> Parlament > Titelthema 04/05
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So viel Aufmerksamkeit gab es selten. Ganz Deutschland debattiert in diesen Tagen darüber, wie sich der Außenminister vor dem Bundestagsausschuss geschlagen hat, ob die im Brennpunkt stehenden Regelungen zur Einreise besser Volmer-Erlass oder Fischer-Erlass oder einfach Visa-Erlass heißen sollen, ob die Sicherheit Europas gefährdet war, das Botschaftspersonal vorübergehend überlastet wurde oder gar nichts Außergewöhnliches geschehen ist. Derweil nimmt die intensive Aufklärung ihren Weg – ganz sachlich, wie schon der Name sagt: „2. Untersuchungsausschuss“. Ein Blick hinter seine Kulissen.
Wenn der Ausschussvorsitzende Hans-Peter Uhl am Morgen zur Glocke greift und nach lautem Läuten die 20. öffentliche Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses für eröffnet erklärt, dann folgt ein langer, und zwar mal wieder ein sehr langer Sitzungstag. Aber die meiste Arbeit ist schon vorher gelaufen. Intensives Aktenstudium. Minutiöse Vorbereitung der Sitzung. Detaillierte Fragenkataloge. Inzwischen sind 1.409 Aktenordner und zahlreiche Einzelakten im Sekretariat des Ausschusses eingegangen. Das sind gut 700.000 einzelne Seiten. Und es werden täglich mehr. Die (wenigen) geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen kommen in den Panzerschrank, die anderen auf den Fotokopierer: Sechs weitere Exemplare müssen möglichst schnell an die Fraktionen im Ausschuss gehen, je eines an Bündnis 90/Die Grünen und FDP, je zwei an SPD und CDU/CSU. Über 70 Meter Akten – da weiß jeder: Perfekte Organisation ist Trumpf.
Anders als die ständigen Ausschüsse, die zu Beginn jeder Wahlperiode zwar neu gebildet werden, deren Administration aber an bestehende Hilfsorgane anknüpfen kann, muss die Struktur für einen Untersuchungsausschuss mitten in der Legislaturperiode aus dem Nichts neu entstehen. „Von null auf hundert in drei Tagen“, so erinnert sich Ausschusssekretär Stefan H. Kremer an die Anfänge unmittelbar nach dem Einsetzungsbeschluss durch den Bundestag am 17. Dezember vergangenen Jahres. Sein Pech: Die dafür vorgesehenen Reserveräume steckten noch mitten in der Renovierung. Sein Glück: Die Räume des 1. Untersuchungsausschusses, der sich zu Beginn der Wahlperiode mit den Wahlkampfaussagen auseinander gesetzt hatte, waren noch intakt. Telefone rein, Computer rein, Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung zusammenziehen, dazu noch Faxgeräte und Kopierer, und schon konnte es losgehen.
Gleichzeitig überlegten die Fraktionen, welche Abgeordneten hier möglichen Missständen bei der Visa-Vergabe auf den Grund gehen sollten. Weil der Ausschuss wie ein Strafgericht verhandelt, liegt es nahe, dass vor allem Politiker ausgewählt werden, die sich mit der Strafprozessordnung auskennen: Richter, Anwälte, Verteidiger. Deswegen wusste Jerzy Montag, Rechtspolitiker von Bündnis 90/Die Grünen und seit 23 Jahren Strafverteidiger, sehr schnell, dass „dieser Kelch nicht an mir vorbeigehen wird“. Bei diesem Ausschuss war auch von Anfang an klar, dass seine Mitglieder professionell Akten lesen müssen. Montag: „Diese Akten kann man nicht einfach nur lesen, indem man Seite für Seite die Wörter zur Kenntnis nimmt. Diese Akten muss man begreifen, ihren Aufbau, ihre Funktion; dazu braucht man Erfahrung“.
