aber offenbar haben Sie nicht die Souveränität, dies in einer solchen Debatte klar zu machen.
Wenn jemand von der FDP versucht, mir ökonomisch nachzuweisen, dass Steuersenkungen eine Art Selbstfinanzierungseffekt von eins zu eins haben, dann möchte ich das angesichts der Erfahrungen in Schweden, England und den USA endlich einmal empirisch belegt haben.
Ich glaube, dass das sehr intransparente und sehr komplexe deutsche Steuerrecht reformbedürftig ist und dass der verfahrenspolitische Vorschlag des Bundeskanzlers bzw. der Bundesregierung richtig ist, die Sachverständigen zu bitten, Entsprechendes bis Ende dieses Jahres in Gang zu setzen.
Ich glaube, dass die Lösung mit Blick auf die unterschiedlichen Steuersysteme für Personengesellschaften – und damit für den Mittelstand – und Kapitalgesellschaften in einer rechtsformneutralen Besteuerung der deutschen Unternehmen liegt. Ich glaube, dass das richtig ist.
Denjenigen, die immer eilfertig sagen, wir müssten das Reformtempo weiter steigern, und mit dem strapazierten Bild einer ruhigen Hand darüber hinwegtäuschen, dass es auch einer Kärrnerarbeit bedarf, um solche Reformen umzusetzen,
rufe ich zu: Geht es nicht auch um Augenmaß und Balance sowie um den Zusammenhalt dieser Gesellschaft in einem rasanten ökonomischen und technischen Wandel? Anders ausgedrückt: Stellt man wichtige Leitplanken der Sicherheit, wie zum Beispiel die Mitbestimmung, die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz, im 14-tägigen Turnus infrage, wenn man die Menschen in diesem Wandel fordern muss?
Sind wir nicht darauf angewiesen, den Menschen, die ohnehin schon verunsichert sind und in diesem Wandel eher verlieren und Verlustängste haben, einige Konstante und Leitplanken der Sicherheit zu belassen und gehören die von mir genannten fast konstitutiv wichtigen Säulen der Sozialpartnerschaft nicht dazu? Sollte man nicht eher die Finger davon lassen, als dies alle 14 Tage wieder hochzuziehen?
Verbindet man die Diskussion über wettbewerbsfähige Steuersätze insbesondere für die Kapitalgesellschaften, wie vor wenigen Tagen geschehen, mit der Drohung einer Rentenkürzung, nach dem Motto: Die Gelegenheit ist günstig?
Ich denke an eine allein erziehende Verkäuferin mit ungefähr 1 000 Euro netto, um in meinem oft benutzten Bild zu bleiben, der ich sehr mühsam erklären muss, dass sie von ihrem verfügbaren Einkommen nach Lage der Dinge demnächst bzw. schon jetzt mehr für Alter, Pflege und Gesundheit ausgeben muss. Welche Garantie kann ich ihr geben, dass in Deutschland aufgrund von abgesenkten Unternehmensteuersätzen Investitionen getätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden?
Anders ausgedrückt: Wie wirkt auf diese Frau, die mit 1 000 Euro nach Hause kommt, die Tatsache, dass über die von der Bundesregierung eingeleitete und von Ihnen mit getragene Modernisierung des Gesundheitssystems die Bezüge von Vorständen in den gesetzlichen Krankenversicherungen erhöht werden, von denen sie endlich eine Reformrendite in Form abgesenkter Krankenversicherungsbeiträge erwartet?
Reden wir in diesem Zusammenhang nur über die patriotische Verantwortung der politischen Parteien, sich zu einigen und Gemeinsamkeiten zu entwickeln, oder reden wir auch über die patriotische Verantwortung unternehmerischer Entscheidungsträger in der Bundesrepublik Deutschland?
Richtig ist: Wirtschaft und Gesellschaft müssen dynamischer werden. Wir müssen wieder neugieriger werden. Wir müssen wahrscheinlich auch schneller und innovativer werden. Auch ein bisschen mehr Zuversicht täte uns gut. Das sind die mentalen Barrieren, von denen ich sprach. All das ist unbestritten.
Es ist in diesem Reformprozess aber auch nicht zu bestreiten, dass die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft eher zunehmen al abnehmen: zwischen Arm und Reich, wie es die Armutsberichte ausweisen; zwischen Alt und Jung vor dem Hintergrund der von mir genannten demographischen Entwicklung und der Abwägung zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen; zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten; zwischen denjenigen, die einheimisch sind, und denjenigen, die zu uns kommen, also jenen, die die Fähigkeit haben müssen, zu integrieren, und denen, die die Bereitschaft haben müssen, sich integrieren zu lassen; zwischen Stadtvierteln, die sozial abzustürzen drohen, und den so genannten besseren Vierteln; zwischen denjenigen, die sich als digitale Analphabeten herausstellen, weil sie mit Informations- und Kommunikationstechnologien nicht umgehen können, während es die anderen können.
