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15. Wahlperiode
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   176. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 13. Mai 2005

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie Zusatzpunkte 8 und 9 auf:

28. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung der Freibetragsregelungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige (Freibetragsneuregelungsgesetz)

– Drucksache 15/5446 (neu) –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss gem. § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Hinzuverdienstmöglichkeiten zum Arbeitslosengeld II im Interesse einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt verbessern

– Drucksache 15/5271 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss

ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

– Drucksache 15/5445 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

ZP 9 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Sozialdumping durch osteuropäische Billigarbeiter

– Drucksache 15/5168 –

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion, das Wort.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern hat der Bundestag mit überwältigender Mehrheit den Vertrag über eine europäische Verfassung verabschiedet. In der Debatte waren wir uns darüber einig, dass Europa viele Vorteile mit sich bringt. Wir haben gerade den 8. Mai würdig begangen, an dem wir uns daran erinnert haben, dass wir in Europa über 60 Jahre ohne Krieg verbracht haben. Wir wollen jetzt auch über die wirtschaftlichen Aspekte reden, von denen viele Mitgliedstaaten, insbesondere auch Deutschland, profitieren.

   Wir sind Exportweltmeister. Unsere Exporte gehen zu 75 Prozent in die Europäische Union. Angesichts der hohen wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Bedeutung muss Europa von uns allen weiterhin als Chance genutzt werden.

   Doch der Wandel und die Veränderungen, die mit dem größeren Europa einhergehen, laufen nicht immer ganz reibungslos ab. Viele Menschen erleben Bedrohungen und haben Ängste. Gerade in Grenzgebieten haben die Menschen mit Blick auf osteuropäische Billigarbeiter Angst um ihren Arbeitsplatz. Viele, die als Fleischer oder Fliesenleger arbeiten, sahen in den letzten Monaten ihren Arbeitsplatz durch illegale Praktiken bedroht oder haben ihn sogar verloren.

   Dies müssen wir abwenden. Deshalb gilt, dass das Zusammenleben in Europa Spielregeln braucht. Eine dieser Spielregeln ist: faire Löhne und faire Arbeitsbedingungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darum diskutieren wir heute über die Änderung des Entsendegesetzes. Mit den neuen Regelungen schaffen wir erstens die Möglichkeit, Sozial- und Lohndumping einzudämmen, und zweitens schaffen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass ein fairer Wettbewerb in Europa gesichert bleibt.

   Hierbei dürfen ausländische Unternehmen nicht benachteiligt werden. Sie dürfen aber auch nicht, wie bisher, aufgrund fehlender Regelungen durch Lohn- und Sozialdumping Arbeitsplätze in unserem Land gefährden. Dass man sich durch unfairen Wettbewerb Vorteile verschafft, muss in diesem Land ausgeschlossen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb wollen wir mit der Änderung des Entsendegesetzes auch ausländische Arbeitgeber verpflichten, Mindestlöhne zu zahlen und Mindestarbeitsbedingungen wie Entlohnung von Überstunden, Urlaubsdauer, Urlaubsgeld usw. zu gewährleisten.

   Bislang galt das Entsendegesetz für die Baubereiche. Es ist bedauerlich – das will ich hier klar sagen –, dass die Ausweitung auf andere Bereiche erst jetzt erfolgt. Wir hätten dies schon 1996 erreichen können.

(Beifall bei der SPD)

Damals hat die SPD genau das gefordert und einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht.

(Dirk Niebel (FDP): Das war schon damals falsch!)

   Meine Damen und Herren, schauen Sie sich den derzeitigen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen an, wo insbesondere die sozialen Missstände beklagt werden. Dabei sind allerdings diejenigen unglaubwürdig, die sich gegen eine Ergänzung des Entsendegesetzes ausgesprochen und damit eine bessere Bekämpfung von Missbrauch, der zu unfairen Arbeitsbedingungen führt, verhindert haben. Auch das muss heute gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Faktisch schaffen wir mit der Ausweitung des Entsendegesetzes zunächst einheitliche Rahmenbedingungen für alle Branchen. Zukünftig soll es den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, selbst Regelungen für die jeweiligen Branchen zu treffen und durch ein bundesweites Tarifgefüge sicherzustellen, dass keine Niedrigstlöhne mehr gezahlt werden und unfaire Wettbewerbsbedingungen gar nicht erst entstehen können. Ich sage ganz bewusst: Das ist eine Regelung im Rahmen der Tarifautonomie. Alle, die nichts von einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn halten, sollten daran erinnert werden, dass es darum geht, die Tarifautonomie zu stärken und dafür zu sorgen, dass im Rahmen dieser Tarifautonomie bundesweite Regelungen erlassen werden können und die gesetzliche Festlegung eines allgemeinen Mindestlohnes gar nicht erst nötig wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir, meine Damen und Herren, werden die Situation im Auge behalten. Wir werden die Verantwortung wahrnehmen und, wenn es sein muss, natürlich auch über einen erweiterten Spielraum reden.

   In der Union ist man durch die Zustände, die wir in der Fleischwarenindustrie erlebt haben, wach geworden. Herr Stoiber erklärte, nachdem die Probleme in der Fleischindustrie deutlich wurden, ganz schnell, man müsse sich ernsthaft Gedanken über einen gesetzlichen Mindestlohn machen. Das veranlasste Frau Merkel kurz darauf dazu, öffentlich festzustellen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn mit der Union nicht zu machen sei. Herr Pofalla hat diese Haltung bestätigt, während Herr Laumann sagte, einer solchen Diskussion stehe er sehr aufgeschlossen gegenüber, und Herr Weiß von der CDA sagte, ein staatlicher Mindestlohn stelle eine diskussionswürdige Alternative dar.

   Nun wollen wir nicht gesetzlich einen allgemeinen Mindestlohn festlegen. Wir wollen als ersten Schritt ein Entsendegesetz, das zulässt, dass im Rahmen der Tarifautonomie faire Bedingungen durch die Tarifvertragsparteien für jede Branche separat geregelt werden. Jede Branche soll feststellen, welche Verdiensthöhe in ihrem Bereich notwendig und richtig ist. Wenn die Union, wie führende Politiker von ihr sagen, aufgeschlossen über das Thema sprechen will, dann hat sie heute die Möglichkeit, das unter Beweis zu stellen. Ihre Vertreter sollten also nicht nur die Lippen spitzen, sondern auch pfeifen und mithelfen, dass Regelungen, die für faire Bedingungen am Arbeitsmarkt sorgen, erlassen werden können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, über die Frage der Wirkungen des gesetzlichen Mindestlohns im Baubereich wird viel gestritten. Wer kann eigentlich besser Auskunft über die Wirkungen eines solchen Gesetzes, das seit 1996 in Kraft ist, geben als die Bauindustrie selbst? Natürlich kann ich durch ein Entsendegesetz, das die Möglichkeit zur Festlegung eines Mindestlohns gibt, nicht den Strukturwandel verhindern. Das ist auch nicht die Aufgabe. Der Strukturwandel ist aber auch nicht behindert worden. Das stellt die Bauindustrie selbst in aktuellen Stellungnahmen fest. Sie sagt darüber hinaus, der tarifliche Mindestlohn hat nicht preistreibend gewirkt, es kam zu keiner Verdrängung inländischer Baunachfrage. Das jedenfalls steht in der jüngsten Stellungnahme der deutschen Bauindustrie, die auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Sicherheit zugegangen sein wird.

   Insofern sind Aussagen, die das Entsendegesetz oder gesetzliche Mindestlöhne verteufeln, Schall und Rauch. Wer das verteufelt, will nicht, dass für faire Arbeitsplatzbedingungen in Deutschland gesorgt wird, will nicht, dass es ein Regelwerk gibt, das die Bereitschaft der Menschen, Ja zu Europa zu sagen, erhöht. Sie werden nämlich nur dann Ja zu Europa sagen, wenn sie wissen, dass es in Europa fair und korrekt zugeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Fest steht, das Entsendegesetz ist ein Element, um Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Wirtschaft fair zu gestalten. Es kommt bei der Umsetzung darauf an, dass alle mithelfen: die Sozialpartner, die öffentlichen Hände und all diejenigen, die Überwachungs-, Kontroll- und Gestaltungsaufgaben wahrnehmen. Die Bundesregierung geht gegen schwarze Schafe und diejenigen, die die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit missbrauchen, konsequent vor.

(Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Reichlich spät!)

Der Bundeskanzler hat eine Taskforce eingerichtet. Der Staatssekretär Andres, der gleich noch reden wird, wird – ich bin davon überzeugt – über einige Erfolge ihrer Tätigkeit berichten.

   Die Taskforce zeigt: Es darf nicht nur Sanktionen geben, sondern wir müssen auch weiter an einer effizienten Kontrolle arbeiten. Dazu muss zum Beispiel die Meldepflicht ausländischer Arbeitgeber angepasst und durch elektronische Kommunikationswege verbessert werden. Es kommt darauf an, dass Bund und Länder in dieser Frage noch enger zusammenarbeiten als bisher; denn wir sind davon überzeugt, dass ein präventiver Ansatz den Menschen am ehesten hilft, eine wirksame Kontrolle im Bereich des Entsendegesetzes und des Missbrauchs von Niederlassungsfreiheit zu erreichen.

   Ich will aber auch sagen, meine Damen und Herren, dass nicht die ganze Fleisch- und Schlachthofbranche in Verruf gebracht werden darf. Wer dieses Thema nur zum Verteufeln nutzt, der dient der Sache nicht. Bei schwarzen Schafen wurden gravierende Missstände aufgedeckt. Aber es gibt eine große Zahl von Unternehmen, die bereit sind, einen Ehrenkodex und ein Markenzeichen für Qualitätsprodukte auszuarbeiten, das dafür steht, dass die Qualitätsprodukte unter fairen Bedingungen hergestellt und bearbeitet worden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Initiative müssen wir Unterstützung verleihen. Auch ein Großunternehmen aus meinem Wahlkreis, das Unternehmen Tönnies, ist bereit, einen solchen runden Tisch mit zu organisieren, weil es darum geht, Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze in Deutschland zu erhalten, und das zu fairen Bedingungen.