Kein Wunder, dass auch die Obleute der anderen drei Fraktionen einschlägige Experten sind. Der SPD-Politiker Olaf Scholz ist seit 20 Jahren Rechtsanwalt, Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion seit neun, der FDP-Vertreter Hellmut Königshaus wurde vor 25 Jahren Richter. Sie alle drücken es verschieden aus, aber im Kern läuft es auf die Beschreibung von Montag hinaus: „Man braucht als Obmann einen, der in konfrontativen Situationen dazwischen geht, der, wenn man so will, eine Spur intellektuelle Rauflust besitzt“.
Vor der „Rauflust“ stand die Planung. Vom Bundestag hatte der Ausschuss einen genau beschriebenen Auftrag erhalten, der bereits eine Fülle zu klärender Fragen aus dem Feld der Visa-Erteilung enthielt. Weiteres Handwerkszeug war das Untersuchungsausschussgesetz, das die Abläufe und die Rechte, auch die der Minderheit, klar regelt. Doch von Anfang an tobte über dieser Ebene auch eine Medienschlacht. Im Ausschuss war noch kein einziges Blatt eingegangen, da zitierten die Zeitungen bereits aus den Akten. „Es war von Anfang an klar, dass das hohe öffentliche Aufmerksamkeit findet – solche Themen eignen sich immer für Übertreibung und Skandalisierung“, unterstreicht Scholz.
So wie er gingen alle Obleute vor: Als erstes mit der Fraktionsführung über zusätzliche Räume und weiteres Personal verhandeln, dann die Ausschussarbeit ordnen. In nichtöffentlichen Arbeitssitzungen ging es um einen Arbeitsplan, um die Reihenfolge der zu behandelnden Themenkomplexe, um die Abfolge der Zeugenbefragungen. Der Start erfolgte mit einer rechtlichen Einführung. Und hinter den Kulissen ging es los mit einem Tauziehen um die Akten. Ein kleiner isolierter Vorgang mag ja noch genau zu lokalisieren sein. Aber wenn geklärt werden soll, unter welchen Voraussetzungen Erlasse in den verschiedenen Jahren erarbeitet wurden, welche Erfahrungen aus dem diplomatischen Dienst einflossen und welche Meinungen dazu innerhalb der verschiedenen Ministerien geherrscht haben – dann sprengt die Fülle der potenziell in Frage kommenden Dokumente jede handhabbare Form. Die Ausschussmitglieder orientierten sich schließlich an Aktenverzeichnissen, die die Bundesregierung zu den einzelnen Themen vorlegten. Die gingen die Abgeordneten durch und machten hinter jeden Aspekt ein Kreuz, dessen Aktengrundlage für sie wichtig erschien.
Die Akten aus den Gerichtsverfahren zu den Schleuserprozessen wurden im Original übermittelt und mussten vom Ausschusssekretariat erst kopierfähig gemacht werden, denn auch zwischengeheftete und beigeheftete Notizzettel können bedeutsam sein. Die Akten aus den Ministerien kommen zumeist bereits als kopierfähige Kopie in den Räumen des Sekretariats an der Dorotheenstraße an. Der Alltag hier ist der tägliche Kampf gegen das Chaos, wie es jeder von Umzügen kennt. Nur dass an der Tür kein Umzugswagen hält. Sondern Pritschenwagen, von denen uniformierte und bewaffnete Grenzschützer die Akten des Innenministeriums bringen, oder Lkw, mit denen das Außenministerium mal wieder Unterlagen vorbeischickt. Nicht Akte für Akte, sondern Berge von Kisten und Kartons.
Das muss dann alles sorgfältig erfasst werden, damit nichts verloren geht. Jede Seite bekommt eine fortlaufende Nummer, jeder Ordner eine eigene Identifizierung, die einen Bezug zum jeweiligen Detailthema, zu dem dahinterstehenden Beweisbeschluss des Ausschusses und zur konkreten Lieferung herstellt. Dann kommen zu jedem gefüllten Ordner sechs leere, schon beschriftete Ordner – und zur Erleichterung des Ausschusssekretariats helfen die Schnelldruckstelle des Bundestages bei der zügigen Vervielfältigung und der Botendienst bei der schnellen Zustellung an die Fraktionen. Und dann heißt es: lesen, lesen, lesen.
