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Sie kommen aus Neugier und Wissbegierde. Sie wollen sich beeindrucken lassen. Sie haben Bilder und Fragen im Kopf. Rund drei Millionen Menschen besuchen jährlich das Reichstagsgebäude in Berlin und die Häuser des Bundestages. Den Gastgebern verlangt dies beste Organisation, perfekte Abläufe und reichlich Kreativität ab. Besucherdienst und Polizei- und Sicherungsdienst sind für den ersten, den zweiten, vor allem aber den besten Eindruck verantwortlich und rollen – im übertragenen Sinne – den roten Teppich für das Volk aus.
Die Besucherschlange ist nicht endlos, aber sehr lang. Wer mit gesenktem Kopf dasteht, liest in einem Reiseführer. Die den Kopf in den Nacken legen, schauen den Steinrestaurierungsarbeiten hoch oben am Westportal zu. Und es gibt noch jene, die auf dem Rasen stehen, bewegungslos, die Arme weit nach vorn gestreckt. Auf den Displays ihrer Digitalkameras sieht das Reichstagsgebäude winzig aus. Und dann soll ja auch noch die Ehefrau mit drauf: Himmel, Reichstagsgebäude, Treppe, Rasen, Ehefrau. Jetzt läuft jemand ins Bild, genau in dem Moment, da man ausgelöst hat. Also noch einmal.
Wenn die Schlange sich vorwärts bewegt, dann immer ein großes Stück. Es geht zügig voran, aber hinten wird angebaut, was vorn abgearbeitet ist. „Dauert nicht mehr lang“, sagt ein junger Mann zu seiner Freundin. „Kuppel muss sein“, schickt er murmelnd hinterher.
Als der Bundestag von Bonn nach Berlin zog, wussten alle, dass dies auch mehr Gäste bedeutet. Allerdings wurden die kühnsten Prognosen schnell übertroffen. Rund zwei Millionen Menschen besuchen jährlich Dachterrasse und Kuppel des Reichstagsgebäudes, das sind an 360 Tagen je zirka 5.500 Kuppelbesucher. Sie stellen sich am Westeingang des Reichstagsgebäudes an, werden in der Westhalle in Empfang genommen und begrüßt, durchlaufen die Sicherheitskontrolle, werden in den Fahrstuhl begleitet, der sie auf die Dachterrasse bringt, wo Kuppelbetreuer des Besucherdienstes für Auskünfte zur Verfügung stehen. Das sind die so genannten unangemeldeten Gäste. Sie finden perfekte Organisation und freundliches Personal vor. Viele von ihnen assoziieren mit „Besucherdienst“ all jene Frauen und Männer, die dafür sorgen, dass sie unkompliziert reinkommen, schauen, die Doppelhelix in der Kuppel hoch und runter laufen können und sich wohl fühlen.
Aber „Besucherdienst“ ist viel mehr. Er besteht aus 29 festen Angestellten und 50 Honorarkräften. 27 von ihnen, in der Regel mit abgeschlossenem Hochschulstudium, sind als Besucherführer tätig, halten Vorträge und machen Führungen durch die Häuser des Bundestages. 23 Studierende sind für den Bereich Besucherbetreuung in der Kuppel, auf der Dachterrasse und im Besucherzentrum des Paul-Löbe-Hauses verantwortlich. Sie alle kümmern sich um die angemeldeten und die unangemeldeten Gäste.