   Dahinter steckt doch auch, dass es um Investitionen am Standort Deutschland geht. Es geht darum, dass die hier vorhandene Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen geleistet wird. Dazu müssen die entsprechenden Organisationsformen hergestellt werden. Ein solcher runder Tisch kann dazu dienen, letztlich sicherzustellen, dass Betriebsräte üblich sind, dass Tarifverträge üblich sind und dass die Einhaltung von gesetzlichen Mindeststandards nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass die Union mit ihrem Zickzackkurs aufhört. Sie hat das ja bei dem zweiten Thema, das wir zum Schluss positiverweise einheitlich geregelt haben, gezeigt. Ich will damit ganz klar auf die Zuverdienstregelung zu sprechen kommen. Wir hätten eine Zuverdienstregelung natürlich schon längst haben können; denn Rot-Grün hatte einen Gesetzentwurf eingebracht, der einen höheren Zuverdienst vorsah, damit sich auch die Aufnahme einer geringer bezahlten Arbeit lohnt. Im Verfahren hat die Union eingelenkt. Das begrüße ich sehr. Wir legen heute eine Regelung vor, die transparent ist, die einen echten Anreiz bietet, auch Arbeit in Teilzeit oder mit einer geringeren Bezahlung aufzunehmen, und damit den Weg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnet.

   Ich begrüße dies sehr und freue mich, dass die Union mit ihrem Zickzackkurs Schluss gemacht hat. Es kommt jetzt darauf an, dass wir den Prozess insgesamt voranbringen. Wir konnten gestern Konjunktursignale zur Kenntnis nehmen: Im ersten Quartal 2005 haben wir seit vier Jahren das erste Mal wieder ein Wachstum, mit dem wir in Europa Spitzenreiter und eben nicht Schlusslicht sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden gleich hören, dass Sie das alles wieder kleinreden. Das ist völlig klar; das kennen wir schon.

(Dirk Niebel (FDP): Wie war das mit dem Einäugigen und dem Blinden?)

Aber es ist in dieser Zeit doch wichtig, deutlich zu machen: Hier bewegt sich was! Reden Sie doch nicht immer schlecht, sondern helfen Sie mit, wie Sie das auch in anderen Bereichen in der Vergangenheit getan haben! Die Opposition kann zeigen, dass sie durch die Zustimmung zu beiden Gesetzentwürfen, zum Zuverdienst und zum Entsendegesetz, ein gutes Signal für Deutschland und für den Arbeitsmarkt setzt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tagesordnungspunkt umfasst ja zwei Gesetzgebungsvorhaben der Regierung: Der eine Teil sind die Hinzuverdienstregelungen bei Hartz IV, die wir für sinnvoll halten, die wir in einem gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht haben und die ich teilweise persönlich ausgehandelt habe. Der andere Teil ist das Entsendegesetz. Ich glaube, dass dieses Entsendegesetz überhastet entstanden ist.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Ute Kumpf (SPD): Mal geht es Ihnen zu langsam, mal zu schnell! Sie können sich nie entscheiden!)

Ich bin fest davon überzeugt, dass es in vielen Bereichen gegen die soziale Partnerschaft gerichtet ist, etwa dadurch, dass der Bundesminister auf dem Wege der Verordnung auf Antrag nur einer Tarifvertragspartei einen entsprechenden Prozess in Gang setzen kann.

Zu dem Gesetzentwurf zu den geänderten Hinzuverdiensten möchte ich sagen: Man kann immer darüber streiten, ob die Freibeträge, die gewährt werden, so richtig sind oder ob sie höher oder niedriger sein sollten. Das möchte ich einmal dahingestellt lassen.

   Wichtig ist aus meiner Sicht, dass das Arbeiten in einem regulären Job auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt attraktiver sein muss als zum Beispiel ein 1-Euro-Job, der immer im zweiten Arbeitsmarkt angesiedelt ist. Ein regulärer Job für einen Empfänger von Arbeitslosengeld II muss auch so attraktiv sein, dass der Betreffende lieber arbeitet, als endlose Runden in geförderten Maßnahmen zu drehen. Nichts qualifiziert aus meiner Sicht für den Arbeitsmarkt so gründlich, wie das Arbeiten im ersten Arbeitsmarkt, auch wenn es nur wenige Stunden in der Woche sind.

   Ich glaube, dass die bisherigen Regelungen, nämlich nicht nur – wie es früher der Fall war – mit einem Freibetrag zu arbeiten, sondern auch mit Zuverdiensten in prozentualer Höhe, zwar im Prinzip gut und hinsichtlich der Anreizwirkung richtig waren, aber im Bereich der Jobs bis zu einem Verdienst von 400 Euro gegenüber dem Bereich der 1-Euro-Jobs schlicht und ergreifend unattraktiv waren.

   Ich meine, dass wir hier eine vernünftige Lösung gefunden haben. Ich bin auch sehr froh, dass wir eine Lösung gefunden haben, mit der im Regelfall die Zuverdienstmöglichkeiten der größeren Bedarfsgemeinschaften, also der Bedarfsgemeinschaften mit Kindern, gegenüber den Zuverdienstmöglichkeiten von Leuten, die keine Kinder haben, verbessert wurden. Dadurch wird das Lohnabstandsgebot besser gewahrt.

   Wir sollten nicht nur sehen, dass wir das Gesetz zügig verabschieden, sondern wir sollten vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Bundesagentur für Arbeit in der Lage ist, diese Änderungen zügig zu administrieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mir macht schon ein wenig Sorgen, dass unter Umständen, wie man hören kann, die Regelungen erst zum 1. Januar des nächsten Jahres in Kraft treten. Wir sollten im Interesse der Menschen zusehen, dass diese Regelungen spätestens zum 1. August oder 1. September umgesetzt werden.

   Der Entwurf eines Entsendegesetzes hat sicherlich eine ehrenwerte Zielrichtung, nämlich Sozialdumping zu verhindern. Bevor wir aber einen solchen weit reichenden Schritt tun, müssen wir uns doch fragen, welche Erkenntnisse die Bundesregierung in den einzelnen Branchen hat, dass sie jetzt zu diesem gesetzlichen Mittel greifen will. Wir von der Union haben eine Große Anfrage gestellt, in der wir wissen wollten: Wie ist die Situation in den einzelnen Branchen? Welche Erkenntnisse haben Sie? Welche Zahlen liegen vor? Diese Große Anfrage ist bis heute nicht beantwortet. Sie sollte aus unserer Sicht im Übrigen einer Vorbereitung auf die Diskussion sein, wie wir mit diesen Problemen umgehen.

   Ich habe den Eindruck, dass dieses Gesetz für die Menschen, die Angst haben – auch wir sehen, dass es Branchen gibt, wo die Situation nicht einfach und nicht in Ordnung ist –, ein Symbol sein soll: Wir haben euer Problem erkannt und jetzt führen wir ein Instrument ein, mit dem wir euch helfen. – Aber wenn dieses Instrument nicht funktioniert, wenn die Leute sehen, dass trotz der beschlossenen Maßnahmen ihre Situation überhaupt nicht verändert wird, dann bewirken Sie in einem äußerst sensiblen Bereich bei Menschen, die es auf unserem Arbeitsmarkt oft nicht sehr einfach haben, eine große Enttäuschung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich will ganz klar sagen: Die Situation der Menschen in den Schlachtbetrieben ändern Sie mit dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, überhaupt nicht;

(Dirk Niebel (FDP): Alles Scheinselbstständige!)

denn diejenigen aus Osteuropa, die in den Schlachtbetrieben arbeiten, kommen zunächst einmal als Selbstständige.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

Ob diese nun alle, Herr Kollege Niebel, Scheinselbstständige sind, möchte ich bezweifeln. In Nordrhein-Westfalen wurden in den letzten Monaten in allen großen Schlachtbetrieben Kontrollen in einem erheblichen Umfang durchgeführt. Natürlich ist es zu Beanstandungen gekommen. Aber es gab auch ganz viele Fälle, in denen die Situation nicht zu beanstanden war. Auch das muss man sagen.

   Sie werden dieses Problem mit den Selbstständigen aus Osteuropa, die Aufträge beispielsweise in deutschen Schlachthöfen übernehmen, über ein Entsendegesetz nicht lösen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Problem hängt damit zusammen, dass es in Europa eine Dienstleistungsfreiheit gibt, die diese Selbstständigen nach dem EU-Beitritt nutzen können.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sollen wir die jetzt abschaffen?)

   Obwohl der Bundesrat die Bundesregierung dazu aufgefordert hat, ist diese Dienstleistungsfreiheit nicht wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit für einen Übergangszeitraum eingeschränkt worden. Darin liegt das Problem. In dem EU-Vertrag mit Bulgarien und Rumänien hat die Bundesregierung eine Fußnote durchgesetzt, dass wir unseren Arbeitsmarkt relativ rasch für diese Menschen öffnen wollen. Das zeigt, dass Sie genau das Gegenteil von dem tun, was Sie den Menschen vorzutäuschen versuchen. Da kann man doch einfach nicht mitmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nehmen wir ein anderes Beispiel, eine andere Branche, in der es zurzeit Schwierigkeiten gibt: Das sind die Fliesen- bzw. Plattenleger. Zum Beispiel in der Handwerkskammer Münster – ich komme von dort – haben die Anmeldezahlen in dieser Branche um 85 Prozent zugenommen. Die Menschen, die jetzt in diesem Bereich ein Gewerbe anmelden, sind fast ausschließlich aus Osteuropa. Wenn diese ihre Dienstleistung als selbstständige Fliesenleger bei uns anbieten, dies aber zu Quadratmeterpreisen, mit denen man einen deutschen Fliesenleger weder nach Tarif noch im Hinblick auf das Urlaubsgeld und die Sozialversicherung, wie es bei uns der Fall ist, bezahlen kann, dann lösen Sie dieses Problem nicht über den Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben.

(Anette Kramme (SPD): Herr Laumann, wer hat denn die Niederlassungsfreiheit eingeräumt?)

Sie lösen das Problem damit nicht und sollten dies auch den Menschen nicht vorgaukeln. Es ist doch verrückt, den Leuten zu sagen: Mit diesen Mindestlöhnen können wir eure Situation ändern. Dieses Parlament trägt die Verantwortung dafür, dass diese Situation bei den Fliesenlegern entstehen konnte, indem wir den Meisterzwang beseitigt haben

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

und damit die europäische Richtlinie über die berufliche Qualifikation nicht mehr greift. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie waren aus ideologischen Gründen dafür, den Meisterbrief abzuschaffen. Sie haben es zum Schlimmen verändert.

