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Sie sind Teil des Ganzen, ein Zusammenschluss von Abgeordneten, die gleiche politische Grundüberzeugungen haben und in der Regel der gleichen Partei angehören. Vier Fraktionen sitzen gegenwärtig im Bundestag. Jede von ihnen hat eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden, eine wählte eine Doppelspitze. Die Funktion ist mit vielen Pflichten und vielen Rechten verbunden. Wer sie inne hat, muss integrieren können und darf das Rampenlicht nicht scheuen. Fraktionsvorsitzende haben es nicht einfach. Aber es ist eine schöne Arbeit.
Früher hat sie bei Herrn Gerhardt im Büro gesessen“, sagt die Mitarbeiterin des Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion mit Blick auf die fröhlich aussehende Göre. „Aber sie hat zu viel Platz weggenommen, deshalb haben wir sie zu uns genommen.“ Das Mädchen mit den niedlichen Zöpfen, lebensgroß und vom Scheitel bis zur Sohle aus Ton geformt, bleibt unbeeindruckt, schließlich sitzt sie strategisch günstig. Direkt vor Wolfgang Gerhardts Bürotür. An ihr kommt er jeden Tag vorbei, und so gehört das Kunstwerk schon fast zum Team.
Das Büro des 61-Jährigen sieht aus, als hätte er es sich selbst erfinden dürfen. Eine breite Fensterfront gibt den Blick auf das Reichstagsgebäude und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus frei. Dazwischen die Spree und über ihr, zwei Bundestagsneubauten verbindend, die Brücke, die den Sprung über das Wasser und die Verbindung zwischen West und Ost verkörpert. „Ich habe“, sagt der Fraktionsvorsitzende und lächelt, „das schönste Büro von ganz Berlin. Hier kann man wirklich auf gute Gedanken kommen.“ Bei dem Weitblick, denkt man, lassen sie sich vielleicht einfacher fassen, die guten Gedanken. Aber das ist eine Metapher, und letztendlich steckt immer Arbeit dahinter.
Wolfgang Gerhardt, gebürtiger Hesse, in Wiesbaden lebend, ist seit 1998 Vorsitzender der FDP-Fraktion, der 47 Abgeordnete angehören. Sein politischer Werdegang zeugt von Kontinuität und davon, dass hier einer in verschiedensten Funktionen und Bereichen Erfahrung und Professionalität erworben hat.
Hier sitzt ein Mann, dem wahrscheinlich niemand ein X für ein U vormachen kann. Einer, der Erziehungswissenschaften, Germanistik und Politik studiert, 1970 zum Dr. phil. promoviert und von da an immer in politischen Funktionen gearbeitet hat.
Wolfgang Gerhardt war Leiter eines Regionalbüros und später der Inlandsabteilung der Friedrich-Naumann-Stiftung, er war persönlicher Referent eines Ministers in Hessen, dann Leiter des Ministerbüros, Vorsitzender des FDP-Landesverbandes Hessen, dann im Bundesvorstand der Partei. Er war stellvertretender und später Bundesvorsitzender der FDP. Er hat im hessischen Landtag gesessen, war dort Minister für Wissenschaft und Kunst, Mitglied des Bundesrates und der 8. und 9. Bundesversammlung. Und er ist seit 1994 Bundestagsabgeordneter.
Wenn man ihn fragt, was eigentlich Ausgangspunkt einer solch stringenten politischen Biografie ist, nennt er als Erstes sein großes Interesse an Geschichte, dem er schon in der Schule gefolgt ist. Die eigene Familie sei zwar eher zurückhaltend gewesen, wenn es um politische Debatten ging. Aus ihrer Ablehnung der Nationalsozialisten sei später eine generelle Ablehnung des Politischen geworden. Er aber habe während des Studiums begonnen, sich einzumischen. Und dabei sei er bis heute geblieben.
Auf der Website des Fraktionsvorsitzenden findet man auf die Frage „Wer oder was hätten Sie sein wollen?“ seine Antwort: „Ein guter Historiker mit schriftstellerischen Begabungen.“ Es hätte also doch anders kommen können?
„Ich wäre auch gern Lektor geworden oder hätte anderweitig im Verlagsbereich gearbeitet. Seit jeher lese ich begeistert Biografien historischer Persönlichkeiten. So etwas schreiben zu können, finde ich bewundernswert. Zum Beispiel die Wallensteinbiografie von Golo Mann – beeindruckend.“
„Fraktionsarbeit verlangt Tempo“, sagt Wolfgang Gerhardt. „Aber man muss auch innehalten können.“
Im Büro von Wolfgang Gerhardt hängt ein Porträt von Friedrich II. an der Wand. Es sieht aus, als schaute der Alte Fritz mit diesem typisch distanzierten Blick aus dem Fenster auf die Spree. Wenn man allerdings den Standpunkt wechselt, scheint er es doch mehr auf den Schreibtisch des Fraktionsvorsitzenden abgesehen zu haben.
Die Bilder an den Wänden und auf dem Sideboard im Büro verraten, dass hier einer persönlich auswählte, was er jeden Tag vor Augen haben möchte: Zwei Fotos vom Reichstagsgebäude, auf einem ist es verhüllt, das andere zeigt jenen historischen Moment im Mai 1945, in dem die rote Fahne von sowjetischen Soldaten auf dem Dach gehisst wurde. Auf dem Sideboard hinter dem Schreibtisch stehen viele gerahmte Fotografien – persönliche Erinnerungen an Ereignisse, an Wegbegleiter, an schöne Momente. In einem Regal liegt eine verpackte Deutschlandfahne. Die war auf dem Reichstagsgebäude an jenem Tag gehisst, an dem Wolfgang Gerhardt 60 Jahre alt wurde. Ein Geschenk von Kollegen, das ihn rührte. Mit all dem gibt der Abgeordnete vielleicht ein wenig von seiner sonstigen Zurückhaltung auf, wenn es um Preisgabe persönlicher Dinge geht.