Das sind die Fliehkräfte dieser Gesellschaft. Von diesen Fliehkräften war in der Rede am letzten Dienstag zu wenig die Rede.
Die Aufgabe, den Reformbedarf zu definieren, ist schon schwierig genug. Aber sie gelingt uns wahrscheinlich gemeinsam. Damit jedoch die Frage zu koppeln, wie ich den Kitt dieser Gesellschaft erhalte, ohne dass mir hinten die Waggons des Zuges, der beschleunigt, aus dem Gleis springen, ist etwas, was in der Rede am Dienstag nicht angesprochen wurde.
Wenn Sie mit Blick auf das wichtige Thema Bildung und den damit verbundenen Schwierigkeiten – die PISA-Ergebnisse bestätigen, dass es uns bisher nicht geglückt ist, unser Bildungssystem so zu gestalten, dass diejenigen, die aus bildungsferneren Schichten stammen, Aufstiegsmöglichkeiten erhalten –, glauben, uns mit dem Kampfbegriff der Einheitsschule erschrecken zu können, dann täuschen Sie sich.
Damit das ein für alle Mal unmissverständlich ist: Ich werde in Nordrhein-Westfalen weder die Realschule noch das Gymnasium über die Köpfe der Betroffenen und Beteiligten hinweg abschaffen.
Aber ich möchte gerne mit den Beteiligten – Kindern, Eltern, Lehrern, Verbänden, Gewerkschaften und bildungswissenschaftlichen Einrichtungen – die Frage diskutieren, ob ein sehr stark gegliedertes Schulsystem nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern nach Lage der Dinge auch in Bayern ein zukunftsfähiges Schulsystem ist, um beim Zugang zu Bildungsgütern Chancengerechtigkeit zu gewährleisten.
Wenn Sie versuchen, mit dem Kampfbegriff der Einheitsschule diese Debatte zu tabuisieren, dann sage ich Ihnen: Dies wird nicht gelingen.
Dieser Kampfbegriff soll nichts anderes als ein Denkverbot über die zukünftigen Schulstrukturen auslösen.
Im Übrigen lasse ich mich in Nordrhein-Westfalen gerne mit anderen Standorten vergleichen, zum Beispiel mit Bayern, was den Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss betrifft. Ich lasse mich in Nordrhein-Westfalen ebenfalls sehr gerne mit Bayern vergleichen, was den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife betrifft. Damit habe ich keine Probleme. Ich rate uns in dieser Debatte, weniger grobkörnig zu arbeiten, als das auch heute teilweise der Fall gewesen ist.
Ich glaube, dass der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die richtigen Akzente gesetzt und die Agenda 2010 konturiert hat. Es sind die richtigen Akzente in der Arbeitsmarktpolitik; ich begrüße außerordentlich, dass es gerade bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten zu weiteren Regelungen kommen wird.
Ich erinnere mich sehr genau daran, wer im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gegen eine weiterreichende Hinzuverdienstregelung gewesen ist.
Ich erinnere mich auch sehr genau daran, wer mit uns gemeinsam die Änderung der Arbeitslosenstatistik verabschiedet hat, anschließend aber über diese Beteiligung so erschrocken ist, dass er sie ignoriert.
Ich habe ein sehr gutes Langzeitgedächtnis dafür, wer im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Praxisgebühr auf die politische Tagesordnung gesetzt hat und wer anschließend , als es schwierig wurde, nicht mehr dahintergestanden hat.
Diese Erfahrungen habe ich mit Ihnen zu häufig gemacht.
Ich bin sehr froh über die Passagen in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, in denen die Rede von der Stärkung der Investitionskräfte ist, auch und gerade mit Blick auf ein Beschleunigungsgesetz bei Public-Private-Partnership-Modellen, zu denen wir in Nordrhein-Westfalen etwas anbieten können. Das gilt auch für Planungsvereinfachungen und ähnliche wichtige Hinweise.
Ich erwarte eigentlich noch in dieser Woche vor dem Hintergrund der Einigung über die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes klare Aussagen der Energiewirtschaft über Investitionen in Kraftwerke und Netze in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich begrüße die Vorschläge zur Mittelstandsförderung. Ich sage zu, dass das Land Nordrhein-Westfalen eine solche Erbschaftsteuerregelung mit Blick auf die Vererbung von betrieblichem Vermögen im Bundesrat unterstützen wird, wohl wissend, dass mir dieses Gespräch mit meinem Finanzminister erst noch bevorsteht.