   Wollen Sie den Fliesenlegern helfen? Das kann der Bundestag in einem Tag machen. Dann müssen Sie den Meisterzwang für diesen Bereich wiederherstellen. Dann können Sie zumindest verhindern,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist das!)

dass sich Menschen, die nicht schon heute im Ausland selbstständig sind, in diesem Bereich selbstständig machen. Das wäre die einzige Möglichkeit, um dieser Branche zu helfen.

(Klaus Brandner (SPD): Ich habe die Bauindustrie am Tisch gehabt! Es ist totaler Quatsch, was ihr erzählt!)

   Oder sagen Sie: „Wir wollen diesen Wettbewerb“? Dann muss man aber auch dazu stehen. Nur, ich bin gespannt, wie wir Wettbewerb im gehobenen Dienstleistungsbereich herstellen wollen, wo wir etwa bei Notaren noch Gebietsschutz haben und wo im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit in Europa gar nichts passieren kann.

   Ich sehe die Probleme, die das Dienstleistungshandwerk hier hat; aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen Sie diese nicht. Sie machen Versprechungen Menschen gegenüber, die sehr gefährdet sind, weil es aufgrund der europäischen Erweiterung um ihre Existenz geht. Sie verstehen Ihre Politik nicht mehr, die ihnen am Ende nicht hilft. Eine solche Politik ist meiner Meinung nach unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das ist doch Methode bei denen!)

   Natürlich muss es, auch was die Löhne ausländischer Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten, angeht, Spielregeln geben. Es ist wahr, dass es Bereiche gibt, in denen die Tarifvertragsbindung zwar auf dem Papier steht, aber in der Realität sehr zu wünschen übrig lässt. Dass es ganz klar ist: Auch für die CDU/CSU ist Lohndumping nicht in Ordnung; dagegen muss man vorgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es ist für uns nicht in Ordnung – das sage ich hier ganz deutlich –, wenn wir teilweise Strukturen haben, in denen einzelne Unternehmer die Höhe der Löhne in ihren Betrieben allein festsetzen können. Das ist nicht das Spiel, wie wir Koalitionsfreiheit verstehen. Schon Leo XIII. – der Mann war von 1878 bis 1903 Papst der römisch-katholischen Kirche – hat gesagt:

(Klaus Brandner (SPD): Der steht aber nicht zur Wahl!)

Es ist nicht in Ordnung, wenn Unternehmen einseitig Löhne festlegen können. – Das ist ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Soziallehre, die in meiner Partei und in keiner anderen in Deutschland ihren Schutzpatron hat.

(Zuruf von der SPD: Mir kommen die Tränen!)

   Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ganz normal, Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen abzugeben. Es gibt in Deutschland über 450 allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge.

(Klaus Brandner (SPD): Das macht die Nähe zur christlichen Gewerkschaft aus!)

Die meisten kommen im Übrigen aus der Zeit, in der die Union regiert hat. Dies war immer ein ganz normales Instrument der Politik.

   Aber man muss sich dieses Instrument Branche für Branche anschauen. Man muss genau abwägen: Kann man damit Probleme lösen oder muss man andere Instrumente in die Hand nehmen, um die Probleme zu lösen?

(Klaus Brandner (SPD): Genau deshalb machen wir das! Weil wir Branche für Branche angucken!)

Ich habe neben anderen ein großes Problem mit Ihrem Vorschlag, der in der Anwendung demnächst im Grunde folgendermaßen funktionieren soll: Eine Tarifvertragspartei einer Branche sagt: Wir sind der Meinung, dass in unserem Bereich keine Ordnung herrscht. Dann muss zwar der Bundesminister mit der anderen Tarifvertragspartei reden; aber im Grunde kann er durch eine Verordnung am Parlament und der anderen Tarifvertragspartei vorbei entscheiden, was er in diesem Bereich will. Das ist nicht unsere Vorstellung.

Unsere Vorstellung ist vielmehr – das haben wir auch nach 1998, als Sie dieses Gesetz verändert haben, sehr deutlich gesagt –: Wir sind der Meinung, dass sich die Tarifvertragsparteien einer Branche über die Frage verständigen müssen, ob Unordnung in ihrem Bereich besteht, und dann der Politik sagen müssen: Wir beantragen eine Allgemeinverbindlichkeit. Aus unserer Sicht kann der Bundesminister dann nach einem Prüfungsprozess entscheiden; denn ich glaube, dass die Sozialpartnerschaft in den Branchen eine wichtige Voraussetzung für die Tarifautonomie ist, die sich im Grundsatz bewährt hat. Wir, die Politik, sollten uns nicht danach sehnen, die unteren Löhne festzusetzen. Hinter der Frage, ob wir das besser als die Tarifvertragsparteien könnten, mache ich ein ganz großes Fragezeichen.

(Dirk Niebel (FDP): Ja, allerdings!)

   Sie werden die Tarifautonomie dann stärken, wenn Sie es zumindest dabei belassen, dass sich beide Tarifvertragsparteien über diese Frage verständigen müssen.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr einem Monat, am 8. April, konnten wir in der „FAZ“ lesen, dass Herr Stoiber bei einem Besuch in Brüssel erklärte, dass man sich „ernsthaft über einen gesetzlichen Mindestlohn Gedanken machen muss“. Herr Laumann hat dem zugestimmt und applaudiert.

(Klaus Brandner (SPD): Dann muss er jetzt auch pfeifen! Oder er ist unglaubwürdig!)

Er hat, wie auch Herr Stoiber, darauf hingewiesen, dass wir in verschiedenen Branchen so etwas wie Mindestlöhne haben müssen, um genau dies in Deutschland zu vermeiden.

   Die Ausweitung des Entsendegesetzes ist ein Mittel – eines von vielen denkbaren, unterschiedlichen Mitteln –, um genau das, was von Ihnen beklagt wird, aufzugreifen, dem etwas entgegenzusetzen und das zu tun, was Herr Laumann gerade eingefordert hat: sich unter Berücksichtigung der Branchen auf die Autonomie der Tarifvertragsparteien zu beziehen, um in einzelnen Branchen Mindestlöhne einzuziehen, um Lohndumping und Sozialdumping in Deutschland zu verhindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Nur zwei Wochen später, vielleicht sogar noch eher, hat sich die Union von den Ausführungen von Herrn Laumann und Herrn Stoiber distanziert, ganz nach dem Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht gab es auch einfach ein paar neue Erkenntnisse, Frau Dückert!)

Sie haben wieder einen Beweis dafür geliefert, dass die Unionsparteien die Parteien der Unberechenbarkeit und des Populismus sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ihre populistischen Versprechen haben Halbwertszeiten von zwei Wochen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, Zickzack! Rauf und runter! – Klaus Brandner (SPD): Wenn es ernst wird, schlagen sie sich in die Büsche!)

   In der Tat gilt es, Armutslöhne in Deutschland wirkungsvoll zu bekämpfen; das ist überhaupt keine Frage. Auch gilt es, jede mögliche Chance dazu zu nutzen. Aber was schlagen Sie vor? Sie mäkeln am Entsendegesetz herum. Herr Laumann sagt: Wir müssen noch ein bisschen prüfen. Er fragt: Wie ist das in Deutschland überhaupt? Dabei hat das Entsendegesetz seinen Praxistest schon bestanden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Was schlagen Sie vor, außer dass Sie an den Vorschlägen, die wir gemacht haben, herummäkeln?

(Zuruf von der SPD: Nichts!)

Sie schlagen zum Beispiel eine Abschottungspolitik gegenüber Europa vor. Herr Laumann, Sie haben dieser Abschottungspolitik mit Hinweisen auf Rumänien und Bulgarien wieder das Wort geredet. – Wie ich sehe, nicken Sie.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Dazu stehe ich auch! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt noch nichts dazugelernt!)

   Gleichzeitig haben Sie im Zusammenhang mit der Problematik mit den Fliesenlegern wieder einmal das Hohelied auf das alte Zunftwesen gesungen.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Dazu stehe ich auch! – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Aber, aber, Frau Dückert!)

Auch Sie, Herr Laumann, wissen, dass dieses Zunftwesen und diese Form der Handwerksordnung, die wir zum Glück modernisiert haben, in keinem unserer europäischen Nachbarländer existieren.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Das wird uns noch Leid tun!)

In genau diesem europäischen Kontext, in den wir einsteigen wollen, um ein soziales und offenes Europa zu schaffen, sind solche Formen von Sonderregelungen und Abschottung, wie Sie sie betreiben wollen, kontraproduktiv.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Den Erfolg sehen Sie ja, Frau Dückert!)

   Was Sie hinsichtlich der Lohnentwicklung in Europa wollen – das hat Herr Pofalla in den letzten Wochen gesagt und das ist auch von Frau Merkel gesagt worden –, ist die Möglichkeit eines Niedriglohnsektors.

Sie wollen eine Abschottung und Sie wollen einen Niedriglohnsektor; das ist Ihre Antwort.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sofort, Herr Brandner, nachdem ich meinen Gedanken zu Ende geführt habe. – Es geht darum, dass genau die flächendeckenden Niedriglöhne, die Sie vorschlagen, das Gegenteil von einem Kampf gegen Armutslöhne in Deutschland bedeuten. Das, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit und deswegen schlagen wir Maßnahmen wie das Entsendegesetz vor.

   Herr Brandner.

Klaus Brandner (SPD):

Frau Kollegin Dückert, Sie haben gerade berichtet, dass die Union sich gegenüber Europa abschotten will. Ist Ihnen die Aussage von ihrem ehemaligen europapolitischen Sprecher Peter Hintze bekannt? Er hat gesagt, der Vorschlag der EU-Kommission, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach der EU-Erweiterung bis zu sieben Jahre als Übergangsfrist vorzusehen, sei zu zögerlich – wörtlich –:

Solch lange Fristen sind weder politisch noch wirtschaftlich gerechtfertigt.

So zu lesen in einer Presseerklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wie erklären Sie sich das?

