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Kein Bundestag sieht am Ende haargenau so aus, wie er angefangen hat. Abgeordnete scheiden aus, weil sie eine andere wichtige Aufgabe übernehmen, das Parlament muss den Tod einzelner Mitglieder betrauern, dafür rücken Bewerber von den Reservelisten nach. Oder das Parlament wird kleiner, weil Überhangmandate nicht nachbesetzt werden. Manchmal trennt sich eine Fraktion auch von Abgeordneten, weil die politischen Vorstellungen nicht mehr zueinander passen. Oder Abgeordnete wechseln von der einen in die andere Fraktion. Zur „Halbzeit“ dieser Wahlperiode hat es schon mehr als ein Dutzend solcher Veränderungen gegeben. So ist das Parlament wie das normale Leben: immer in Bewegung.
Mittwochmorgen nach der Sommerpause. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet die Haushaltsdebatte mit einem Gedenken an den verstorbenen Kollegen Günter Rexrodt. Dann begrüßt er drei neue Mitglieder des Hohen Hauses: Hellmut Königshaus in der FDP-Fraktion, Angela Schmid und Artur Auernhammer in der CDU/CSU-Fraktion. Mit herzlichen Worten wünscht der Präsident „gute Zusammenarbeit“ – Beifall im ganzen Bundestag ist die ermunternde Antwort. Drei neue Abgeordnete auf einmal, das zeigt, wie sehr der Bundestag in seiner Zusammensetzung auch nach der Wahl in Bewegung ist.
Königshaus stand in Berlin als nächster auf der Reserveliste und rückte durch den Tod von Rexrodt nach. Schmid kam in Baden-Württemberg an die Reihe, weil die Bundestagsabgeordnete Tanja Gönner auf die weitere Ausübung ihres Mandates verzichtete, da sie Sozialministerin in Stuttgart geworden war. Und Auernhammer ersetzte von der bayerischen Landesliste seinen Vorgänger Albert Deß, der ins Europaparlament eingezogen war.
Die meisten Nachrücker und Nachrückerinnen trifft die Nachricht völlig überraschend. Das Erste, was Volker Wissing (FDP) brauchte, als er an einem Sonntagabend beim Verwandtenbesuch über sein Handy informiert wurde, war ein Stuhl. „Ich musste mich erst einmal setzen.“ Zwei Tage zuvor war er Vater geworden, die Tochter hatte sein Leben schon völlig umgekrempelt. Und nun hatte die geschätzte Parteifreundin Marita Sehn einen tödlichen Autounfall erlitten. „Irgendwas stimmt hier nicht“, sagte seine Frau am nächsten Morgen, als er nicht bei seiner Arbeit, sondern bei ihr am Wochenbett erschien. Tatsächlich verändern sich Familien- und Berufsleben schlagartig, wenn aus Bürgern Abgeordnete werden. Bei Wissing krempelten Vaterschaft und Mandat binnen einer Woche alles um.
Dass der Einzug in den Bundestag mit dem Tod eines geschätzten Menschen verbunden war, machte die Situation für Wissing „sehr schwierig“. Mit der Bekanntgabe der Mandatsannahme wartete er bis zwei Tage nach der Beerdigung, und auch an den Sitzungen in Berlin nahm er nach Rücksprache mit dem Präsidenten erst am Ende der ersten Woche teil: „Die Kollegen brauchten eine Zeit, in der sie um Marita Sehn trauern konnten.“ Deshalb wählte Wissing den pietätvollen Einstieg.
Auch Michael Kauch (FDP) tat sich schwer, als ihm nach dem plötzlichen Tod von Jürgen Möllemann das Mandat zufiel. „Man ist emotional hin- und hergerissen, wenn man den Verstorbenen gut gekannt, jahrelang mit ihm im Vorstand zusammengearbeitet hat.“ Für Kauchs Start im Parlament kam erschwerend hinzu, dass Möllemann aus der Fraktion ausgeschlossen worden war und somit für die FDP im Bundestag keine Arbeit in den Ausschüssen wahrgenommen hatte. Für Kauch gab es also kein Aufgabengebiet, das er „erben“ konnte. So kümmert er sich nun um eine Art politisches „Patchwork“: Umwelt, medizinische Ethik, stellvertretend auch um Gesundheit. Nach über einem Jahr im Parlament empfindet er aber keinen Unterschied mehr zu den Kollegen, die von Anfang an dabei waren. Die Einarbeitung wurde schließlich erleichtert durch den Umstand, dass er durch seine langjährige Arbeit im Bundesvorstand viele der handelnden Personen schon kannte.