Ich bin auch dankbar für die Bereitschaft, einen neuen Anlauf zur Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen zu nehmen. Ich will nicht in die Vergangenheitsbewältigung einsteigen, sondern uns allen ganz allgemein sagen: Der Eindruck, der sich bei den Menschen im Dezember festgesetzt hat, war nicht der des Versagens der SPD, der CDU/CSU, der Bundesregierung oder der Länder. Der Eindruck war der eines Politikversagens auf ganzer Linie.
Das fällt uns gemeinsam auf die Füße. Ich bin dafür, dass wir die staatlichen Handlungsebenen stärken. Dies bedeutet eine klare Entflechtung, eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten. Wir sollten dies nicht an dem Bildungsthema, das sehr ultimativ in die Diskussion eingeführt worden ist, scheitern lassen.
Um meine Position als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen deutlich zu machen: Ich glaube, dass man in Bezug auf den Wettbewerb von Standorten in der Bundesrepublik Deutschland – Stichworte: Wissensgesellschaft und Technologiestandort – dem Bund nicht schlechterdings jedwede Initiative im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Technologie bestreiten kann.
Umgekehrt wissen alle hier in diesem Hohen Hause, dass die Kultushoheit ein Element der Staatlichkeit der Länder ist, das man nicht aushebeln kann.
Es müsste eigentlich möglich sein, zwischen diesen beiden Punkten einen Kurzschluss herzustellen, der uns in die Lage versetzt, diese wichtige Föderalismusreform so schnell wie möglich zu gestalten.
Ich möchte etwas deutlich anerkennen, was in dieser Regierungserklärung kein Schwerpunktthema war, uns auf der kommunalen Ebene aber sehr beschäftigt. Wir haben wegen der Entscheidungen, die getroffen worden sind – auch in früheren Zeiten – , eine erfreuliche Stärkung der kommunalen Finanzkraft, wenn diese auch vor dem Hintergrund erheblicher Probleme nach Lage der Dinge noch nicht ausreicht und wir es nach wie vor mit einer dramatischen Situation zu tun haben. Aber zumindest anzuerkennen und, in aller Souveränität zuzugeben, dass sich durch die günstigere Gewerbesteuerumlage, durch die Schließung von Steuerschlupflöchern, durch die Hartz-IV-Rendite, auf die es einen Rechtsanspruch gibt, und durch das 4-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für die Ganztagsbetreuung die Lage der Kommunen deutlich verbessert hat, dürfte auch der Opposition nicht schwer fallen.
Was die Verantwortung der Kommunalminister betrifft, insbesondere den Kommunen Investitionsspielräume einzuräumen, die ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept oder sogar einen Nothaushalt haben, ist dies eine der Aufgabenstellungen, die sich aus dieser Regierungserklärung für die Länder ergeben. Die nehme ich in meinem Gepäck gerne mit.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass zum einen die Art der öffentlichen Debatte und auch die Art, wie wir politisch miteinander umgehen, mindestens ein so großes Hindernis zur Realisierung von Reformen in der Bundesrepublik sein könnten wie die Schwierigkeiten selber. Ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass viele Menschen uns so sehen. Das hat mit vielen Überzeichnungen zu tun.
– Hören Sie doch geduldig zu und beweisen Sie Ihre grenzenlose Bereitschaft, dies einfach einmal zu akzeptieren!
Ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal angegriffen.
Das hat etwas zu tun mit Überzeichnungen und mit Verzerrungen. Es hat auch etwas zu tun mit der Geringschätzung von Erfolgen. Es hat ferner damit zu tun, dass wir das, was uns gelingt, zu schnell konsumieren, dass wir wenig beständig sind, die Risiken überbetonen und nach Lage der Dinge immer mit Bedenken an viele Projekte herangehen.
Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Wenn wir auch sonst nichts haben, Bedenken haben wir“.
Wir finden immer Gründe, warum etwas nicht geht, und wir suchen wenig nach Wegen, um es zum Gelingen bringen zu können. Dieser Fragestellung sollten wir uns politisch stellen; denn ich glaube, dass viele Menschen wahrnehmen, dass wir dieser Einstellung verhaftet sind.
Hinzu kommt der Eindruck, dass der Umgang der politischen Kräfte miteinander vom Publikum inzwischen schon als Bestandteil des Problems gesehen wird. Dabei gibt es sehr viele Rituale nach dem Motto „Die Deppen und die Schlauberger sind sehr einseitig verteilt“ und es gibt, wie ich finde, zu viele Schuldzuweisungen.