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Es ist relativ schwierig, sich die ständigen Positionsveränderungen innerhalb der Union zu erklären,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

außer vielleicht damit, dass es sich auch hier um tagespolitische, um populistische Äußerungen handelt – wie in diesem ganzen Bereich – nach dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?“

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie wollen Abschottungspolitik und Sie werfen uns vor, dass das Entsendegesetz ein Arbeitsvernichtungsprogramm sei; Sie verweisen dabei auf das Baugewerbe. Herr Laumann, Sie wissen sehr genau, was die Probleme im Baugewerbe sind: Natürlich sind durch den Strukturwandel Arbeitsplätze verloren gegangen, aber doch mit Sicherheit nicht als Folge des Entsendegesetzes; das wissen Sie. Sie haben selber die unsägliche, unsinnige Politik der Subventionierung im Bausektor in den 90er-Jahren zu verantworten, die Aufblähung des Sektors, auf die natürlich Strukturveränderungen und auch Schrumpfungsprozesse folgen mussten. Das sind die Ursachen für die schwierige Entwicklung im Bausektor. Deswegen hat der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Michael Knipper, mit Recht darauf hingewiesen, dass in der Bauindustrie ohne die Mindestlöhne des Entsendegesetzes mehr als 650 000 Arbeitsplätze verloren gegangen wären.

   Ein anderer Punkt: Sie beklagen, dass das Entsendegesetz nicht verhindern könnte, dass sich beispielsweise im Fleischereigewerbe und in anderen Bereichen illegale Machenschaften, Scheinselbstständigkeit und Lohndumping durchsetzen. Sie haben Recht, Herr Laumann: Das kann das Entsendegesetz nicht regeln, weil hier gesetzeswidriges Handeln vorliegt, weil es sich hier um die Umgehung von Gesetzen handelt, um Schwarzarbeit, um Scheinselbstständigkeit. Die kann man nicht mit Gesetzen austreiben, sondern nur durch Kontrolle, zum Beispiel durch Kontrolle durch die Zollbehörden, durch Kontrolle in den Betrieben und durch internationale Zusammenarbeit. Ganz sicher reicht dafür kein Entsendegesetz. Aber es läuft ins Leere, wenn Sie gerade dieses dem Entsendegesetz vorwerfen.

   Meine Damen und Herren, es geht darum, in vielen Branchen unterschiedliche Möglichkeiten zu ergreifen, Lohndumping zu verhindern. Wir brauchen dieses, aber wir müssen dabei gleichzeitig auf die Kraft der Tarifvertragsparteien setzen, auf die Tarifautonomie. Deswegen ist es sinnvoll, mit dem Entsendegesetz, aber auch mit anderen Möglichkeiten branchenbezogene Mindestlöhne durchzusetzen, zum Beispiel durch eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Das Entsendegesetz ist das eine. Dieser Schritt muss auch in anderen Branchen folgen.

Ich möchte ganz zum Schluss noch zu einem anderen Gesetz etwas sagen, über das wir hier sprechen – auch ein Beweis für die Wendefähigkeit, vielleicht sogar einmal für die Lernfähigkeit der Union –: Es geht um die Zuverdienstregelung. Ich bin ungeheuer froh, dass es heute gelingt, die Zuverdienstregelung für die Langzeitarbeitslosen zu verbessern. Es war ein wirklich schwarzer Fleck am Hartzgesetz, dass die Union uns gezwungen hat, die Zuverdienstmöglichkeiten gegenüber der alten Gesetzeslage so zu verschlechtern, wie wir es dann machen mussten, um die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe überhaupt hinzubekommen. Sie haben hier gelernt.

   Ich möchte trotzdem noch einmal sagen: Gemäß Ihrem Ansatz durften die Menschen, die bis 400 Euro verdienen, keinen Cent dazuverdienen. Wir haben heute ein Gesetz eingebracht, durch das genau dies für kleine Zuverdienste extrem verbessert wird. Ich bin froh darüber, weil es in diesem Land ganz viele Leute gibt, die zwar aktiv sind und Eigeninitiative ergreifen, die es aber aufgrund der engen Arbeitsmarktsituation sehr schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukommen. Diesen Menschen können wir ihren Zuverdienst nicht madig machen. Wir können ihnen nicht jeden Cent abnehmen, sondern wir müssen sie in ihrer Eigeninitiative unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen ist es richtig, dass wir hier einfache pauschalierte Regelungen und eine Möglichkeit geschaffen haben, gerade bei Tätigkeiten in Teilzeit und bei ersten Schritten in den ersten Arbeitsmarkt Unterstützung zu bieten. Dies ist besser als die 1-Euro-Jobs; sie sind diesen überlegen. Ich begrüße das sehr und freue mich, dass Sie hier mit im Boot sind. Es hat lange gedauert.

   Den Betroffenen hat das übrigens einiges gekostet. Das finde ich sehr schade. Ab dem 1. Januar 2005 haben einige der Betroffenen auf Zuverdienst verzichten müssen. Das, was Sie da ausgebremst haben, hat den Menschen geschadet. Jetzt sind Sie auf dem richtigen Weg. Es ist gut, dass Sie hier mitkommen.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dirk Niebel (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Bundesregierung bereitet mit diesem Gesetzgebungsverfahren den Weg für die Enttäuschung vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Sie suggerieren den Menschen, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben, einen Lösungsweg und im Endeffekt streuen Sie ihnen doch nur Sand in die Augen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wenn wir uns anschauen, welche Situation wir vorgefunden haben – ich nehme einmal die Fleisch verarbeitenden Betriebe –, müssen wir feststellen

(Klaus Brandner (SPD): Wir erinnern uns: 1998 die höchste Arbeitslosigkeit, der höchste Schuldenstand, die höchsten Steuern!)

– Herr Brandner, nun lernen Sie doch mal ein bisschen dazu, ich habe ja noch gar nicht richtig angefangen und Sie blöken schon wieder dazwischen; vielleicht kann ich Ihnen hier ja noch etwas erklären –:

(Ute Kumpf (SPD): Sie sind ganz schön arrogant geworden! – Klaus Brandner (SPD): Ist Ihnen der Job zu Kopf gestiegen?)

Viele Selbstständige aus osteuropäischen Ländern sind hier tätig. Wir stellen aber auch fest, dass nicht alle vorher in ihren Herkunftsländer tatsächlich selbstständig gewesen sind.

   Wenn ich mich jetzt zurückerinnere, wie diese Bundesregierung die angeblichen Scheinselbstständigen in Deutschland drangsaliert und verfolgt hat, dann erwarte ich von Ihnen in allererster Linie, dass Sie den Missbrauch einschränken, dass Sie überprüfen, wer tatsächlich selbstständig ist, und dass Sie gegen diejenigen vorgehen, die rechtsmissbräuchlich in diesen Betrieben arbeiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme (SPD): Genau das findet statt, Herr Niebel!)

   Selbst, wenn Sie das dann gemacht und herausgefunden haben, dass nur noch richtige Selbstständige dort tätig sind, greift das Entsendegesetz – das hat der Kollege Laumann bereits angesprochen – überhaupt nicht. Das greift nämlich nur bei Angestellten. Also können Sie auch hier keine Lösung herbeiführen. Sie tun aber so, als ob den Menschen in den Betrieben geholfen würde. Das ist schäbig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Mindestlöhne, seien sie tariflich oder staatlich festgelegt, sichern und schaffen keinen einzigen Arbeitsplatz; sie vernichten Arbeitsplätze in der regulären Wirtschaft.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner (SPD): So ein Quatsch!)

Mindestlöhne in anderen Ländern haben eine komplett andere Funktion als Mindestlöhne in Deutschland.

(Klaus Brandner (SPD): Die Bauindustrie sagt über das Gesetz genau das Gegenteil!)

In anderen Ländern, in denen es Mindestlöhne gibt, besteht der Zweck darin, ein Mindesteinkommen zu sichern, damit es nicht zur Armut kommen kann. Exakt dieser Zweck wird in der Bundesrepublik durch die sozialen Sicherungssystemen verfolgt, nämlich durch das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe.

   Mindestlöhne, wie Sie sie diskutieren, setzen einen Mindestpreis für eine bestimmte Leistung fest. Wenn diese Leistung im Wettbewerb den Preis allerdings nicht wert ist, dann wird sie zumindest in der regulären Wirtschaft nicht mehr nachgefragt und die Menschen werden aus dem Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aus diesem Grund setzen wir als FDP-Bundestagsfraktion auf Lohnzuschüsse statt auf Mindestlöhne.

   Ich bin sehr froh, dass wir auf unserem Bundesparteitag am letzten Wochenende beschlossen haben, ein Bürgergeld einzuführen, durch das die steuerfinanzierten Sozialtransfers mit dem Steuersystem zusammengeführt werden,

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann müssen Sie sich auch mal einigen, welches Modell Sie wollen! Alle drei Wochen ein neues Modell!)

damit hier ein geregelter Niedriglohnsektor geschaffen werden kann, der auch Menschen mit geringerer Qualifikation die Möglichkeit gibt, ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise wieder durch eigene Arbeit zu verdienen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Denn eines ist doch völlig klar: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unsrigen ist Massenarbeitslosigkeit eine der größten Freiheitsberaubungen, die es gibt. Deswegen müssen wir dagegen angehen, dass Menschen immer weiter aus dem Erwerbsprozess gedrängt werden. Was ist denn der Grund oder zumindest ein wichtiger Grund für die hohe Sockelarbeitslosigkeit gerade im gering qualifizierten Bereich? Das sind die starken Sockellohnerhöhungen der vergangenen Jahrzehnte,

(Anette Kramme (SPD): 3 Euro Stundenlohn für alle!)

die, Frau Kramme, gut gemeint, aber schlecht gemacht waren. Die unteren Tariflohngruppen wurden überproportional angehoben. Damit sind die Menschen mit ihrem Gehalt aus der Produktivität herausgewachsen. Der Arbeitsmarkt wurde faktisch verschlossen. Die Menschen wurden zu 100 Prozent in die Transferleistungen überführt. Das ist menschenunwürdig und hat mit dem mündigen Bürger, wie wir ihn uns vorstellen, überhaupt nichts mehr zu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Abschottungsprozesse werden auf Dauer nichts nützen. Man sollte vielmehr über flexible Übergangsfristen – auch im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie, die wir noch zu erwarten haben – nachdenken, die branchenspezifisch und regional unterschiedlich sind.

   Ich möchte auch auf den zweiten Entwurf, der hier vorliegt, eingehen. Ich erkenne an, dass Schwarz, Rot und Grün hier eine Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten vorsehen. Ich habe – vielleicht können Sie sich noch daran erinnern – schon im Vermittlungsverfahren gefordert, dass wir bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten erreichen. Natürlich muss derjenige, der arbeitet, mehr Geld übrig haben als derjenige, der nicht arbeitet. Natürlich muss man einen Anreiz schaffen, im ersten Arbeitsmarkt zu verdienen und nicht vorzugsweise im zweiten Arbeitsmarkt.