Angemeldet kommen jährlich mehr als eine dreiviertel Million, davon rund 600.000, die direkt vom Besucherdienst betreut werden. Das sind Gäste der Abgeordneten, freie Gruppen und solche, die eine Diskussion mit Parlamentariern geplant haben, Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Plenarsitzungen und Vorträgen, Gruppen, die Haus-, Kunst- und Architekturführungen machen wollen, Jugendliche, die an Projekten wie „Jugend und Parlament“ oder „Planspiel“ und Erwachsene, die an Parlamentsseminaren teilnehmen. Und dann gibt es noch jene Gäste, die zu Fraktionsveranstaltungen oder Veranstaltungen der Abgeordneten kommen und sich beim Sicherungsdienst angemeldet haben. So kommen die drei Millionen Menschen zusammen, die jährlich das Reichstagsgebäude und die Häuser des Bundestages besuchen. 1953 übrigens, als Besucher das erste Mal statistisch erfasst wurden, kam man auf 55.227. Das klingt, als hätte damals noch jeder persönlich mit Handschlag begrüßt werden können.
Heute braucht alles eine ausgefeiltere Logistik und ein gutes Zusammenspiel zwischen den drei großen Bereichen des Besucherdienstes: Besucherführungsdienst, Jugendprojekte und Besucherverwaltung.
Der CDU/CSU-Abgeordnete Eberhard Gienger, einst ein erfolgreicher Turner, steht auf der Freitreppe vor dem Westeingang und wartet. Am Abend wird er seinen schwarzen Anzug gegen einen Overall tauschen, auf Höhenflug gehen und einen Fallschirmsprung wagen. Für eine gute Sache. Jetzt steht er für eine gute Sache auf der Freitreppe, blinzelt in die Sonne und erwartet eine kleine Tour de France – rund dreißig Jugendliche, die fast 700 Kilometer von Heilbronn nach Berlin geradelt sind.
Für diese Höchstleistung haben viele Unternehmen Geld gespendet. Und das Geld geht an die Uniklinik Kiel, Jugendherzabteilung. „Meine Pumpe, deine Pumpe“ steht auf Schildern und T-Shirts der Jugendlichen. Mehr als 15.000 Euro sind zusammengekommen. Eberhard Gienger weiß das Engagement zu würdigen und bereitet den etwas müden, aber stolzen Radlern einen herzlichen Empfang.
Jeder Abgeordnete hat 200 Kontingentplätze pro Jahr für Besuchergruppen aus seinem Wahlkreis zur Verfügung. Die Nachfrage ist größer als das Angebot. Die Gruppen lernen im Gespräch mit ihrem Abgeordneten die parlamentarische Arbeit besser kennen, können in Sitzungswochen an einer Plenarsitzung teilnehmen und an sitzungsfreien Tagen einen Informationsvortrag hören. Ein Reisekostenzuschuss und eine Einladung ins Besucherrestaurant zum Essen gehören zum Service.
Fast alle nehmen zum Schluss den Service der FOBI (Fotobildstelle des Besucherdienstes) in Anspruch. Dann wird, meist vor dem Südeingang, ein Erinnerungsfoto mit dem Abgeordneten gemacht. Das ist jedes Mal ein Ereignis und für alle ein schönes Andenken. Viele Abgeordnete laden auch Gäste ein, die auf eigene Kosten den Bundestag besuchen. Kostenlos sind aber auch für diese Besucher die Informationsangebote des Besucherdienstes.
Manchmal sind die Anlässe für einen Gruppenbesuch im Bundestag etwas ganz Besonderes. Ein Girls’ Day zum Beispiel, den die SPD-Fraktion anbietet, und der junge Frauen motivieren soll, sich später vielleicht auch beruflich mit Politik zu befassen. Die SPD-Abgeordnete Petra Weis jedenfalls hat diesen Tag in guter Erinnerung, sie hatte eine Schülerin aus Duisburg zu Besuch. Auch von der Fraktion geladene Gäste können, wenn sie möchten, einen Informationsvortrag des Besucherdienstes hören.
Der Besuch einer Plenarsitzung ist heiß begehrt. Viele wollen sehen und hören, wie Politik gemacht wird. Auch auf der Besucherebene läuft immer alles gut organisiert und wie am Schnürchen: freundlicher Service, Antworten auf viele Fragen.