Elvira Drobinski-Weiß empfand die Doppelnachricht vom Tod des SPD-Abgeordneten Matthias Weisheit und von ihrem damit verbundenen Einzug in den Bundestag als „bedrückend“. Sie fühlte sich „regelrecht geschockt“. Wohl jeder, der auf diese Weise Volksvertreter werde, mache sich wohl diese Gedanken: „Da stirbt ein geschätzter Kollege, und du profitierst davon. Das macht einem schon zu schaffen, das wünscht sich doch niemand.“ Als Rektorin steckte Drobinski-Weiß gerade in der Prüfungsphase. Ihr blieben dann glücklicherweise noch die Pfingstferien, um mit dem Kollegium zu sprechen, sich beurlauben zu lassen und gedanklich in Berlin anzukommen.
Ihr fiel der Sektor Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu – und von der zugehörigen Arbeitsgemeinschaft der SPD-Fraktion fühlte sie sich „sehr freundlich aufgenommen“. Devise: „Brauchst du Hilfe – kein Problem.“ In einer Art „Patenschaft“ zeigte ihr die erfahrene Abgeordnete Nicolette Kressl zudem, wie was wo warum funktioniert. Als Nachrücker etwas später anzukommen als die neu gewählten Abgeordneten kann nach Einschätzung von Drobinski-Weiß vielleicht sogar ein Vorteil sein: Es gebe dann halt nicht so viele Neulinge, die den alten Hasen durch ständiges Fragen möglicherweise „auf den Geist gehen“.
Aber nicht immer gibt es Nachrücker. Als die Hamburger SPD- Abgeordnete Anke Hartnagel starb und als sich der Thüringer SPD-Spitzenkandidat Christoph Matschie entschloss, als Fraktionschef nach Erfurt zu gehen und deshalb sein Bundestagsmandat niederzulegen, verkleinerte sich der Bundestag. Denn in beiden Fällen waren aus den Bundesländern mehr SPD-Abgeordnete in den Bundestag eingezogen, als der Partei nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zugestanden hätte. Hintergrund: Die Parlamentarier waren in ihren Wahlkreisen mit der Erststimme direkt gewählt worden, dadurch entstanden in diesen Fällen so genannte „Überhangmandate“. Die Reserveliste „zieht“ dann während der laufenden Wahlperiode erst wieder, wenn dieser „Überhang“ abgebaut ist.
Deshalb spielen bei der Organisation der Nachfolge sowohl Bundes- wie Landesebene eine Rolle. Wenn ein Abgeordneter stirbt oder sein Mandat niederlegt, informiert der Präsident den jeweiligen Landeswahlleiter. Der schaut auf der zur vorherigen Bundestagswahl eingereichten Liste der entsprechenden Partei nach, wer als nächstes an der Reihe ist, und informiert diesen Kandidaten. Der hat dann eine Woche Zeit, sich genau zu überlegen, ob er das Mandat annimmt. In dem Augenblick, in dem er die Annahmeerklärung unterschreibt, ist er Abgeordneter des Bundestages mit allen Rechten und Pflichten. Das Tagungsbüro des Bundestages kümmert sich darum, dass er so bald wie möglich einen Abgeordnetenausweis und Fahrkarten bekommt, informiert andere Stellen im Haus, dass da nun jemand ein Büro samt Ausstattung braucht, und gibt ihm einen vielseitigen „Wegweiser“ an die Hand, mit dem er sich im Parlament zurecht finden kann.
Denn nicht alles wissen die Neulinge direkt von Anfang an. Christel Happach-Kasan (FDP) erinnert sich zum Beispiel an eine Überraschung im Plenarsaal, als ihr die Kollegen mit kleinen Plastikkärtchen in den Händen entgegenkamen. „Was macht ihr denn da?“, fragte die frisch gebackene Abgeordnete. „Namentliche Abstimmung“, lautete die Erklärung. Und nach einigen Hinweisen fand auch sie „ihr“ Fach in der Schrankwand neben dem Eingang. Zehn Jahre Erfahrung als Abgeordnete hatte die FDP-Politikerin bereits im schleswig-holsteinischen Landtag gemacht, als sich der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Kubicki entschloss, nach Kiel zu wechseln und damit den Weg für Happach-Kasan nach Berlin frei machte. Ihr erster Eindruck: „Landespolitik zu Bundespolitik verhält sich wie die Mundharmonika zur Orgel.“ Das bedeutet, dass auch von Nachrückern viele Tasten gespielt werden können und sich anfänglich so empfundene Konkurrenz auf schon von Kollegen bearbeiteten Themenfeldern ohne Reibungsverluste auflösen lässt.