   Das passt übrigens ganz gut zusammen mit der vorhergehenden Position. Die Baubranche sagt nämlich im „Mannheimer Morgen“ von gestern – ich zitiere –:

Bau beklagt Lohn-Dumping – Billig-Konkurrenz durch Ich-AGs und Ein-Euro-Jobs
... wegen der Konkurrenz mit staatlich subventionieren Ich-AGs seien reguläre Bautarife häufig nicht mehr zu bezahlen. Missbraucht würden auch die Regelungen zum Einsatz von Ein-Euro-Jobbern. Langzeitarbeitslose würden inzwischen häufig von Kommunen und Krankenhäusern bei der Sanierung ihrer Gebäude eingesetzt. Dies sei jedoch nicht im Sinne des Gesetzgebers.

Ich stimme dem zu. Das war nicht in unserem Sinne.

   Wenn wir jetzt aber eine Hinzuverdienstregelung, wie die von Ihnen vorgelegte, haben, behalten wir immer noch den höheren Anreiz, im zweiten Arbeitsmarkt tätig zu werden. Wer einen 2-Euro-Job 30 Stunden die Woche ausübt, wird 240 Euro netto mehr zur Verfügung haben. Wer den gleichen Nettobetrag im ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung haben will, der muss schon einen 850-Euro-Job bekommen.

   Ich denke, hier ist die Anreizwirkung immer noch eine falsche. Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Bis zu einem Verdienst von 600 Euro sollen 40 Prozent anrechnungsfrei bleiben, damit es sich tatsächlich lohnt, für sich selbst zu arbeiten und wieder in den Erwerbsprozess hineinzukommen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ist das jetzt der Parteitagsbeschluss oder der Antrag? Das sind zwei verschiedene Dinge!)

– Ich verstehe, Frau Dückert, dass Sie traurig sind, weil die Grünen so etwas Ähnliches auch einmal wollten.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind überhaupt nicht traurig!)

Aber Sie sind natürlich wieder einmal platt wie eine Flunder vor Ihrem Koalitionspartner umgefallen. Es tut mir furchtbar Leid. Wir werden uns bemühen, dass Ihnen dieses Leid in Zukunft nicht mehr entgegentritt.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich frage nur: Was gilt jetzt? Gilt Ihr Antrag hier oder Ihr Parteitagsbeschluss? Das sind zwei unterschiedliche Modelle, Herr Niebel!)

Wir werden dafür sorgen, dass Sie wieder in Ruhe die klaren grünen Thesen, die es irgendwann einmal gegeben hat, vertreten können, und zwar in dem Moment, in dem wir die rot-grüne Bundesregierung abgelöst haben.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Über was reden Sie eigentlich?)

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren hier in verbundener Debatte zwei für den Arbeitsmarkt sehr wichtige Gesetze. Die neue Hinzuverdienstregelung wird stärkere Arbeitsanreize als bisher in allen Einkommensbereichen setzen, zugleich aber auch eine vereinfachte Lösung für den unteren Einkommensbereich bieten. Darüber hinaus enthält die Neuregelung große Transparenz für die Hilfebedürftigen und eine Kinderkomponente.

   Künftig wird es nur noch zwei Freibetragsstufen geben. Bis zu einem Bruttoeinkommen in Höhe von 800 Euro beträgt der prozentuale Freibetrag 20 Prozent des 100 Euro übersteigenden Einkommens. Das heißt übersetzt, 100 Euro darf man immer behalten. Der darüber hinausgehende Betrag wird zu 20 Prozent nicht angerechnet. Für Bruttoeinkommen über 800 Euro beträgt der zusätzliche prozentuale Freibetrag 10 Prozent. Das heißt zum Beispiel, bei einem 400-Euro-Minijob wird künftig Einkommen in Höhe von bis zu 160 Euro freigestellt. Jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige kann künftig sehr einfach ausrechnen, wie viel er mehr in der Tasche hat, wenn er eine Arbeit aufnimmt, als wenn er nicht arbeitet.

   Der Gesetzentwurf sieht weiterhin vor, dass die Regelungen zum so genannten Einstiegsgeld geändert werden. Einstiegsgeld kann künftig auch dann gewährt werden, wenn die Hilfebedürftigkeit durch oder nach Aufnahme einer Beschäftigung entfällt. Damit wird ein weiterer möglicher Fehlanreiz beseitigt.

   Ich darf ganz ausdrücklich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist durch gemeinsame Gespräche zwischen der Bundesregierung und der CDU/CSU zustande gekommen. Er beendet eine Regelung, die bürokratisch und unlogisch war und die uns im letzten Jahr im Vermittlungsverfahren durch die CDU/CSU aufgezwungen wurde. Die Union hat erklärt, der neuen Regelung im Bundesrat zuzustimmen. Herr Laumann, dafür bedanken wir uns sehr. Sie beseitigen mit der Zustimmung zu diesem Gesetz den Unfug, den Sie im letzten Jahr angerichtet haben. Herzlichen Glückwunsch dazu!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie behaupten etwas anderes; es gibt aber genügend, die dabei waren.

   Die FDP ist bei dieser Regelung entbehrlich; sie war es auch bei der alten. Man muss, wenn man sich den FDP-Antrag anschaut, wissen, dass der Vorschlag, der da gemacht wird, ziemlicher Unsinn ist. Jede Zuverdienstregelung muss nämlich die Balance halten: Sie soll einerseits Anreiz für zusätzliche Beschäftigung – raus aus dem Bezug von Transferleistungen – sein; sie darf andererseits nicht zementieren, dass man die Transferleistungen weiter bezieht und nebenbei ordentlich dazuverdient.

(Dirk Niebel (FDP): Tut er auch nicht!)

   Wer sich die FDP-Regelung anschaut, der wird feststellen, dass sie einen saftigen Zuverdienst von bis zu 600 Euro einräumt. Er wird, wenn er ein bisschen Ahnung hat, weiter feststellen, dass man mit dieser Regelung die Zahl der Bedarfsgemeinschaften deutlich erhöhen würde. Herr Niebel, mein Vorschlag ist also: Machen Sie erst einmal ordentlich Ihre Hausaufgaben, bevor Sie irgendeinen Unsinn erklären!

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Jawohl, Herr Oberlehrer! – Dirk Niebel (FDP): Sie sind so ungefähr der Letzte, von dem ich mir etwas sagen lasse! Vom Gewerkschaftssekretär zum Staatssekretär!)

   Nun sind wir beim zweiten Thema. Dazu ist – das muss ich hier wirklich einmal sagen – auch ganz viel Unsinn erzählt worden. Ich möchte etwas zum Entsendegesetz sagen. Wir glauben, dass auch das Entsendegesetz dazu beitragen wird, Arbeit in Deutschland wieder attraktiver zu machen. Wir haben es erlebt: Dem einen geht der Gesetzentwurf nicht weit genug; auch die Große Anfrage der CDU/CSU zum Sozialdumping zeigt, wie stark die politischen Strömungen, die mehr Protektionismus und sogar Abschottung innerhalb Europas fordern, sind. Dem anderen geht der Entwurf viel zu weit, weil er ein Entsendegesetz mit einem gesetzlichen Mindestlohn verwechselt. Kritikern von beiden Seiten kann ich nur entgegnen: Wir liegen offenbar richtig schön in der goldenen Mitte.

   Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist kein Mindestlohn, der generell den Wettbewerb ausschaltet. Ich sage ausdrücklich: In unserem Haus, im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, gibt es keine Überlegung, einen solchen allgemeinen Mindestlohn einzuführen. Lohnfindung ist und bleibt primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, nicht die des Staates.

   Mit der Gesetzesänderung können in Zukunft die Tarifpartner aller Branchen eine bundesweit geltende tarifvertragliche Lohnuntergrenze vereinbaren. Damit haben sie die Möglichkeit, sicherzustellen, dass ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zur Arbeit nach Deutschland entsenden, verpflichtet werden, ihnen den deutschen Mindestlohn zu zahlen. Bisher ist diese Regelung im Wesentlichen auf den Baubereich beschränkt. Sie soll jetzt auf alle Branchen ausgedehnt werden.

   Herr Laumann, ich bitte Sie, einen Moment zuzuhören. Wir oktroyieren niemandem etwas auf. Sie müssen wissen, dass auch bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine Tarifvertragspartei alleine einen Antrag stellen kann.

(Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Aber Sie beschaffen die Verordnungsermächtigung!)

   Sie haben hier wortreich – mit viel Geklingel – viel erklärt. Sie haben aber nicht erklärt, was Sie machen wollen. Ich habe sogar gelernt, dass auch Papst Leo XIII. gegen einseitige Lohnfestlegungen war. Donnerwetter, Herr Laumann! Sie haben mit keinem Wort gesagt, was Sie gerne machen würden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben hier wunderbar etwas beklagt. Das war übrigens streckenweise überhaupt nicht haltbar. Ich weiß: Bei Ihnen sitzen die BDA und andere nicht nur nebenan, sondern auch im Nacken; Herr Göhner wird ja hier noch sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit diesem Entsendegesetz – damit das völlig klar ist – sind wir auf die Mithilfe der Tarifvertragsparteien angewiesen. Zum Tarifvertrag gehören immer zwei Parteien Herr Laumann, auch dazu herzlichen Glückwunsch! –, die ihn bundesweit abschließen und die dafür sind, dass er einen Mindestlohn festlegt. Schon mit der Verabredung des Tarifvertrages macht man doch deutlich, dass man das eigentlich will. Deswegen sind all Ihre Vorhalte heiße Luft im Wahlkampfgeklingel.

   Ich sage Ihnen: Wir bringen dieses Entsendegesetz – einen schönen Gruß an Herrn Pofalla und andere – jetzt ein. Es reicht nicht mehr, dass Herr Stoiber, Sie und andere vom Arbeitnehmerflügel schöne Sonntagsreden halten und im Bundesrat das Entsendegesetz kaputtmachen. Wir werden Sie jeden Tag und jede Woche vorführen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will etwas zu bestimmten Branchen sagen, weil auch dazu sehr viel Unsinn erzählt wird. Es gibt in Europa und damit auch in Deutschland Dienstleistungsfreiheit. Das bedeutet, dass Selbstständige, die hierher kommen, ihre Dienstleistungen anbieten dürfen. Sie dürfen das im Zweifelsfalle für 1 Euro die Stunde tun; daran kann sie niemand hindern. Genauso kann sich ein deutscher Selbstständiger so billig verkaufen, wie er Lust hat. Aber bestimmte Bedingungen müssen eingehalten werden. Sie können sich darauf verlassen, dass wir diese Bedingungen knochenhart durchsetzen; auch wenn Sie die Vorlage im Bundesrat liegen lassen.

