> Debatte > Essay 03/05
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Ein Essay von Peter-André Alt
Seinem Freund Christian Körner gegenüber bemerkt Friedrich Schiller am 21. Januar 1802 aus Anlass der bevorstehenden Weimarer Einstudierung von Goethes „Iphigenie“, die Deutschen hätten die fatale Neigung, ihre besten Geisteswerke „für heilig und ewig“ zu erklären, statt zu begreifen, dass ihre Bedeutung sich im geschichtlichen Prozess permanent ändere. Dieses Urteil ist von einiger Pikanterie, wenn man bedenkt, dass Schillers eigenes OEuvre sehr rasch nach seinem Tod zu einem Denkmal von überzeitlicher Dauer verklärt, auf diese Weise aber entschärft und um seine Brisanz gebracht wurde. Die enthusiastischen Würdigungen der Jungdeutschen, einer politischen Gruppierung im Vorfeld der 1848er-Bewegung, fielen dabei ähnlich verfremdend aus wie die Jubelreden des in großem Stil begangenen Gedenkjahres 1859, an dessen Veranstaltungen sich 440 Städte und Gemeinden beteiligten. Schillers Werk wurde auf Sentenzen beschränkt, die zu jeder Lage Passendes zu bieten schienen – in Zeiten bürgerlicher Revolution wie bürgerlicher Resignation konnte man den Klassiker zitieren. Sein berühmt-berüchtigtes „Lied von der Glocke“ stimmte die Zeitgenossen auf zivile Bescheidenheit ein; die „Räuber“, der „Don Karlos“ und der „Wilhelm Tell“ lieferten dagegen die bewegenden Stichworte für Zeiten der politischen Gärung und Unruhe. Noch als 1955 Schillers 150. Todestag gefeiert wurde, beschwor Thomas Mann, der die Festrede in Weimar und Stuttgart hielt, die geistige Präsenz des Klassikers als Mittel, „das zerrissene deutsche Volk“ zu „geschlossener Einheit“ zu führen.
Solche direkten Nutzanwendungen der Schiller-Lektüre sind uns heute aus guten Gründen fremd geworden. Dennoch ist es möglich, in Schiller einen Zeitgenossen der Moderne zu erkennen, dessen Denken uns Perspektiven für ein politisch und sozial geeintes Europa offerieren kann. Das setzt zunächst voraus, dass man ihn nicht vereinfachend aktualisiert, sondern die Brisanz seiner Ideen aus seinem historischen Standort erschließt. Wer ihn knapp zu charakterisieren hätte, könnte ihn, mit einem Wort Hegels, einen ‚unbefriedigten Aufklärer’ nennen. Zeitlebens blieb Schiller der europäischen Aufklärung in einem Verhältnis kritischer Loyalität verbunden, das für ihn die kritische Fortführung und Erweiterung ihrer intellektuellen Ziele einschloss: die Ergänzung einer nur rationalen Ausbildung des Individuums durch die ästhetische Erfahrung, wie sie die Kunst vermittelt; die Überwindung eines einfachen Fortschrittsdenkens durch das Bewusstsein, dass erst die Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Vergangenheit unsere kulturelle Identität schärft und profiliert; die Reflexion unserer sozialen Situation im Kontakt mit der sie bedingenden Geschichte, deren Kenntnis die Magazine der Ideen öffnet, aus denen sich die Veränderung des Status quo speist. Die menschliche Zivilisation ist für Schiller eine maßgebliche Errungenschaft der Neuzeit, aber sie bedarf eines kulturellen Bildungsprogramms, soll sie nicht in Zweckrationalismus und kalte Machttechnologie münden.
Wer Schillers Geschichtsdramen, seine historischen Studien und kunstphilosophischen Essays genau liest, begegnet einem brillanten Beobachter, der die politischen und sozialen Verhältnisse so hellsichtig wie kein anderer Schriftsteller im Deutschland des Ancien Régime analysiert. Noch ehe in Frankreich die Revolution unter den Messern der Guillotine verblutet, zeigt Schiller im „Don Karlos“ (1787), wie die Welt der Ideale korrumpiert wird, wenn sie in den Bannkreis der Macht gerät. In den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) analysiert er – ein halbes Jahrhundert vor Karl Marx – mit denkwürdiger Prägnanz die psychischen Schäden von Arbeitsteilung und Entfremdung, die den Einzelnen zum bloßen Räderwerk im öffentlichen Getriebe machen. Im „Wallenstein“ (1800) setzt er die Kollision zwischen Individuum und Politik als Schicksal der Moderne in Szene, als habe er die Verheerungen erahnt, die das 20. Jahrhundert auf diesem Feld schaffen würde. Solche Entdeckungen sind nicht das Resultat eilfertiger Aktualisierung, sondern verweisen auf den prognostischen Charakter eines komplexen Geschichtsbildes, das gegen die Vereinfachungsgarantie geltender Ideologien immun bleibt. Wer dem Zeitanalytiker Schiller begegnet, lernt einen scharfsinnigen Denker kennen, dessen Diagnosen jede Lesergeneration auf neue Weise zur Auseinandersetzung herausfordern.
Fotos: ullstein bild / Sabine
Kreis-Alt
Erschienen am 18. April 2005
PETER-ANDRÉ ALT, Jahrgang 1960, ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Würzburg und Autor einer bei C.H. Beck (München) publizierten zweibändigen Schiller-Biographie, für die ihm in diesem Jahr der Marbacher Schillerpreis verliehen wird.