„Das ist nicht spannend“, lautet die Erfahrung nicht nur von Scholz. Aktenlesen gehöre nun mal nicht zu den lustigsten Tätigkeiten, die man sich vorstellen könne. Aber: „Da muss man durch, und das sollte man dann auch machen.“ In sitzungsfreien Wochen holt Scholz sich mitunter abends am Bahnhof noch eine Lieferung für das Studium in den nächsten Tagen ab. Und die wichtigsten Akten aus dem Auswärtigen Amt hat er sich mit in den Urlaub nach Sylt genommen. „Ab und zu entdeckt man ja doch Dinge, die den Sachverhalt aufhellen.“
Jeder entwickelt sein eigenes System, mit der Fülle fertig zu werden. Das Team von Königshaus etwa hat eine Excel-Tabelle entwickelt, in die die Mitarbeiter alle Fragen eintragen – und nach und nach auch die Antworten aus den Akten und den Zeugenbefragungen samt Fundstellen. Bei den beiden großen Fraktionen können sich die einzelnen Ausschussmitglieder die Fachbereiche aufteilen.
Gleichzeitig gibt es jede Woche interne Sitzungen, bei denen der Erkenntnisstand ausgetauscht und das weitere Vorgehen besprochen wird. Von Klaeden: „Das ist immer open end“. Die Unions-Abgeordneten haben sich zudem nun auch schon mehrmals in Klausurtagungen am Wochenende mit der Materie befasst.
Ein Problem besteht nicht nur in der puren Menge des Materials. Es gibt auch keine Garantie auf Vollständigkeit. Wie das Verfassungsgericht bestätigte, hat jede Bundesregierung das Recht, sich nicht in ihre allerinnersten Angelegenheiten, den so genannten „Kernbereich“, blicken lassen zu müssen. Doch wie ist das zu definieren? Gründliches Aktenstudium hilft den Abgeordneten nicht selten über Lücken hinweg. Denn meistens sind mindestens zwei Regierungsstellen an einem Vorgang beteiligt. Und was die eine möglicherweise als unbedingt geheimhaltungsbedürftig bewertet, sieht die andere vielleicht etwas lockerer. Davon zu unterscheiden ist die Klassifizierung von Akten. Was die Regierung als „vertraulich“ gestempelt hat, darf nur in speziell gesicherten Räumen eingesehen und aufbewahrt werden. Vorhaltungen aus diesen und aus Gerichtsakten zu laufenden Verfahren dürfen den Zeugen auch nicht in öffentlichen Sitzungen gemacht werden.
Jede Anforderung von Akten, jede Vorladung von Zeugen muss vom Ausschuss vorher beschlossen werden. Die entsprechenden Anträge gehen an das Sekretariat, bekommen dort eine Nummer und werden, wenn sie rechtzeitig bis Donnerstag, neun Uhr, eingegangen sind, dann bei der nächsten Arbeitssitzung behandelt und in der beantragten oder einer veränderten Form beschlossen. Zudem gehen die Vorlagen an alle Ausschussmitglieder und sämtliche weiteren Beteiligten.
Das Sitzungsklima wird unterschiedlich wahrgenommen. Für die Koalitionsabgeordneten ist „klar, dass wir jeden Antrag akzeptieren, wenn er sich irgendwie mit dem Untersuchungsgegenstand in Verbindung bringen lässt“. So beschreibt es Scholz von der SPD, und er betont weiter: „Das ist ein Minderheitenrecht der Opposition. Da sind wir ganz entspannt, das werden wir nicht beeinträchtigen.“ Sein Kontrahent von Klaeden von der CDU/CSU hat sich inzwischen ein dickes Fell zugelegt: „Den Fahrplan bestimmt die Mehrheit, und da hat es keinen Zweck, sich zu sehr zu ärgern.“ Zügig abschließen will Rot-Grün die Untersuchung – und in jeder Woche eine weitere Sitzung zur Aufklärung terminieren. Bei der Opposition rührt sich dagegen Widerspruch. Königshaus von der FDP sieht eine Überforderung der Abgeordneten, die sich schließlich auch noch um das ganz normale parlamentarische Geschäft kümmern müssten. Und von Klaeden hält es für „einen der ältesten Tricks in der Untersuchungsausschussgeschichte, die Opposition in Akten und Terminen untergehen zu lassen“.