   Zur Selbstständigkeit gehört nach europäischer Rechtsprechung so etwas wie eine Mindestform von Niederlassung. Es reicht nicht, wenn sich 32 polnische Menschen – ich habe nichts gegen diese Menschen – in einer Vorstadtwohnung anmelden und alle als Fliesenleger arbeiten wollen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks und deutsche Behörden dürfen diesen Menschen nicht einfach ungeprüft die notwendigen Bescheinigungen und Zulassungen erteilen. Das kann nicht sein. Dagegen werden wir vorgehen, damit Sie das wissen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es muss sich um echte Selbstständige handeln. Wir werden das prüfen und entsprechend vorgehen.

   Zum Entsendegesetz will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich glaube, dass es seine Wirkung für die Tarifvertragsparteien entfaltet, die das wollen. Das deutsche Gebäudereinigerhandwerk und das Gewerbe wollen diese Regelung nutzen. Davon sind zwischen 700 000 und 800 000 Menschen betroffen.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Das sehen wir auch so!)

Auch die deutsche Landwirtschaft will von dieser Regelung profitieren. Sie alle haben kein Problem damit, dass man dies einseitig beantragen kann. Sie aber, Herr Laumann, machen deswegen viel Wind. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages wird gegen den erklärten Willen der Bauwirtschaft, der Bauindustrie und der Gewerkschaften von der BDA und anderen massiv sabotiert, weil sie diese Regelung aus ordnungspolitischen Gründen nicht wollen. Die Wirtschaft und die Gewerkschaften wollten sie, aber BDA und andere haben sie verhindert.

   Deswegen sage ich Ihnen – das gilt auch aus anderen Gründen; Herr Göhner, Sie können hier anschließend reden und dürfen all Ihre Positionen darstellen; das ist völlig klar –:

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das tut er auch, damit er das richtig stellt, was Sie hier Falsches sagen!)

Wir machen das Entsendegesetz. Damit steht der Bundesrat vor der Nagelprobe. Ich sage noch einmal: Hier geht es nicht um Sonntagsreden vor Wahlkämpfen, sondern hier sind Bekenntnisse gefragt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich könnte Ihnen hierzu noch viel erzählen. Deswegen brauchen wir für die Beantwortung Ihrer Großen Anfrage noch etwas Zeit, Herr Laumann.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Ach so! – Dirk Niebel (FDP): Da hat jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht!)

– Passen Sie auf: Wir müssen eine ganze Reihe Daten erheben. Dafür brauchen wir die Mitwirkung der Länder. Damit Sie eines wissen: Für den kommenden Dienstag haben wir die versammelte deutsche Fleischwirtschaft eingeladen. Ich führe viele Gespräche mit vielen Betroffenen. Wir werden auch dafür sorgen, dass Teile der Landwirtschaft – das haben wir schon verabredet –, landwirtschaftliche Helfer und Facharbeiter, möglicherweise auch Saisonarbeiter in diese Regelung aufgenommen werden. Wir können das nur da machen, wo dies die Tarifvertragsparteien wollen. Da, wo sie das nicht wollen, geht es nicht.

   Ich sage ganz ruhig und gelassen, Herr Laumann: In 13 europäischen Ländern gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Wer keinen gesetzlichen Mindestlohn will, der muss guten Willens sein und mithelfen, dass in Deutschland Lohndumping nicht flächendeckend um sich greift. Das wäre eine Benachteiligung für die betroffenen Arbeitnehmer und ehrliche Arbeitgeber, die sich mit vernünftigen Wettbewerbsbedingungen auseinandersetzen. Eine Regelung nützt also beiden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wer Lohndumping nicht will, der muss uns helfen, mit allen Mitteln und Möglichkeiten gegen illegale Praktiken vorzugehen – das werden wir tun –, und der muss bereit sein, mit den Tarifvertragsparteien Verabredungen zu treffen, die wir mit dem Entsendegesetz für alle verbindlich regeln können. Diese würden dann auch für Arbeitgeber aus Europa gelten, die mit ihrem Personal hierher kommen. Das ist auch in anderen europäischen Ländern so. Also, Herr Laumann: weniger Nebelkerzenwerfen, weniger Wahlkampfreden, sondern bei der Umsetzung handfest mithelfen, damit wir diese Missstände abstellen.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Dobrindt, CDU/CSU-Fraktion.

Alexander Dobrindt (CDU/CSU):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der EU-Osterweiterung entsteht, ohne dass dies heute von allen Menschen bewusst wahrgenommen worden ist, eines der regional größten Wohlstandsgefälle.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Leider wahr!)

Dies findet sich mitten in der Europäischen Union. An keiner anderen Ländergrenze innerhalb Europas macht sich dieses Wohlstandsgefälle so deutlich bemerkbar. Dass daraus ganz besondere Probleme entstehen, ist, so glaube ich, leicht nachvollziehbar. Dass sich diese Probleme auch in einer besonderen Weise in der Arbeitswelt widerspiegeln – nicht nur da, aber zu einem großen Teil –, ist zum einen vorhersehbar, zum anderen deutlich bei den beschriebenen Problembereichen, zum Beispiel beim Fleischergewerbe und bei den Fliesenlegern, erkennbar geworden. Es werden – da bin ich mir sicher – weitere Branchen folgen.

   Wir diskutieren hier im Deutschen Bundestag in aller Regel sehr ausgiebig über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Zu Recht macht man sich Gedanken darüber, wie in einer globalisierten Welt die internationale Konkurrenzfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Das Problem aber, das wir heute diskutieren, besteht in der Konkurrenzfähigkeit unserer Arbeitnehmer und der kleinen Handwerker gegenüber den Wettbewerbern aus dem osteuropäischen Raum.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr richtig!)

   Die Unternehmer leben heute – einfach dargestellt – zum Teil von einer Mischkalkulation von günstigen Produktionsstätten und von teureren Produktionsstätten. Der Arbeitnehmer hat diese Möglichkeit nicht. Die Mobilität ist ihm nicht gegeben. Den Konkurrenzkampf über die Preisschraube vor Ort kann er natürlich auch nicht gewinnen. Dass beide Mechanismen in einem Zusammenhang stehen, ist klar. Unsere Aufgabe ist es, die Waage zu halten. Wir müssen die Abwanderung der Unternehmen nach Osten genauso zu verhindern versuchen wie den Einsatz der Billiglohnkräfte, die die einheimischen Arbeitskräfte verdrängen.

   Die Antwort, die die Bundesregierung auf diese korrespondierende doppelte Problemstellung hat, ist die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. Das Entsendegesetz löst dieses Problem mit Sicherheit nicht, das ganz offensichtlich auf Missbrauch beruht bzw. aus der Umgehung der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mithilfe der Dienstleistungsfreiheit resultiert. Damit wird nicht nur Lohndumping betrieben, sondern es werden auch Arbeitszeitregelungen und Standards der Arbeitsbedingungen unterlaufen.

   Das Entsendegesetz greift in vielen Fällen nicht. Es greift nicht bei Briefkastenfirmen und Scheinselbstständigen, wie Sie bei den Fliesenlegern bereits erkannt haben; sie haben ihre freie Preisgestaltung. Das Entsendegesetz greift nicht, weil Sie durch Mindestlöhne Abwanderungsprozesse der Unternehmen in den Osten beschleunigen. Das Entsendegesetz greift nicht, weil Sie durch Mindestlöhne die Schwarzarbeit stärken, und das Entsendegesetz mit den Mindestlöhnen greift schon gar nicht, weil Sie damit Ihre eigenen Initiativen, nämlich mit den Hartzgesetzen die Beschäftigungschancen im Niedriglohnbereich zu verbessern, zunichte machen, weil Sie den Niedriglohnsektor entscheidend schwächen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Erfahrungen aus der Bauwirtschaft, die hier schon mehrmals angesprochen worden sind, zeigen die Auswirkungen des Entsendegesetzes nur zu einem geringen Teil, und zwar deshalb, weil wir es in der Bauwirtschaft mit immobilen Gütern zu tun haben. Wenn Sie hier ein Haus bauen wollen, dann müssen Sie die Arbeitskräfte auch hier zur Verfügung stellen und tätig werden lassen, einmal abgesehen vom Fertighaus, das Sie sich schon heute in Teilen günstig in Polen besorgen können. Trotz dieser Besonderheit in der Baubranche, mit immobilen Gütern zu arbeiten, ist seit der Einführung des Entsendegesetzes die Zahl der ausländischen Entsendearbeiter über die Jahre gleich geblieben. Die Schattenwirtschaft hingegen hat in diesem Bereich deutlich zugenommen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Leider wahr!)

   Zusätzlich wird das Entsendegesetz in hohem Maße unterlaufen, weil die Zahl der geleisteten Stunden höher ist als die, die offiziell vereinbart werden, und letztlich die wirklich gezahlte Entgeltsumme nicht ausreichend kontrolliert werden kann. Weil diese Probleme des Entsendegesetzes allen bekannt sind, wäre es die erste Aufgabe der Bundesregierung gewesen, einen Bericht vorzulegen, in dem steht, wo heute Lohndumping stattfindet, um welche Branchen es sich bislang handelt, welche regionalen Besonderheiten dabei auftreten, wo Verdrängungseffekte entstehen und wo EU-Recht missbraucht und umgangen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Nichts davon haben sie gebracht! – Dirk Niebel (FDP): Und der erzählt was von Hausaufgaben! Setzen, sechs!)

Noch viel wichtiger ist, wo denn zukünftig mit Lohndumping zu rechnen ist. Es wäre nämlich sinnvoller, wenn sich die Bundesregierung im Vorfeld mit den Problemen auseinander setzen und tragfähige Konzepte entwickeln würde, anstatt zu diskutieren zu beginnen, wenn Tausende von neuen Arbeitslosen auf der Straße stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Erst wenn ein solcher fundierter Lohndumpingbericht vorliegt, können wir darüber reden, ob es neben dem Baugewerbe sensible Branchen gibt, für die eine Ausweitung des Entsendegesetzes sinnvoll sein kann.

