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Wer soll über die Verfassung der Europäischen Union entscheiden – die nationalen Parlamente oder die Bürger der Union? In acht Ländern ist eine Volksabstimmung sicher. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen für ein Referendum. Doch wie viel direkte Demokratie lässt das Grundgesetz zu?
Die Europäische Union ist im Mai um zehn Staaten gewachsen und damit endgültig zur Gemeinschaft geworden, die den Kontinent prägt. Sie greift in das Leben jedes EU-Bürgers immer weiter ein – spätestens der Verfassungsentwurf der Europäischen Union macht deutlich, dass es hier nicht um irgendeine Organisation auf zwischenstaatlicher Ebene zur Regelung irgendwelcher Einzelfragen geht.
Artikel 1 ist unmissverständlich: „Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.“ Es geht also um den Willen der Bürgerinnen und Bürger – und damit versteht sich von selbst, dass die Debatte um Volksabstimmungen auch in Deutschland neu entbrannt ist. Was ist möglich? Und wie handeln die anderen?
„Die Werte, auf die sich die Union
gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer
Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz,
Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung
auszeichnet.“
(Artikel 2 EU-Verfassung)
Der Wille der Bürgerinnen und Bürger – das ist bei der EU-Verfassung schwierig zu fassen. Die Bürgerinnen und Bürger haben nicht um einen Verfassungsentwurf gerungen, der Chancen hat, in allen Mitgliedstaaten angenommen zu werden – das hat der Verfassungskonvent für sie getan, der sich unter anderem aus Vertretern der EU-Kommission, des EU-Parlaments, der nationalen Regierungen und der nationalen Parlamente zusammensetzte. Die Bürgerinnen und Bürger haben es auch nicht in mehreren Anläufen geschafft, in einem Prozess des Gebens und Nehmens die unterschiedlichen Interessen aus den einzelnen Ländern unter einen Hut zu bringen – das haben die Staats- und Regierungschefs für sie getan. Nun soll der Verfassungsentwurf zur Verfassung werden, und zwar mittels Ratifizierung durch alle Mitgliedsländer der EU. Deshalb gilt für jedes einzelne Land ein individueller Weg, die Zustimmung oder Ablehnung zu ermitteln.
„Ziel der Union ist es, den
Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu
fördern.“
(Artikel 3, 1 EU-Verfassung)
Auch für die deutsche Verfassung ist ein Referendum, also eine Volksabstimmung, kein Fremdwort. Klar vorgegeben wird in Artikel 29 des Grundgesetzes, wie die Frage formuliert werden muss, über die die Bürger dann abzustimmen haben, wer teilnehmen darf, welche Mehrheiten erforderlich sind und welche Folgen die Abstimmung hat – freilich alles allein bezogen auf eine Neugliederung des Bundesgebietes, wenn sich also mehrere Bundesländer zusammenschließen wollen oder einzelne Gebiete anders zugeteilt oder aufgenommen werden sollen.
Obwohl sich die Europäische Union mit der Verfassung im übertragenen Sinne eine neue Grundlage gibt, und obwohl die EU auch in die Hoheitsrechte der Mitglieder eingreift, handelt es sich erkennbar nicht um eine Neugliederung der Bundesländer, wie sie in Artikel 29 des Grundgesetzes beschrieben wird.
„Die Union bietet ihren
Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt
mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb.“
(Artikel 3, 2 EU-Verfassung)
Klar geregelt ist im Grundgesetz, wie mit internationalen und europäischen Angelegenheiten zu verfahren ist. Nach Artikel 59 schließt der Bundespräsident im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Wird Bundesrecht dabei berührt, müssen Bundestag und Bundesrat wie bei anderen Gesetzen auch daran mitwirken. Geht es darüber hinaus auf dem Weg zu einem vereinten Europa um völkerrechtliche Verträge, durch die Hoheitsrechte übertragen werden, müssen Bundestag und Bundesrat nach Artikel 23 in Verbindung mit Artikel 79 mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. Damit ist sichergestellt, dass der Wille der Deutschen in herausragenden Entscheidungen auch zum Ausdruck kommt. Denn um zu einer Zweidrittelmehrheit zu kommen, müssen in der Regel Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit an einem Strang ziehen. Erst recht gilt dies, wenn auch die Zweidrittelmehrheit der Ländervertreter im Bundesrat zustimmen muss.