Frau Merkel, Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, in seiner Regierungserklärung seien so viele Schuldzuweisungen enthalten. Wie würden Sie denn die Rede von Herrn Stoiber bewerten?
Wenn diese Woche dazu beitragen könnte, diesen verbreiteten Eindruck zu korrigieren, dann wäre das ein großer Gewinn für dieses Land.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Jeder kennt die Geschichte von dem armen Vater, der seine Söhne mit der Ziege auf die Weide schickt, damit sich die Ziege richtig satt fressen kann. Die Ziege kommt jeden Abend in den Stall zurück und meckert: „Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einziges Blättelein“.
Arbeitsgeberpräsident Hundt erinnert mich an diese Ziege. Können Sie sich vorstellen, dass Herr Hundt irgendwann einmal erklärt: „Die Unternehmensteuern können nicht weiter gesenkt werden; die Lohnnebenkosten haben ein vernünftiges Niveau erreicht und der Kündigungsschutz ist ausreichend gelockert“? Man soll ja nie „nie“ sagen, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass das jemand hier im Saal glaubt.
Die rot-grüne Bundesregierung hat die Steuern dramatisch – ich würde sagen: unverantwortlich – gesenkt. Diese Bundesregierung hat durch die Aufhebung der paritätischen Finanzierung – Stichwort: Krankengeld und Zahnersatz – die Lohnnebenkosten für die Unternehmen erheblich gesenkt und diese Bundesregierung hat den Kündigungsschutz massiv gelockert, was der Bundeskanzler heute als besondere Heldentat dargestellt hat.
Doch was uns immer wieder als Verheißung angekündigt wurde, ist nie eingetreten. Es wurde von den Unternehmen in Deutschland nicht mehr investiert und es wurden in unserem Land nicht die angekündigten Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit nimmt von Tag zu Tag zu.
Statt über die Wirkungen der Reformen nachzudenken und sich die Frage zu stellen, was eigentlich schief gelaufen ist, rennt die Bundesregierung kopflos von einem Gipfel zum anderen. Alle Jahrhundertreformen dieser Bundesregierung wurden in den Sand gesetzt und ich denke, wir können uns keine weitere derartige Jahrhundertreform leisten, weil sonst bald der Sand knapp wird.
Es ist tollkühn, wenn die Bundesregierung immer noch glaubt, dass Unternehmensteuersenkungen – wie heute morgen vom Bundeskanzler angekündigt – zu mehr Investitionen führen würden. Deutschland ist Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren haben die deutschen Exporte um 48 Prozent zugenommen. Das ist der Beweis, dass wir auch mit relativ hohen Lohnkosten in der Lage sind, Produkte weltweit zu verkaufen.
Unser Problem ist die Binnennachfrage. Diese müssen wir stärken. Mit der Agenda 2010 haben Sie aber die Binnennachfrage empfindlich gestört und geschwächt. Die Umsetzung zweier Maßnahmen würde sofort Wirkung zeigen und umgehend Arbeitsplätze schaffen: Erstens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen zur Kasse gebeten wurden, die immer mehr von der Hand in den Mund leben müssen, müssen besser gestellt werden. Zweitens. Diejenigen, die bisher bei allen Reformen begünstigt wurden, die händeringend nach neuen Abschreibungsmodellen suchen, müssen ihren Beitrag zur Sicherung der Sozialsysteme leisten.
Zum ersten Punkt darf ich Ihnen ein Beispiel aus den USA nennen. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center beschloss der US-Kongress aus Angst vor einer Wirtschaftskrise, den Bezug des Arbeitslosengeldes um 20 Wochen zu verlängern, um die Nachfrage anzukurbeln. Wenn die Bundesregierung das Arbeitslosengeld II in Ost und West angliche und jedem ALG-II-Empfänger nur 55 Euro mehr zahlte, sodass jeder zumindest 400 Euro in der Tasche hätte, dann wäre das ein sofort wirksames, unbürokratisches Konjunkturprogramm.
Bekanntlich sind Menschen, die wenig Geld haben, gezwungen, zusätzliches Geld sofort auszugeben. Diese 55 Euro wären für jeden da. Ich könnte Ihnen viele sprudelnde Quellen für die Gegenfinanzierung aufzählen. Ein Beispiel: Sie haben zwar schon lange auf Parteitagen die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Erhöhung der Erbschaftsteuer beschlossen, aber nie umgesetzt. Mindestens genauso wichtig ist die Forderung nach Mindestlöhnen, die wir als PDS stellen. Wir dürfen nicht länger zuschauen, wie die Löhne in diesem Land den Bach heruntergehen.