   Wir verlangen von der Bundesregierung, dass sie sich der Wurzel des Problems stellt. Meine Damen und Herren, Sie brauchen uns nicht immer mit irgendwelchen Abschottungstheorien zu kommen: Hauptursache für all die entstehenden Verdrängungswettbewerbe am deutschen Arbeitsmarkt sind die fehlerhaften Verhandlungen der Bundesregierung bei der EU-Osterweiterung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

   Sie haben die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt, aber auf die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit verzichtet. Darin liegt das ursächliche Problem. Sie haben keine Übergangsfristen bei der Dienstleistungsfreiheit verhandelt. Dass dies möglich gewesen wäre, haben uns andere Länder – beispielsweise Österreich – bewiesen. Obwohl Ihnen dies bekannt ist, haben Sie den gleichen Fehler in der Beitrittsakte für Rumänien und Bulgarien wiederholt. Sie haben auch hier die Dienstleistungsfreiheit nicht eingeschränkt. Damit sind Sie für weiteres massives Lohndumping verantwortlich, das auf die Arbeitnehmer in diesem Land zukommen wird.

   Wir fordern Sie deswegen auf: Verhandeln Sie an dieser Stelle nach! Bekämpfen Sie die Ursachen und versuchen Sie nicht, mit Notoperationen die Auswirkungen Ihrer eigenen fehlerhaften Politik zu vertuschen!

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Petra Pau das Wort.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über Hartz IV, konkret über die Freibeträge, die Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosengeld II gewährt werden, wenn sie einen Minijob haben. Die Freibeträge sollen angehoben und die Regeln ihrer Anwendung vereinfacht werden.

   Ich stelle für die PDS fest: Die vorgeschlagene Regelung ist besser als die bisherige, aber sie ist nicht gut.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Denn sie bricht nicht mit der Logik von Hartz IV; sie gestaltet sie nur aus. Sie lindert ein Gesetz, das dennoch – und zwar für Millionen Betroffene – in die falsche Richtung weist.

   Lindern ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Die PDS unterbreitet in diesem Sinne seit Monaten zwei Vorschläge: Gleichen Sie das Arbeitslosengeld II Ost an das Arbeitslosengeld II West an und heben Sie beide auf 414 Euro monatlich an!

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Für die Ost-West-Differenz gibt es keinen sachlichen Grund. Sie entspringt Mauern in politischen Köpfen, die längst verschwunden sein sollten.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Für die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf 414 Euro gibt es gute Gründe. Das belegen Berechnungen von Sozialverbänden über minimale Alltagskosten.

   Lindern kann auch noch andere Formen annehmen. Rot-Rot in Berlin – konkret: Kultursenator Flierl – hat gemeinsam mit den Berliner Kultureinrichtungen ein 3-Euro-Ticket eingeführt, sodass auch Hartz-IV-Betroffene wieder Zugang zum Theater, zum Konzert oder zur Oper haben.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Rot-Rot in Berlin hat auch – anders als in der Uckermark und in weiteren Regionen – eine Wohngeldregelung vereinbart, sodass nicht obendrein unzählige Hartz-IV-Betroffene umziehen müssen.

   Aber Lindern ist nicht Heilen. Deshalb mache ich eine andere Rechnung auf als der Wirtschaftsminister. Sie müssten diese Rechnung eigentlich kennen; denn Harald Wolf, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin, und Helmut Holter, Arbeitsminister in Mecklenburg-Vorpommern, haben sie schon mehrfach in die Debatte eingebracht. Die Frage lautet schlicht: Warum ist es nicht möglich, die Bundes- und Landesmittel, die für den Lebensunterhalt, das Wohnen und die materielle Absicherung von Hartz-IV-Betroffenen sowie für 1- bzw. 2-Euro-Jobs und für die Qualifizierung der Betroffenen eingesetzt werden, zusammenzuführen? Würde man das tun, dann könnte man – öffentlich gefördert – reguläre Arbeitsplätze schaffen, die den Betroffenen ihre Würde wiedergeben und den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen. Das wäre allerdings etwas anderes als Hartz IV.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Alle mir bekannten Berechnungen ergeben: Es ginge, allein es fehlt der Wille, und zwar der von Rot-Grün; der Wille der Opposition zur Rechten fehlt sowieso. Ich wiederhole: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Denn es entsorgt ein gesellschaftliches Problem – die Massenarbeitslosigkeit – bei den Betroffenen.

   Deshalb halte ich an die Adresse der SPD gewandt noch einmal fest: Kapitalismuskritik ist sicherlich gut für einen Vereinsabend. Aber von einer Regierungspartei wird mehr erwartet.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion, das Wort.

Anette Kramme (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Niebel, Sie stolzieren zwar mittlerweile wie King’s Majesty durch diese Räumlichkeiten.

(Dirk Niebel (FDP): Den kenne ich gar nicht! – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Und Sie wie die Prinzessin auf der Erbse!)

Aber Ihre Politik ist dadurch keineswegs aufrichtiger und besser geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Lassen Sie mich ein wenig auf die Geschichte der Europäischen Union eingehen. Folgende zwei Aspekte waren der Grund für die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Friedenssicherung durch wirtschaftliche Verflechtung einerseits und Schaffung von Prosperität durch wirtschaftliche Verflechtung andererseits. Daraus konnte nur eines resultieren, nämlich ein Binnenmarkt, der freien Warenverkehr, freien Kapitalverkehr und die Freiheiten einräumt, die uns momentan so große Probleme bereiten, nämlich die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Allen Staaten, die nach 1957 der EU beigetreten sind, sind diese Rechte gewährt worden. So haben auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, den neuen Beitrittsstaaten in den Europaabkommen in den 90er-Jahren uneingeschränkt Niederlassungsfreiheit gewährt: zum Beispiel Polen ab 1994, Tschechien ab 1995 und den baltischen Staaten ab 1998. Herr Laumann und Herr Niebel, Ihr Erinnerungsvermögen scheint insoweit miserabel zu sein. Mit dem Beitritt im Jahre 2004 sind dann auch Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeräumt worden, allerdings mit erheblichen Beschränkungen.

   Gestatten Sie mir, dass ich an dieser Stelle den herausragenden Verhandlungserfolg des Bundeskanzlers hervorhebe.

(Dirk Niebel (FDP): Oh Gott!)

Am Brüsseler Verhandlungstisch haben wir uns mit Österreich in einer Situation der politischen Isolation befunden. Es hat wenig Verständnis für Übergangsfristen gegeben. Irland und Großbritannien haben immer wieder signalisiert, dass sie ihre Arbeitsmärkte sofort öffnen wollen. Aber es ist zäh verhandelt worden und damit haben wir schließlich Erfolg gehabt. Das war ein großer Erfolg. Ich möchte an dieser Stelle den Bundesgeschäftsführer des Bundesinnungsverbandes des Gebäudereiniger-Handwerkes zitieren:

Nur dank der Zwei-plus-Drei-plus-Zwei-Regelungen, für die wir auch im Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer äußerst dankbar sind, konnte das

– gemeint ist das Sozialdumping –

zum aktuellen Zeitpunkt noch verhindert werden.

   Leider ist zunehmend ein Missbrauch der eingeräumten Freiheiten zu beobachten. Durch die Presse ist das Beispiel der Schlachthöfe gegangen, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Stundenlöhne von 3 bis 5 Euro arbeiten. Es ist zu befürchten, dass es ähnliche Verhältnisse in anderen Branchen geben wird. Es besteht Handlungsbedarf. Aber die Koalition ist bereit, gegen den Missbrauch entschlossen vorzugehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben eine Taskforce eingerichtet. Das Entsendegesetz ist insoweit ein wichtiger Bestandteil. Es gibt drei Argumente für das Entsendegesetz.

   Erstens. Wir wollen den Schutz der Wanderarbeitnehmer. Wir wollen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer in Deutschland zu akzeptablen Stundenlöhnen arbeiten.

   Zweitens. Wir wollen gleiche Wettbewerbsbedingungen, und das unter zwei Gesichtspunkten: Wir wollen, dass inländische Arbeitnehmer im Vergleich zu Kollegen aus der Rest-EU bestehen können und dass inländische Betriebe im Vergleich zur europäischen Konkurrenz nicht nur existieren, sondern erfolgreich bestehen können. Die Baubranche hat uns aufgezeigt: Ein ruinöser Wettbewerb ist nicht durchzustehen. Unzählige Arbeitnehmer haben unnütz ihre Arbeitsplätze verloren. Unzählige seriöse Betriebe sind Pleite gegangen. Dieser Skandal sollte hinreichend Lehrstück dafür sein, dass Schutzregelungen erforderlich sind.

   Drittens. Durch die Änderung des Entsendegesetzes schließen wir gleichzeitig eine Schutzlücke im deutschen Arbeitsrecht. Hintergrund ist Folgendes: Mindestbedingungen für Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten können wir nur dann festlegen, wenn die Regelung auch für inländische Arbeitnehmer gilt. Das Verbot der Ausländerdiskriminierung wandelt sich an dieser Stelle in eine Begünstigung der Inländer um. Wir haben die große Chance, erstmals generell Mindestlöhne festzusetzen. Die SPD hat mit Franz Müntefering an der Spitze bereits im letzten Sommer Vorschläge über Mindestlöhne aufgegriffen.

   Hintergrund ist Hartz IV. Sie haben uns im Vermittlungsausschuss aufgezwungen – wir mussten es mit verabschieden –, dass Arbeitnehmer, die Arbeitslosengeld II beziehen, künftig bereit sein müssen, jede bezahlte Tätigkeit, unabhängig von Arbeits- und Lohnkonditionen, anzunehmen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie waren doch gar nicht dabei!)

Wir wollten das nicht.

   Zur derzeitigen Situation gehört aber auch Folgendes: Die Schutzregelungen im deutschen Recht sind insgesamt unzureichend. § 138 Abs. 2 BGB setzt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Verdienst voraus. Die Vergütungsvereinbarung muss unter Ausnutzung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche zustande gekommen sein.

   Das BAG konkretisiert: Lohnwucher liegt erst dann vor, wenn weniger als zwei Drittel des Tariflohns bzw. des ortsüblichen Lohns gezahlt wird. In der Bundesrepublik gibt es demzufolge einen ausgeprägten Niedriglohnbereich. 7,8 Millionen Vollzeitarbeitnehmer verdienen weniger als 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. 12 Prozent der Vollzeitarbeitnehmer verdienen sogar weniger als 50 Prozent des Durchschnitts.