„Das Europäische Parlament
wird gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig und
übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus; es
erfüllt ferner Aufgaben der politischen Kontrolle und
Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verfassung. Es wählt
den Präsidenten der Europäischen Kommission.“
(Artikel 19, 1 EU-Verfassung)
Artikel 20 des Grundgesetzes begründet in diesem Sinne die repräsentative Demokratie. Aber er lässt grundsätzlich zu, dass die allein vom Volk ausgehende Staatsgewalt nicht nur in Wahlen ausgeübt wird, sondern dass auch Abstimmungen möglich sind. Da Volksabstimmungen jedoch auf Bundesebene ausdrücklich nur für den Fall von Länderneugliederungen vorgesehen sind, wäre zunächst zu prüfen, ob vor einem Referendum über die EU-Verfassung in Deutschland das Grundgesetz geändert werden sollte. Auch müssten die Fragen geklärt werden, ob eine Volksabstimmung an die Stelle der hohen Hürden in Bundestag und Bundesrat treten soll, ob die Verfassungsorgane an das Ergebnis des Referendums gebunden sein sollen, ab welchem Grad der Beteiligung eine Volksabstimmung gewertet werden darf und wie deutlich die Zustimmung oder Ablehnung ausfallen muss. Selbst wenn dies alles geregelt wäre, bliebe offen, welche Konsequenzen aus einem eventuellen Nein eines Referendums zu ziehen sind. Im konkreten Fall: Würde ein Nein Deutschlands zu einer ansonsten angenommenen EU-Verfassung „nur“ die EU blockieren oder zum Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union führen?
„Beschließt der
Europäische Rat beziehungsweise der Ministerrat mit
qualifizierter Mehrheit, so muss diese der Mehrheit der
Mitgliedstaaten entsprechen und mindestens drei Fünftel der
Bevölkerung der Union repräsentieren.“
(Artikel 24, 1 EU-Verfassung)
Zwei Jahre sind für die Zustimmung der EU-Verfassung durch alle Mitgliedstaaten und durch das EU-Parlament vorgesehen. Acht Staaten wissen jetzt schon, dass sie eine Volksabstimmung abhalten werden: Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien. In zehn Staaten wird es nach dem aktuellen Stand wahrscheinlich keine Referenden geben: in Finnland, Griechenland, Lettland, Litauen, Malta, Österreich, Schweden, Ungarn, Zypern und Deutschland, wo der Bundestag in diesem Herbst noch einmal anhand der Verfassungslage den Ratifizierungsprozess diskutieren und bekräftigen wird. Belgien, Estland und Polen werden wahrscheinlich über die EU-Verfassung abstimmen lassen; entsprechende Ankündigungen liegen vor. Noch offen ist das Verfahren in Italien, der Slowakei, Slowenien und Tschechien.
„Der Europäische Rat gibt der
Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt
ihre allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten
fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig.“
(Artikel 20, 1 EU-Verfassung)
Die völlig unterschiedliche Rechtslage innerhalb der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten erstreckt sich im Detail auch auf die Länder, die per Referendum über die Verfassung abstimmen lassen. Referenden gibt es nämlich in mindestens vier grundsätzlichen Varianten. Auf der einen Seite sind fakultative von obligatorischen Referenden zu unterscheiden. Die einen beziehen sich auf ein vom jeweiligen Parlament bereits beschlossenes Gesetz und können zusätzlich durch eine besondere Initiative hinzutreten, die obligatorischen Referenden dagegen sind zwingend vorgeschrieben und stellen automatisch einen Teil des Ratifizierungsprozesses dar. Auf der anderen Seite werden bindende von nicht bindenden Referenden unterschieden. In dem einen Fall hat die Regierung keinen Interpretationsspielraum und muss gegenüber der EU so agieren, wie die Mehrheit der Abstimmenden entschieden hat, im zweiten Fall spricht man von einer konsultativen Entscheidung mit einem also eher beratenden Charakter, an die sich die Regierung nicht halten muss.
„Das Europäische Parlament
wird von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern
für eine Amtszeit von fünf Jahren in allgemeinen, freien
und geheimen Wahlen direkt gewählt. Die Anzahl seiner
Mitglieder darf 736 nicht überschreiten. Die europäischen
Bürgerinnen und Bürger sind im Europäischen
Parlament degressiv proportional, mindestens jedoch mit vier
Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten ...“
( Artikel 19, 2 EU-Verfassung)
Die staatsrechtliche und staatspolitische Diskussion orientiert sich überall an den Möglichkeiten der Verfassung. So ist in Griechenland rechtlich ein bindendes Referendum vorgesehen, wenn der Präsident dies nach Beschluss der absoluten Mehrheit des Parlaments anberaumt. Ein solcher Beschluss ist jedoch nicht zu erwarten. Dagegen liefert die belgische Verfassung keine Rechtsgrundlage für ein Referendum; dennoch will die Regierung das Volk in einem nicht bindenden Votum über die EU-Verfassung abstimmen lassen. Ähnlich liegt die Sache in Großbritannien. In anderen Staaten kommt es auf die juristische Einstufung der EU-Verfassung an: Wird sie als internationaler Vertrag angesehen, scheidet etwa in Estland ein bindendes Referendum aus. Wird ihr jedoch die Eigenschaft eines Eingriffes in die estnische Verfassung bescheinigt, ist ein Referendum zwingend nötig. Ähnliches gilt unter anderem für Lettland und Litauen.
Text: Gregor Mayntz
Fotos: Deutscher Bundestag, ddp, picture-alliance
Grafik: Karl-Heinz Döring