Sie wissen sicherlich, wie die Geschichte mit der Ziege ausgeht: Der Vater verlor alle seine Söhne und stand mit der gefräßigen Ziege allein da. In diesem Sinne kann ich die Bundesregierung nur davor warnen, der ständig meckernden Ziege bzw. Herrn Hundt zu folgen. Es sind nicht die Unternehmensteuern, die wir senken müssen. Vielmehr schafft eine Erhöhung der Kaufkraft der sozial Schwachen Investitionen und Arbeitsplätze. Das wäre der richtige Weg.
Die Agenda 2010 ist ein Verarmungsprogramm für große Gruppen der Bevölkerung. Inzwischen haben sich schon viele Journalisten Selbstversuchen ausgesetzt, um zu sehen, wie man unter ALG-II-Bedingungen lebt. Es ist immer wieder als dramatisch und furchtbar bezeichnet worden. Die Agenda 2010 ist der falsche Weg.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Ich schließe damit die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie Zusatzpunkt 2 auf:
24. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4978 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem OCCAR-Geheimschutzübereinkommen vom 24. September 2004
– Drucksache 15/4979 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Nigeria über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4980 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guatemala über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4981 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Angola über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4982 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4983 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
– Drucksache 15/4984 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gashydratforschung fest in die Forschungen „System Erde“ und „Neue Technologien“ integrieren
– Drucksache 15/3814 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für. Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
„Meer für Morgen“ – Impulse für die maritime Verbundwirtschaft
– Drucksache 15/5099 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/5099 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Reisekostenrechts
– Drucksache 15/4919 –
(Erste Beratung 160. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
– Drucksache 15/5127 –
Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter Kemper Clemens Binninger Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5127, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften (3. SprengÄndG)
– Drucksachen 15/5002
(Erste Beratung 163. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
– Drucksache 15/5129 –
Berichterstattung:Abgeordnete Gerold Reichenbach Reinhard Grindel Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5129, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundes-Apothekerordnung und anderer Gesetze
– Drucksachen 15/4784, 15/5093 –
(Erste Beratung 157. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)
– Drucksache 15/5108 –
Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5108, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig, also mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee das Führen ihrer früheren Dienstgrade erlauben
– Drucksachen 15/3357, 15/4949 –
Berichterstattung:Abgeordnete Gerd Höfer
Ulrich Adam
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung des dritten Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)
zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b des Abgeordnetengesetzes (AbgG)
Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
– Drucksache 15/4971 –
Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
– Drucksache 15/5039 –
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
– Drucksache 15/5035 –
Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? Enthaltungen? Auch Sammelübersicht 193 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
– Drucksache 15/5036 –
Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? Enthaltungen? Sammelübersicht 194 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
– Drucksache 15/5037 –
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Es gab keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
– Drucksache 15/5038 –
Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
Übersicht 10
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 15/5114 –
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht – 1 BvR 357/05
– Drucksache 15/5113 –
Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim)
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Enthaltungen? Gegenstimmen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zusatzpunkt 6, Zusatzpunkt 7 und Zusatzpunkt 8 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so verfahren? Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes
– Drucksachen 15/3168, 15/3214, 15/3455, 15/3510, 15/3871, 15/5121 –
Berichterstattung:Abgeordnete Michael Müller (Düsseldorf)Minister Harald Schliemann (Thüringen)
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Wir können also gleich zur Abstimmung kommen. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden beiden Beschlussempfehlungen.
Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5121? Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
– Drucksachen 15/3280, 15/4419, 15/4634, 15/5122 –
Berichterstattung:Abgeordnete Ludwig StieglerMinister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg)
Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5122? Wer stimmt dagegen? Gibt es Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 8:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze
– Drucksachen 15/3351, 15/4730, 15/4921, 15/5123 –
Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Norbert Röttgen Minister Rudolf Köberle (Baden-Württemberg)
Wir stimmen nun ab über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5123. Wer stimmt dafür? Stimmt jemand dagegen? Gibt es Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Förderung der Organspende
– Drucksachen 15/2707, 15/4542 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Zeit ist vorbei, so sagten sie,
aber dann kamst du und schenktest sie mir neu. – Mit diesen Worten hat eine Patientin ihre Gedanken zum Ausdruck gebracht, die dringend auf eine Organspende wartete. Ein Empfänger einer gespendeten Lunge hat im Rückblick auf seine Erfahrungen seine Dankbarkeit gegenüber dem Spender bzw. der Spenderin folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Ich denke sehr oft an meinen Spender und bin von Herzen dankbar, dass er mir das Gute hier gelassen hat. Ich danke den Ärzten und all den vielen anderen, die um mich gekämpft und mir zu neuem Leben verholfen haben.
