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Deutschland ist ein Land mit hohem Kulturpotenzial. Die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes gehen von mehr als 4.800 Museen mit mehr als 100 Millionen Besuchern im Jahr aus. Weit über 9.000 öffentliche Bibliotheken verfügen über 104 Millionen Bücher und zählen pro Jahr mehr als 200 Millionen Entleihungen. Die öffentlichen Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für Kultur beliefen sich zuletzt auf jährlich knapp 8,3 Milliarden Euro.
Das Land der Dichter und Denker soll ein Kulturproblem haben? Und zwar so gewaltig, dass Spötter voraussagen, als einzige Kultur werde künftig der Kulturbeutel übrig bleiben? Schon die Suche nach Antworten fällt schwer. Es beginnt bereits mit der Frage, welcher Kulturbegriff überhaupt zu Grunde gelegt werden soll. Geht es mehr in Richtung herausragender hochkultureller Leistungen oder mehr in Richtung der Beherrschung einfachster Kulturtechniken? Wird nur die Opernaufführung im grandiosen Rahmen gezählt oder auch das kleine Märchenstück im Kindergarten? Ist es allein die avantgardistische Skulptur des weltberühmten Künstlers oder darf es auch die formschöne Gebrauchskunst des engagierten Hobbyisten sein? Die Einordnung wird flexibel sein, wenn es um das schöpferische Kulturpotenzial einer Gesellschaft geht. Das eigentliche Problem beginnt denn auch erst dahinter: Wie sind die Zugangschancen des Einzelnen zur Kultur?
Und damit ist die Sorge um die Zukunft der Kultur am Punkt des kulturellen Föderalismus (1) angekommen. Nach dem Verständnis des Grundgesetzes ist eine nationale Kultur die Ausnahme, regionale Kultur die Regel. Das ergibt sich aus der Entwicklung Deutschlands, zu dem sich viele einzelne Herzog- und Fürstentümer, Bistümer und Königreiche zusammenfanden – eine staatliche Gesamtkomposition aus einer Fülle kulturell eigenständiger Regionen. Die Vielfalt ist immer als kultureller Reichtum empfunden worden. Daraus erwuchs in der Organisation der Zuständigkeit die „Kulturhoheit der Länder“. Der Bund war traditionell beschränkt auf die Förderung einzelner Projekte, die er wegen ihrer nationalen Bedeutung auch in einzelnen Regionen für wichtig hielt. Ansonsten hatten die Länder allein das Sagen.
Doch die direkte Begegnung zwischen Bürgern und Kultur wird – obwohl von den Ländern ebenfalls gefördert – vor allem in den Städten und Gemeinden ermöglicht. Geht es der Gemeinde wirtschaftlich gut, können die Einwohner mit einer Fülle an kommunalen Angeboten rechnen. Doch Steuereinnahmen schwanken, und so ist jeder Gemeinderat gut beraten, mit zurückhaltender Skepsis zu überlegen, ob sich die Kommune die langfristigen laufenden Folgekosten erlauben kann, wenn sie etwa ein Museum, eine Musikschule oder gar ein Theater ins Leben ruft.
Die Schwierigkeit an der Kulturförderung „vor Ort“ besteht in ihrer Freiwilligkeit. Kultur ist keine Pflichtaufgabe der Städte und Gemeinden. Wenn Geld übrig bleibt, kann es in die Kunstförderung fließen, wenn kein Geld übrig bleibt, wenn gar der Ausgleichsstock (2) droht, weist die Kommunalaufsicht die betroffenen Städte und Gemeinden an, ihre freiwilligen Leistungen zusammenzustreichen. Kultur hat so keine Chancen, sich gegen andere Bereiche zu behaupten. Auch den Ländern sind die Hände gebunden, wenn Wirtschaftskrisen die Steuereinnahmen mindern. Schließlich legen die Länderverfassungen fest, dass die Neuverschuldung die Summe der Investitionen nicht übersteigen darf. Das soll verhindern, dass Kredite für Wohltaten ausgegeben werden, von denen die Gemeinschaft auf Dauer nichts hat. Doch auch Investitionen in Bildung und Kultur gelten nicht als Investitionen im Sinne der Verfassungen. Kanal und Straße sind okay, nicht dagegen Bildung und Kultur.
Der Charakter der Kultur als „weiche“ Größe wird jedoch zunehmend angezweifelt. Vor dem Hintergrund, dass es keine Firma dorthin zieht, wo kulturell „der Hund begraben liegt“, dass kein fähiger Mitarbeiter in kulturell trostlose Gegenden gelockt werden kann, bekommt das Kulturangebot zunehmend Bedeutung auch auf der Liste investitionsentscheidender Standortvorteile. Liegt also ein möglicher Ausweg in der Erkenntnis von Bürgerschaft und Wirtschaft, selbst Mitverantwortung für ihr eigenes kulturelles Umfeld zu tragen? Als beispielhaft kann hier das 30.000-Einwohner-Städtchen Kempen am Niederrhein gelten. Mit dem Einsatz von 57.000 Euro an Steuergeldern bezahlt die Stadt Künstlerhonorare in Höhe von 243.000 Euro. Hochwertige Auftritte bis hin zu den Cellisten der Berliner Philharmoniker ruhen auf drei Säulen: Zu der Organisation durch die Stadt tritt ein 160köpfiger bürgerschaftlicher Verein sowie ein „Förderkreis Kultur und Wirtschaft“, in dem 14 örtliche Unternehmen langfristig Gelder zur Verfügung stellen. Eintrittsgelder und ein breites Mäzenatentum (3) garantieren eine Vielzahl kultureller Ereignisse, die sich eine solche Stadt in dieser wirtschaftlichen Situation niemals leisten könnte. Das strahlt innerhalb Kempens weiter aus: So gibt es im örtlichen kommerziellen Kino auch schon ein eigenes Programmkino-Angebot, weil sich eine entsprechende Privatinitiative gebildet hat.
Doch selbst die Initialzündung der Stadt in die Bürgerschaft und Wirtschaft hinein ist nach dem Eindruck des Kempener Kulturdezernenten Volker Rübo gefährdet, wenn die Gewerbesteuereinnahmen weiter wegbrechen. Die Gemeindesteuerreform müsse die Finanzsituation der Städte auf kräftigere Füße stellen, damit die Kommunen so viel Luft zum Atmen bekämen, dass auch Kultur leben könne. „Sonst ist die Kultur für immer mehr Städte nicht mehr zu leisten.“ So hat die kulturelle Perspektive im Land der Dichter und Denker viel mit der Finanzperspektive seiner Städte und Gemeinden zu tun.