Der Plenarsaal ist ein Höhepunkt für die Besucher. Sie sitzen auf der Tribüne, schauen auf die Parlamentarier, und das ist einfach anders, als eine Fernsehübertragung. Gerhard Schröder live sozusagen, davon können sie zu Hause erzählen.
Luise Rüger gehört zu jenen 27 Honorarkräften, von denen die meisten Geschichte, Politik oder Kunst studiert haben, und die Führungen durchs Haus machen oder einen Vortrag auf der Besuchertribüne des Plenarsaales halten. 45 Minuten redet sie über das Haus, den Ablauf von Plenarsitzungen, die Sitzverteilung im Plenarsaal, die Neubauten des Bundestages, die verschiedenen Ebenen im Reichstagsgebäude, Parlamentarismus, Spielregeln. Ihre Sprache ist bildhaft, ihr Vortrag kurzweilig und humorvoll. Sie entlockt den Gästen hin und wieder ein Ah und ein Oh oder ein fröhliches Lachen. „Wir Deutschen lieben unsere Fette Henne“, sagt sie und zeigt auf den Bundestagsadler. „Fette Henne“, juchzt eine Frau. „Dat passt, oder?“
Katja Reißner wartet auf eine Besuchergruppe, die sich für Kunst und Architektur interessiert. Diese Führungen finden am Wochenende statt. Die Besucher, die kommen, werden nie enttäuscht. Sie sehen Bilder, lernen etwas über Sichtachsen und Kunst am Bau, kommen in Räume, die sie sonst nie betreten könnten, werden anschaulich über das Kunstkonzept in den Häusern des Bundestages informiert. Katja Reißner weiß viel zu erzählen und sie erzählt es gut. Plötzlich wird ein Bild zu einer Geschichte, erschließen sich Räume, die im ersten Moment fremd erschienen, werden Namen genannt, bei denen es Klick macht im Kopf, und bei denen Beziehungen hergestellt werden zu anderen Kunsterlebnissen. Von dem hat man doch im vergangenen Jahr eine Ausstellung gesehen. Ist das nicht der, dessen Bilder immer auf dem Kopf stehen?
„Wahnsinn“, sagt eine Frau beim Anblick eines großen Bildes von Anselm Kiefer für Ingeborg Bachmann und bittet eine andere Frau, sie vor dem Kunstwerk zu fotografieren.
Montag und Dienstag findet in fast jeder Woche von 8 bis 12.30 Uhr das Planspiel zum Weg der Gesetzgebung statt, eine Idee, die Öffentlichkeitsarbeit und Besucherdienst gemeinsam entwickelten. Ziel ist, dass Schülerinnen und Schüler parlamentarische Demokratie spielerisch erfahren. Sie übernehmen die Rolle von Abgeordneten. Sie konstituieren einen kleinen Bundestag, bilden Fraktionen, setzen Ausschüsse ein, wählen Fraktionsvorsitzende, eine Präsidentin oder einen Präsidenten des Bundestages und Ausschussvorsitzende. Dann simulieren sie einen kompletten Gesetzgebungsprozess. Die Namen der Fraktionen sind fiktiv, aber inhaltlich angelehnt an die Zusammensetzung des Bundestages.
Ausgebucht ist das Planspiel schon jetzt bis zum Jahresende – die Idee findet begeisterte Anhänger, denn alle Szenarien finden auch an jenen Orten statt, die sonst den Parlamentariern vorbehalten sind. Die ausgewählten Themen haben für die jungen Leute Bedeutung: Wehrpflicht oder Wahlrecht beispielsweise.
Das Spiel läuft so: Eine Fraktion bringt einen Gesetzentwurf über die Aussetzung der Wehrpflicht ein. Der Entwurf muss beraten, das Für und Wider abgewogen, Koalitionen müssen gebildet, Mehrheiten organisiert werden. Dann wird abgestimmt, und im simulierten Deutschland gibt es keine Wehrpflicht mehr. Oder es gibt sie weiterhin.