Meine Damen, meine Herren, wir können die Gefühle in dieser so genannten Wartestellung zwischen Leben und Tod, die Hoffnung auf der einen Seite und die Dankbarkeit auf der anderen Seite oft kaum fassen. Aber für jeden könnte das Thema Organspende irgendwann eine Rolle spielen. Vielen Menschen wird das erst bewusst, wenn in ihrer eigenen Familie ein Familienangehöriger auf eine Transplantation wartet – ein Schicksal, das circa 13 000 Menschen teilen.
Das Thema wird auch dann aktuell, wenn ein Angehöriger mit der Frage konfrontiert wird, ob der Verstorbene einer Organentnahme zugestimmt hat. Zwischen der langen Warteliste auf der einen Seite und der von 80 Prozent der Bevölkerung bekundeten Spendenbereitschaft auf der anderen Seite klafft eine große Lücke. Nur 12 Prozent der Menschen hierzulande besitzen einen Organspendeausweis. Mangelndes Wissen über den Hirntod und den Organspendeausweis, Ängste, aber auch unzureichende Kenntnisse über die Bedeutung einer Spende für den Empfänger führen in der Bevölkerung oft zu Verunsicherung und zu Zurückhaltung.
Statt nun auf diese Situation zu reagieren und gezielt und sensibel Aufklärung zu betreiben, hat die Bundesregierung in der Zeit von 1998 bis 2004 die Mittel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in diesem Bereich auf ein Viertel der Anfangsausgaben reduziert.
Spendebereitschaft fördern wollen und zugleich die Aufklärung fast einstellen, das passt nicht zusammen.
Nach den Todesfällen von zwei tollwutinfizierten Organspendeempfängern und neuen, aktuellen Presseberichten breitet sich gerade jetzt wieder einmal weitere Verunsicherung aus. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in dieser Situation einer Diskreditierung von postmortalen Transplantationen vorzubeugen und ein größeres öffentliches Bewusstsein für die postmortale Organspende zu schaffen.
Auch unter den Ärzten ist mehr Information über das Thema dringend erforderlich; denn 40 Prozent der 1 400 Kliniken mit Intensivstationen in unserem Land melden nie einen Organspender bzw. machen bei der Rekrutierung von Organen einfach nicht mit. Der ehemalige medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Professor Martin Molzahn, kritisiert denn auch zu Recht, wenn er sagt:
Die Deutsche Stiftung Organtransplantation kann ihre Arbeit und ihre Prozesse noch so gut organisieren – wenn die Meldung aus dem Krankenhaus unterbleibt, werden wir unser Ziel einer deutlich höheren Zahl von Organspenden nicht erreichen.
Die Ursachen für die ausbleibenden Meldungen sind trotz Meldepflicht, die im Gesetz geregelt ist, vielfältig. Manchmal sind überarbeitete Intensivmediziner nicht in der Lage, die Aufgaben zusätzlich zu schultern, oder sie scheuen einfach auch das Gespräch mit den nahen Angehörigen des Verstorbenen.
Häufig mahnen aber auch die Klinikverwaltungen ihre Ärzte aus Kostengründen zur Zurückhaltung. Das Fallpauschalensystem hat den Kosten- und den Prozessdruck in den Krankenhäusern verschärft. Insbesondere kleine Krankenhäuser mit wenigen Intensivbetten spüren dies. Die intensivmedizinische Betreuung des Hirntoten und das Gespräch mit den Angehörigen erfordern viel Zeit und Einfühlungsvermögen – Zeit, die es im Krankenhaus immer weniger gibt, und Zeit, in der das Intensivbett nicht für andere Patienten zur Verfügung steht.
Zwar ist nunmehr durch eine Vereinbarung die Finanzierung der Organentnahme bei der Postmortalspende, auch wenn die Entnahme nicht zum Erfolg führt, über eine Pauschale geregelt, doch ist diese Pauschale nicht dynamisch, das heißt, sie passt sich nicht der Kostenentwicklung an. Darüber hinaus ist sie bereits heute nicht kostendeckend und weicht erheblich von der Erstattung bei Lebendspenden ab. Deshalb brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Postmortalspende in der Bundesrepublik nicht in dem Umfang angenommen wird, wie dies in anderen Ländern der Fall ist.
Wir plädieren deshalb für eine unabhängige, exakte und zeitnahe Kalkulation und Anpassung dieser Pauschalen und für eine bessere Vernetzung der Krankenhäuser mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Wir brauchen für die Aufgabe der Organspende einen konkreten Ansprechpartner in jedem Krankenhaus mit Intensivbetten.