Er habe einmal in seinem Leben eine richtige Homestory über sich machen lassen, erzählt er. Die sei gut gewesen, aber noch einmal würde er es nicht tun. Öffentlichkeitsarbeit mache er lieber mit Arbeit und ihren Inhalten.
Arbeit als Fraktionsvorsitzender heißt für ihn vor allem, Kommunikation mit allen und die Inhalte so lange bearbeiten und diskutieren, bis die Ergebnisse tragfähig- und zukunftsorientiert sind. Eine kleinere Fraktion, wie die der FDP, gebe gute Möglichkeiten, das persönliche Gespräch zu pflegen. „Ich war schon mit jeder und jedem meiner Fraktion einen Kaffee trinken.“ Diese Gespräche „am Rande“ brächten oft, sagt Wolfgang Gerhardt, die Arbeit voran.
Um die ganzen Dialogfäden nicht abreißen zu lassen, setzt sich der Fraktionsvorsitzende während der Plenarsitzungen bevorzugt mitten in die Fraktion. Da genügen dann ein paar Sätze mit der Kollegin oder dem Kollegen und man weiß, hier gibt es Gesprächsbedarf, wir verabreden uns.
„Natürlich muss man in der Fraktionsarbeit aufs Tempo drücken. Aber man muss vor allem auch innehalten können, wenn man spürt, dass hier weiterer Diskussionsbedarf besteht. Ich nehme das Tempo der Entscheidungsfindung sofort zurück, wenn ich das Gefühl habe, dass wir hier zwar vielleicht schnell zu einer Lösung kommen könnten, aber zehn Leute nicht mitnehmen werden. Ich bin geduldig, wenn im Ergebnis mehr Menschen mitgehen bei dem, was wir tun.“ Es gebe, sagt er, in jeder Fraktion die Abgeordneten, die gut sind und stark in der Außendarstellung, und die, die gut sind und weniger reden. Als Vorsitzender habe man da auch die Aufgabe, Letztere immer wieder zu motivieren, sie zu ermuntern, ihr Wissen in die Debatten einzubringen.
Ungeduldig wird Wolfgang Gerhardt nur dann, wenn er handeln muss, aber noch zu wenige Informationen hat. Das bekommen dann auch seine Mitarbeiter zu spüren. Dann drängt er auf schnelle Zuarbeiten und kann auch schon mal Stress machen. „Den meisten allerdings mir selbst. Das ist vielleicht meine größte Schwäche. Ich ertrage diesen Zustand des Noch-nicht-genug-Wissens nicht.“
Was sich Wolfgang Gerhardt in seiner politischen Arbeit zum Grundsatz gemacht hat, ist mit seinem Leitmotiv beschrieben: „Ich traue den Menschen zu, für sich selbst entscheiden zu können. Ich setze mich ein für eine neue Kultur der Verantwortung des Einzelnen in unserer Gesellschaft.“ In der Fraktionsarbeit heißt das, individuelle Meinungen und daraus folgend individuelle Entscheidungen gelten zu lassen. „Wenn jemand bei einer Abstimmung anders als die Mehrheit der Fraktion stimmen will, dann kommt er oder sie zu mir und erklärt die Gründe dafür. Das will und werde ich immer gelten lassen. Es ist ein Grundkonsens dieser Partei und unserer Arbeit, dass dies immer möglich ist.“
Sechs Jahre an der Fraktionsspitze sind eine lange Zeit, in der sich wahrscheinlich einige Diskussionen wiederholen und so manche Themen immer wieder auf der Tagesordnung stehen. Natürlich komme man manchmal an einen Punkt, sagt Wolfgang Gerhardt, wo man glaubt, es sei alles schon gesagt, nur noch nicht von jedem. Aber das passiere eher selten und wenn es passiere, dann genüge ihm ein kurzer Moment des Innehaltens, ein Blick aus dem Fenster seines Büros. „Dann bin ich motiviert und dankbar, dass ich so arbeiten kann.“ Außerdem betrachtet er die Sache pragmatisch: „Wenn man drei Sitzungswochen hintereinander miteinander arbeitet, streitet, auf engstem Raum zusammenhockt, ist es doch klar, dass da manchmal Diskussionen stattfinden, bei denen man sich fragt, wie es jetzt dazu kommen konnte.“
Fragt man den Abgeordneten nach seinen politischen Traumprojekten, bringt er es rasch auf einen Punkt: „Man bewirbt sich nicht um die Oppositionsrolle. Natürlich will ich die FDP in der Regierungsverantwortung sehen.“
Draußen vor der Bürotür des Fraktionsvorsitzenden sitzt noch immer die kleine Göre. Der sie modelliert hat, muss ein paar fröhliche Gedanken dabei gehegt haben. Sie sieht aus, als wartete sie darauf, mit Wolfgang Gerhardt eine Radtour durch die Landschaft zu machen. Das gefiele dem sicher auch. Er liebt es, durch die Landschaft zu fahren. Text: Kathrin Gerlof
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 18. April 2005