Nach und nach kam das Abgeordnetenmandat auf Lena Strothmann zu. Als Nächste auf der CDU-Liste in Nordrhein-Westfalen, wusste sie sehr bald, dass der Bundestagsabgeordnete Paul Breuer das Amt des Landrates im Kreis Siegen-Wittgenstein anstrebte. Als er gewählt war, erklärte er Ende Juni 2003 den Verzicht auf sein Bundestagsmandat – und das bedeutete für Strothmann einen „komfortablen“ Start. Denn sie hatte die ganze Sommerpause Zeit, sich selbst und ihre neuen Büros in Berlin und im Wahlkreis zu organisieren, Bewerbungen zu sichten, mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer über ihren neuen Wirkungskreis zu sprechen.
Als Unternehmerin und Handwerkskammerpräsidentin richtete sich ihr erster Wunsch auf eine Mitarbeit im Wirtschafts- oder Finanzausschuss. Doch wenn Nachrücker in Berlin anfangen, ist die Arbeit natürlich längst aufgeteilt. Auch für Strothmann blieb zunächst „nur“ der Verkehrsausschuss. „Das war auf den ersten Blick natürlich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Aber schon nach kurzer Zeit wusste die neue Abgeordnete, wie viel mittelständische Politik, wie viele Investitionsentscheidungen auch auf dem Verkehrssektor gefragt waren und wie sehr sie auch hier ihre Erfahrungen einbringen konnte. Zudem hatte sie Erfahrung damit, „schnell in neue Themen reinzuschlüpfen“. Und der Parlamentskreis Mittelstand nahm sie ohnehin mit offenen Armen auf. „Man findet sich sehr schnell zurecht.“ Zudem seien die eigenen Landesgruppen bei der Eingewöhnung sehr hilfreich.
Manchmal muss es auch ganz zügig gehen. „Im Eilgalopp“, erinnert sich die FDP-Abgeordnete Angelika Brunkhorst, rückte sie in den Bundestag nach. Vorgänger Christian Eberl war Staatssekretär im niedersächsischen Umweltministerium geworden und hatte deshalb am 20. März 2003 auf sein Mandat verzichtet. Der Anruf des Landeswahlleiters und der Ruf der FDP-Fraktion, möglichst schon am nächsten Tag an Sitzung und Abstimmung teilzunehmen, fielen fast zusammen. Die Lösung: Landeswahlleiter und Listennachrückerin trafen sich auf halbem Weg in einem Café, und bei einem Cappuccino wurde aus der Kandidatin eine Abgeordnete, die sofort weiter nach Berlin fuhr und sogleich an Bord ging. Schon in der ersten Sitzungswoche hatte sie ihre erste Rede zu halten. „Nichts Weltbewegendes, eine sachliche, brave Rede – zum Angewöhnen also genau das Richtige!“
Wie reagierte die Familie auf die urplötzliche Umstellung? Unproblematisch. Mann und drei Kinder kannten das schon, dass sie nach einem Full-Time-Job abends noch viel unterwegs war: „Politik gehörte zu unserem Alltag auch vorher schon dazu.“ Ihr Mann hat nun einen Teil seines landwirtschaftlichen Betriebes verpachtet, um sich mehr um die Familie kümmern zu können. Thematisch traf Brunkhorst mit dem vom Vorgänger überlassenen Sitz im Umweltausschuss auf eine „schöne runde Sache“. Hochinteressant sei die Umweltpolitik, die als echte Querschnittsaufgabe Schnittstellen zu vielen anderen Themen aufweise – nicht zuletzt zur Landwirtschaft. Als neue Abgeordnete bekomme man zwar keinen Schnellkurs über „so funktioniert Politik in Berlin“. Aber wenn man erfahrene Mitarbeiter von Vorgängern übernehmen könne, wisse man mit deren Hilfe sehr bald, wie die Sache optimal läuft. Auch über intensive kollegiale Unterstützung freute sich Brunkhorst. Schließlich hat sie keine Hemmungen, viel zu fragen. Damit bekunde man eben nicht, zu wenig zu wissen, sondern schnell verstehen zu wollen. Resultat: Schon nach kurzer Zeit wurde die Nachrückerin Sprecherin ihrer Fraktion für erneuerbare Energien.