Wichtig für die Akzeptanz der Organspende ist schließlich, dass keine Regelungslücken bestehen und zum Schutz der Organempfänger alle notwendigen Vorkehrungen getroffen sind. Der Fall der tollwutinfizierten Organspenderin ist bislang ein einzigartiges Ereignis und wird es hoffentlich auch bleiben. Aber er gibt uns allen Gelegenheit, noch einmal aufmerksam die bestehenden Regelungen zu überprüfen und Regelungslücken auszumachen.
Eine Regelungslücke spring dabei deutlich ins Auge: Sieben Jahre nach In-Kraft-Treten des Transplantationsgesetzes steht noch immer die Richtlinie über die Anforderungen an die im Zusammenhang mit einer Organentnahme zum Schutz der Organempfänger erforderlichen Maßnahmen aus. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung, denn diese hätte im Wege der Rechtsaufsicht die Bundesärztekammer schon längst auf die Schließung dieser Regelungslücke hinweisen müssen.
Nach jüngsten Berichten, etwa der „Süddeutschen Zeitung“ in der vergangenen Woche, und nach Aussagen aus den Reihen der Bundesärztekammer scheint es auch Interessenskollisionen bei der Organentnahme sowie bei der Entnahme, Vermittlung und Verwertung von Gewebe im Bereich der DSO zu geben. Diese Hinweise müssen wir im Interesse der Akzeptanz der Postmortalspende sehr ernst nehmen. Wir müssen Interessenskollisionen ausschließen und die Gewebeentnahme klar regeln. Sonst leidet die Akzeptanz der Organspende und dies können wir uns nicht leisten.
Meine Damen, meine Herren, wir alle sind aufgefordert, uns zugunsten der Menschen, die auf eine Organspende warten, zu engagieren. Ganz besonders aufgefordert ist die Bundesregierung. Sie muss ihre Aufklärungsarbeit intensivieren.
Sie muss Maßnahmen initiieren, um die Meldepflicht in den Krankenhäusern umzusetzen und damit die Zahl der Meldungen tatsächlich zu erhöhen. Sie muss bestehende Regelungslücken sofort schließen und aktuelle Entwicklungen, wie genannt, sorgfältig verfolgen und gesetzlich begleiten.
Dies ist dringend notwendig;
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
– denn die Menschen, die auf ein Organ warten, haben keine Alternative.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine gute Sache, dass wir heute hier anlässlich einer Großen Anfrage der Opposition über das Thema Organspende diskutieren; denn es ist in der Tat so: Organspende schenkt Leben. Das ist auch der Titel der Informationskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA. Wer sich zur Organspende bereit erklärt, gibt anderen Menschen die Chance auf mehr Lebensqualität, manchmal sogar die Chance auf ein zweites Leben. Deswegen sollte man dieses Thema auch mit dem gebotenen Ernst behandeln, liebe Kollegin Widmann-Mauz; da helfen einseitige Schuldzuweisungen nicht.
Sie wissen ja: Es war damals eine gemeinschaftliche Aktion, das Transplantationsgesetz hier im Deutschen Bundestag zu verabschieden.
Eine gemeinschaftliche Aktion war auch die Informationskampagne, die als Anschubhilfe ins Leben gerufen worden ist. Die Organspende genießt in der Bevölkerung hohe Akzeptanz. 80 Prozent der Bundesbürger bewerten sie positiv. Dennoch stehen zu wenig Spenderorgane zur Verfügung. Wir wissen, dass im Wesentlichen drei Punkte in Angriff genommen werden müssen, bei denen genau geschaut werden muss, welche Ebene welche Aufgabe hat.
Erstens. Wir haben 1997 das Transplantationsgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht und auch gemeinsam verabschiedet. Es hat die Spende, die Entnahme und die Übertragung von Organen auf eine rechtlich sichere Grundlage gestellt. Entgegen mancher Forderung brauchen wir keine Änderung der gesetzlichen Grundlagen; denn das Gesetz hat sich bewährt.
Das muss man einmal sagen und das war eine wichtige Klarstellung. Zunächst musste an den Gesetzgeber die Frage gerichtet werden, ob gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Das ist nicht der Fall. Das hat auch die jüngste Expertenanhörung in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ bestätigt.
Zweitens. Die Stärkung der Spendebereitschaft ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie machen es sich da zu einfach. Die Verantwortlichkeiten ruhen auf mehreren Schultern.
Damals ist verabredet worden: Bund, Länder, Krankenhäuser und Ärzte haben hier ihre jeweilige Aufgabe zu erledigen.
Dabei gibt es ganz deutliche Unterschiede und Defizite, die wir auch benennen müssen.