   Die Erfahrungen mit dem Entsendegesetz sind positiv. Das sagen sowohl die IG Bau als auch der Arbeitgeberverband. Ich zitiere Michael Knipper:

Ohne dieses Gesetz wären weitere 250 000 Jobs weggefallen.

18 von 25 Staaten in der EU haben Mindestlohngesetze. Von der OECD stammt die Aussage: Zwischen der Existenz von Mindestlöhnen und der Beschäftigungshöhe in traditionellen Niedriglohnbranchen besteht kein nachvollziehbarer Zusammenhang. Die HansBöcklerStiftung berichtet: Neuere Untersuchungen aus den USA und mehreren europäischen Ländern bestätigen die OECD.

   Wir zählen auf Angela Merkel. Am 11. April 2005 hat sie im „Handelsblatt“ Folgendes gesagt:

Wenn jetzt andere Branchen, wie aktuell die fleischverarbeitende Industrie, mit ähnlichen Problemen wie die Baubranche konfrontiert werden, muss die Politik die vorhandenen Möglichkeiten prüfen, die Probleme zu lösen.

Wir setzen ausnahmsweise auf Jürgen Rüttgers. Er hat gesagt, das Entsendegesetz sei ein „geeignetes Mittel, Auswüchse zu verhindern“.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner (SPD))

   Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, ich fordere Sie auf: Tun Sie etwas gegen Lohndumping! Tun Sie etwas gegen Schwarzarbeit! Unterstützen Sie uns im Bundestag im Bundesrat!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Göhner, CDU/CSUFraktion.

Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf ist gut gemeint. Lohn- und Sozialdumping zu verhindern ist eine vernünftige Zielsetzung. Aber was wird dieser Gesetzentwurf tatsächlich bewirken? Die Wahrheit ist: Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort auf diese Frage; er gibt nicht einmal eine Antwort auf die Frage, Herr Andres, für wen er gelten soll.

   Sie sind der Auffassung, dass das die Tarifvertragsparteien entscheiden sollen.

(Klaus Brandner (SPD): Da gehört das zuallererst hin!)

Dieser Gesetzentwurf regelt das aber nicht so. Nach diesem Gesetzentwurf soll der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit eine Ermächtigung erhalten, per Rechtsverordnung für alle Branchen Tariflöhne zu gesetzlichen Mindestlöhnen zu erklären. Das ist ein Blankoscheck. Bisher hat uns keiner gesagt, für welche Branche das tatsächlich gelten soll. Das heißt, die Frage, wen dieses Gesetz betrifft, bleibt völlig unbeantwortet.

   Jenseits aller sozialpolitischen und ökonomischen Fragen will ich zunächst einmal sagen: Wir Abgeordneten, der Gesetzgeber, sollten dann, wenn wir eine solche Ermächtigung ausstellen, schon wissen, wer davon betroffen sein kann.

(Alexander Dobrindt (CDU/CSU): So ist es!)

Das Grundgesetz verlangt für solche Rechtsverordnungsermächtigungen deshalb eine hinreichende Bestimmtheit. Unzulässig sind also unbestimmte, unbegrenzte Ermächtigungen.

   Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2000 zum jetzigen Entsendegesetz entschieden, dass die Verordnungsermächtigung, die auf die Bauwirtschaft begrenzt ist, noch den Bestimmtheitserfordernissen von Art. 80 GG genüge, weil – ich zitiere auszugsweise –

klar festgelegt ist, welche Tarifverträge mit welchem regelungsunterworfenen Personenkreis durch Rechtsverordnung auf Außenseiter erstreckt werden können, sodass für den Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes hinreichend klar vorhersehbar gewesen ist, welchen Inhalt eine spätere Rechtsverordnung haben wird.

   Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf ist genau das überhaupt nicht mehr vorhersehbar. Der regelungsunterworfene Personenkreis ist völlig unbestimmt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Nun tragen Sie hier vor, das solle nur für Branchen mit bundesweiten Tarifvertragsstrukturen gelten. Im bestehenden Entsendegesetz wie in Ihrem Gesetzentwurf steht davon kein Wort. Das ergibt sich auch aus keiner anderen Rechtsvorschrift, insbesondere auch nicht aus Europarecht. Wenn das Ihre politische Absicht ist, dann sagen Sie doch bitte wenigstens, in welchen Branchen, in denen es heute bundesweite Tarifvertragsstrukturen gibt, Sie von dieser Verordnungsermächtigung Gebrauch machen wollen, damit wir jedenfalls ungefähr erahnen können, wen Sie eigentlich mit dieser Regelung treffen wollen.

   Zurzeit gibt es bundesweite Tarifvertragsstrukturen bei Banken, bei Versicherungen, in der Druckindustrie, in der Entsorgungswirtschaft und in der Papierverarbeitung. Wollen Sie denn ernsthaft in diesen Branchen per Rechtsverordnung gesetzliche Tariflöhne schaffen? Für Entsendearbeitnehmer würden Sie damit nichts bewirken. Sie würden nur nicht tarifgebundene deutsche Unternehmen in Tarifbindungen zwingen. Wollen Sie das?

(Dirk Niebel (FDP): Das wollen die, ja!)

Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie das und sagen Sie gefälligst, für welche Branchen Sie das anwenden wollen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   In einer Branche gibt es bundesweite Tarifverträge, die Sie bei dem von Ihnen vorgesehenen Weg außer Kraft setzen würden, nämlich in der Zeitarbeitsbranche.

   Ihnen geht es um die Gebäudereiniger. Das ist ein Bereich, über den Sie mit uns reden können, was die Ausdehnung des Entsendegesetzes angeht. Bei den Gebäudereinigern gibt es einen bundesweiten Tarifvertrag, den Sie dann außer Kraft setzen würden. Wollen Sie das? Wollen Sie diese Tarifkonkurrenzen eröffnen? Das hätten Sie klären müssen, bevor Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen.

(Alexander Dobrindt (CDU/CSU): So ist es!)

   Es gibt in Deutschland aus guten Gründen nur zwei Branchen, in denen für allgemeinverbindlich erklärte bundesweite Tarifverträge bestehen, die Bauwirtschaft und die Gebäudereiniger. Tarifautonomie kennt auch negative Koalitionsfreiheit, das heißt die Entscheidung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, nicht tarifgebunden zu sein. Dass in der Gebäudereinigerbranche, in der das für alle deutschen Unternehmen gilt, die Frage aufgeworfen wird: „Warum dann nicht auch für unsere europäischen Wettbewerber?“, ist völlig in Ordnung. Aber prinzipiell muss es nach unserer Überzeugung für eine temporär beschränkte, also befristete, Ausweitung des Entsendegesetzes drei Voraussetzungen geben: Erstens müssen einzelne Branchen konkret benannt werden und darf nicht eine Blankoermächtigung für alle erteilt werden. Zweitens müssen beide Tarifparteien dies wollen; es reicht nicht, wenn, wie nach Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen, nur eine Tarifpartei das will. Drittens müssen Fakten auf dem Tisch liegen, die zeigen, dass in dieser Branche Missbräuche nicht schon mit dem bestehenden Recht abgestellt werden können.

   Letzteres ist ein wichtiger Punkt. In dieser Debatte wird völlig übersehen, dass das Entsendegesetz bereits heute weitgehend für weite Bereiche des Arbeitsrechts, zum Beispiel den ganzen Arbeitsschutz und weite Bereiche des Sozialrechts für alle Branchen gilt. Es gibt nur ein Vollzugsdefizit. Alle bisher bekannt gewordenen Missbrauchsfälle – alle, die die Bundesregierung benannt hat, alle, die in der Öffentlichkeit benannt worden sind – sind bereits nach heutigem Recht, nämlich durch Anwendung des bestehenden Entsendegesetzes, zu unterbinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es gibt Vollzugsdefizite. Das Gesetz über die Arbeitnehmerüberlassung gilt selbstverständlich auch für Unternehmen aus Polen, die hier Werkverträge übernehmen. Ich erwarte selbstverständlich, dass das Recht, das für deutsche Unternehmen gilt, genauso auch auf diese polnischen Unternehmen angewandt wird. Da haben die zuständigen Vollzugsbehörden jahrelang geschlafen. Jetzt sind Missstände bekannt geworden. Aber Sie können sie alle abstellen. Alle Fälle, in denen illegale Arbeitnehmerüberlassung erfolgte, in denen das Arbeitszeitgesetz, das für jeden Entsendearbeitnehmer gilt, missbraucht wurde, in denen es Schwarzarbeit gegeben hat, in denen Scheinselbstständigkeit vorlag, also alle diese Fälle des illegalen Verhaltens, zum Beispiel polnischer Unternehmen in Deutschland, können nach dem heute geltenden Entsendegesetz unterbunden werden. Sie müssen es nur vollziehen.

   Bevor Sie neue gesetzliche Regelungen schaffen, sollten Sie sich fragen: Wie können wir mit dem geltenden Recht die Missbrauchsfälle abstellen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Da Sie bislang – ich wiederhole das – nicht einen Fall dargelegt haben, in dem man den Missbrauch mit dem geltenden Recht nicht abstellen kann, frage ich einmal: Was soll der neue Gesetzentwurf, bei dem Sie uns nicht einmal sagen, für wen die Regelungen gelten sollen?

(Dirk Niebel (FDP): Wahlkampfklamauk!)

Sie können mit uns über die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf Gebäudereiniger reden. Sie können mit uns über die Frage reden, wie die Allgemeinverbindlichkeit ausgedehnt werden kann. Es gibt aus guten Gründen zwei Branchen und nicht mehr. Ich glaube nicht daran, dass in diesem Bereich weiterer Regelungsbedarf besteht. Wenn er aber von Ihnen begründet wird, indem Sie sagen, dass ansonsten Missbräuche nicht abgestellt werden können, dann können wir darüber reden. Aber Sie werden uns nicht überzeugen können, Ihnen einen Blankoscheck, den Sie hier verlangen, auszustellen. Einen solchen Persilschein erhalten Sie von uns nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5446 (neu) zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Die Vorlagen auf Drucksachen 15/5271 und 15/5445 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 176. Sitzung – wird am
Dienstag, den 17. Mai 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15176
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