Heiß diskutiert schon im Vorfeld waren die beiden ersten ganztägigen Live-Übertragungen aus dem Untersuchungsausschuss. Die harschen Ablehnungen in der Presse fielen anschließend deutlich gedämpfter aus. Die Spartensender, die für viele Stunden das Fernsehsignal des Parlamentsfernsehens übernahmen, verzeichneten für ihre Verhältnisse traumhafte Marktanteile. Und was denken die Akteure selbst?
Der SPD-Politiker Scholz hat die Premiere vorangetrieben und sagt im Nachhinein: „Es hat sich bewährt“. Alles, was an medienkritischen Diskussionen im Vorfeld zu hören gewesen sei, habe sich nicht bewahrheitet: „Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes konnten sich als Fernsehzuschauer selbst ein Bild machen von dem, was die Zeugen sagten.“ Scholz sieht sogar eine „Ironie in der Geschichte“: Vorher habe man sich vor allem um die Zeugen besorgt geäußert, nun wisse man: „Das ist ihre große Chance, und die haben sie auch genutzt.“ „Leidenschaftslos“ gibt sich von Klaeden von der CDU/CSU bei der TV-Frage. Er sieht es ebenfalls als positiv an, dass sich die Bürgerinnen und Bürger einen unmittelbaren Eindruck hätten verschaffen können, doch vermerkt er es zugleich als negativ, dass nach der Übertragung mehr über die Darstellung als über die Inhalte gesprochen werde.
„Ich war skeptisch“, erklärt Jerzy Montag von der Fraktion Bündnis 90/Grüne. Er wolle eben keine Entwicklung zu „Fernsehgerichtstagungen“ oder zu einer „Amerikanisierung“ der parlamentarischen Arbeit. Die größte Gefahr bestehe darin, dass das Hauptaugenmerk abgleite vom Inhalt zur Wirkung. Allerdings: „Die ersten Übertragungen haben meine negative Grundeinstellung nicht unterstützt. Das war doch ganz okay“.
Für den FDP-Vertreter Königshaus ist es „nie gut, Berichterstattung zu behindern“. Es existierten zwar Gefahren, dass sich durch die Übertragung der Charakter verändere, doch wer dann zu Fensterreden neige, müsse sich mit dem Effekt vertraut machen, dass das Publikum sehr wohl merke, was Inszenierung sei. „Das schlägt dann auf ihn selbst zurück.“ Im Übrigen habe die TV-Übertragung auch für die Berichterstatter von Presse, Rundfunk und Fernsehen einen bemerkenswerten Effekt: Deren Leser, Hörer und Zuschauer hätten die Chance, sich alles selbst anzugucken und mit dem zu vergleichen, was der Journalist transportiere.
Was die Zuschauer auch bemerkten: wie fleißig die Abgeordneten sind. Sitzungen von morgens um zehn bis nachts um zwei. Wie hält ein Politiker das durch? „Weil er es von vielen anderen Sitzungen in Parlament und Partei gewohnt ist“, lautet die einmütige Antwort. Scholz achtet darauf, zum Ausgleich genügend Bewegung zu bekommen. „Ich habe vor den Marathon-Sitzungen meinen Wahlkreis durchjoggt.“ Und von Klaeden achtet auf leichte Ernährung über den Tag hinweg. Und wie geht es weiter? „Die Luft ist raus“, unterstreicht die Koalition. „Wir fangen erst an,“ verkündet die Opposition.
Text: Gregor Mayntz
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 30. Mai 2005