Ich glaube, dass eines ganz wichtig ist: Wenn wir eine Meldepflicht ins Gesetz schreiben, kann es nicht angehen, dass 40 Prozent der Krankenhäuser so tun, als gäbe es diese Meldepflicht überhaupt nicht. Wer hat da die Rechtsaufsicht? Das ist doch nicht der Bund. Die Rechts- und Fachaufsicht liegt klar in der Zuständigkeit der Länder. Deswegen will ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Es hat keinen Sinn, wenn wir immer neue Gesetze oder eine Verschärfung der Gesetze fordern,
solange das Problem bei der Durchsetzung dieser gesetzlichen Regelungen liegt. Für die Durchsetzung liegt die Verantwortung bei den Ländern. Ich appelliere an dieser Stelle, diese Verantwortung auch wahrzunehmen.
Wir brauchen drittens mehr Öffentlichkeit für dieses Thema. Information und Aufklärung sind Voraussetzungen für eine höhere Bereitschaft zur Organspende. Wir als Bundesregierung haben hier unsere Hausaufgaben gemacht. Seit 1998 wurden bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung circa 6 Millionen Euro zur Förderung der Bereitschaft zur Organspende ausgegeben. Die Tatsache, dass am Anfang einer Kampagne, wenn sie erst ins Werk gesetzt wird, mehr Geld investiert werden muss, als wenn die Kampagne bereits läuft, gegen die Bundesregierung zu wenden, ist nicht nur billig, sondern führt auch in der Sache nicht weiter.
Das Angebot der BZgA reicht von Informationsbroschüren über Angebote im Internet bis hin zu einem gebührenfreien Informationstelefon, das zunehmend in Anspruch genommen wird. Dieses Angebot wird gemeinsam von der BZgA und der Deutschen Stiftung Organtransplantation bereit gestellt. Demjenigen, der Rat im persönlichen Gespräch sucht, stehen also qualifizierte Expertinnen und Experten Rede und Antwort. Für Information und Aufklärung stehen auch in Zukunft ausreichend Gelder zur Verfügung, weil die Bundesregierung dieses Thema ernst nimmt und auch gerade angesichts des Tollwutfalles und der dadurch ausgelösten öffentlichen Debatte alles dafür tun will, dass die Spendenbereitschaft nicht zurückgeht.
Wir haben auf diesen Fall umgehend reagiert. Sie wissen, dass wir im Ausschuss berichtet haben und dass heute Nachmittag in unserem Hause ein Expertengespräch stattfindet. Es soll nochmals überprüft werden, ob es hier Regelungslücken gab oder ob der Grund für das Auftreten dieses Falles in mangelnder Zusammenarbeit und nicht ausreichender Information lag. Eine erste Auswertung der Expertengespräche in Hannover hat ergeben, dass solche Fälle auch durch noch so große Anstrengungen des Gesetzgebers nicht zu verhindern sind. Wir müssen uns also noch einmal zusammensetzen und prüfen, ob die Vernetzung und Kommunikation nicht noch verbessert werden kann.
Wir haben prompt reagiert und umfassend informiert. Uns geht es darum, dass nicht ein Einzelfall so skandalisiert wird, dass die Bereitschaft zur Organspende zurückgeht. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung, alles zu tun, dass die Spendenbereitschaft wieder steigt. Deswegen sollte man diesen Einzelfall nicht dazu benutzen, die Organspende zu diskreditieren. Dass dies nicht geschieht, dafür tragen alle Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verantwortung.
Der wichtigste Punkt ist, diejenigen Schnittstellen, die im Moment noch nicht ausreichend funktionieren, zu benennen und diesbezüglich für Abhilfe zu sorgen. Ich habe eben schon das Thema Meldepflicht der Ärzte angesprochen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, die Kooperation der jeweiligen Kliniken untereinander neu zu organisieren. Die Berichterstattung in den Medien zeigte, dass die Kooperation zwischen den Kliniken teilweise nicht richtig und ausreichend funktioniert. Beispielsweise sind Twinning-Projekte im europäischen Ausland dadurch bedroht, dass alles zentral organisiert wird. Wir müssen genau hinschauen, ob nicht sinnvolle Initiativen durch eine falsch verstandene Zentralisierung verhindert werden. Wir sind aufgefordert, dies gemeinsam zu tun.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:
Sehr gerne, Frau Präsidentin.
Ich möchte abschließend eine Hoffnung und eine Bitte äußern. Wir nehmen dieses Thema ernst. Deswegen bin ich über die Große Anfrage froh. Sie gibt uns Gelegenheit, dieses wichtige Thema öffentlich zu diskutieren. Ich appelliere aber auch an Sie: Helfen Sie mit, einseitige Schuldzuweisungen zu verhindern! Bund, Länder und Kliniken müssen gemeinsam etwas dafür tun, dass man mit Organspenden auch weiterhin Leben schenken kann.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 166. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 18. März 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]