Das ist auch das Feld von Helmut Lamp. Auch ein Nachrücker. Aber der CDU-Abgeordnete ist zugleich ein alter Hase, saß bereits von 1990 bis 2002 im Bundestag. Nach seinem Ausscheiden vor zwei Jahren hatte er „das Thema Bundestag abgeschlossen“. Er war als Bauer auf seinen Hof zurückgegangen und verfolgte aus der Ferne, wie sich die Abgeordnete Angelika Volquartz in Kiel als Oberbürgermeisterkandidatin zur Wahl stellte. Und das Unerwartete, das „kleine politische Wunder“, geschah: Volquartz gewann – und so war Lamp acht Monate nach seinem Ausscheiden wieder im Bundestag. Seine alten Mitarbeiter im Bundestag waren in anderen Büros untergekommen, die neuen von Vorgängerin Volquartz übernahm er gern („ein sehr guter Griff“), und im Wahlkreis konnte er das alte Team wieder aktivieren.
Den Kontakt zur Fraktion hatte er auch in der Zwischenzeit nicht abreißen lassen. Der Neustart deshalb „kein Problem“. Nur sein Sitz im Umweltausschuss war natürlich besetzt. Doch über Bildung, Forschung und Technologie näherte er sich seiner Begeisterung für Bioenergie erneut und macht nun auf den Forschungsbedarf auf diesem Gebiet aufmerksam.
In ein Wechselbad der Gefühle stürzte Gisela Piltz unmittelbar nach den Bundestagswahlen 2002. Haarscharf nicht geschafft. Aber als Nummer eins unter den Nachrückern der FDP-Landesliste in Nordrhein-Westfalen bekam sie bereits Dutzende Glückwünsche, als Jürgen Möllemann ankündigte, seine Ämter niederzulegen. Erst am nächsten Morgen wurde klar, dass er damit die Parteifunktionen gemeint hatte, sein Bundestagsmandat jedoch beibehalten wollte. Dennoch blieb die Aufstellung der FDP in Nordrhein-Westfalen in einem Schwebezustand – und damit auch das Nervenkostüm von Piltz. Schließlich entschied sich der Abgeordnete Ingo Wolf, den Fraktionsvorsitz in Düsseldorf zu übernehmen. Und damit machte er seine Parteifreundin zur ersten Nachrückerin der Wahlperiode. Dies geschah für das „Mädel aus dem Rheinland“, wie Piltz betont, an einem besonders einprägsamen Datum: Am „Elften im Elften“ 2002. Weil ihr Vorgänger indes sein Büro in Berlin noch nicht in Betrieb genommen hatte, schlug für die Rheinländerin an der Spree organisatorisch sogar die Stunde Null. Alles musste in Windeseile eingerichtet und in Gang gebracht werden. „Eingewöhnungszeit hatte ich nicht, mein erster Tag in Berlin war auch mein erster Sitzungstag.“
Und so bewegt sich das Parlament weiter. Zum Beispiel nach Landtagswahlen. Auch die Saarland-Wahlen haben wieder für absehbare Veränderung gesorgt. Die Spitzenkandidaten von FDP und Bündnis 90/Die Grünen, Christoph Hartmann und Hubert Ulrich, waren beide zugleich auch Bundestagsabgeordnete. Sie kündigten beide an, in den Landtag wechseln und deshalb auf das Mandat in Berlin verzichten zu wollen. Somit könnte der Bundestagspräsident schon sehr bald zwei weitere Nachrücker im Plenarsaal willkommen heißen: höchstwahrscheinlich Karl Addicks und Jutta Krüger-Jacobs.
Auch dieser Wechsel trägt dazu bei, dass sich ein Trend verstärkt: Zwölf Männer und vier Frauen sind seit Beginn der Wahlperiode bis zur Halbzeit ausgeschieden. Für sie rückten sechs Männer und acht Frauen nach, zuletzt Bärbel Kofler für den verstorbenen SPD-Abgeordneten Hans Büttner. Das Parlament wird weiblicher.
Text: Gregor Mayntz
Fotos: Photothek, studio kohlmeier
Erschienen am 18. Oktober 2004