Niemand verlässt die Warteschlange, obwohl der Regen unangenehm ist. Junge Menschen in roten T-Shirts, auf denen Besucherdienst steht, kommen mit großen schwarz-rot-goldenen Schirmen zu den Wartenden und Neugierigen. Es sind zwei der 23 Besucherbetreuer des Besucherdienstes und sie bringen Trost. Sie beantworten Fragen und sagen an, wie lange es noch dauern wird. Das wird dankbar aufgenommen.
Ein junges Paar fotografiert sich gegenseitig beim Fotografieren. Frau vor Kanzleramt, Mann vor Reichstag – Schuss und Gegenschuss. Es sieht aus, als wollten sie mit ausgestreckten Armen aufeinander zu laufen. Und weil es so aussieht, fotografiert ein dritter Besucher die beiden mit dem Paul-Löbe-Haus im Bildhintergrund. Das Band des Bundes beflügelt die Fantasie.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Michael Duchemann,
Priester, Sancerre, Frankreich
Ich bin das erste Mal in Berlin und werde drei
Tage bleiben können. Das Reichstagsgebäude wollte ich auf
jeden Fall sehen. Es sieht von außen sehr imposant aus. Ebenso
wie das Kanzleramt, das ich beeindruckend finde. Ich interessiere
mich vor allem für die Architektur. Meine Erwartung ist, dass
ich im Reichstagsgebäude sehr differenzierte architektonische
Lösungen und Formen sehen werde. Ich bin jedenfalls
gespannt.
Elsa Barbara Deconi, Rom, Italien,
arbeitet bei der Telekom Italiens
Das ist mein erster Besuch in dieser Stadt,
aber ich habe sehr viel über die Geschichte Berlins gelesen.
Ich glaube, seit 1989 ist das eine andere Stadt geworden. Mich
interessiert am Bundestag vor allem, wie politische Arbeit
organisiert ist, die Konstruktion der Arbeit sozusagen. Was ich von
außen sehe? Die Mitte der Moderne. Nach dem Besuch hier werde
ich mich in den 100er Bus setzen und mir die Stadt
anschauen.
Baiba Kuze, Studentin der
Sozialpädagogik, Lettland, und Martin Schmidtbauer,
Computer-Administrator, Hamburg, beide leben zusammen in
Hamburg
Baiba Kuze: Ich
bin zum ersten Mal in Berlin, und mir gefällt das
Reichstagsgebäude von außen erst einmal sehr. Wirklich
beeindruckend, ich bin gespannt, wie es drinnen
aussieht.
Martin Schmidtbauer: Schade, dass heute keine Plenarsitzung stattfindet, das
hätte ich gern mal erlebt. Ich kenne Berlin natürlich
schon, meine Großmutter und meine Mutter haben hier gelebt.
Baiba und ich werden uns von der Stadt überraschen lassen,
konkrete Pläne haben wir nicht. Aber es wird sicher
schön.
Hao Chunyu und Shi Tingting,
Studentinnen aus China
Wir sind zum ersten Mal in Deutschland und
werden noch einige Länder in Europa besuchen. Das
Reichstagsgebäude ist das politische Zentrum des Landes. Wir
stellen es uns wie das Weiße Haus vor. Von außen erinnert
es allerdings eher an große Gebäude in Rom. Auf jeden
Fall imposant. Wir sind neugierig darauf, drinnen zu erfahren, wie
das politische Geschäft organisiert ist.
Eva Böhnke und Ingrid Freund,
Pensionärinnen aus Hamburg
Ingrid Freund: Ich habe das Reichstagsgebäude verpackt gesehen, das
war imposant. Aber jetzt ist es auch beeindruckend. Mich
interessiert vor allem die Kuppel, ihre Konstruktion.
Natürlich werde ich bis ganz nach oben laufen, um die Stadt zu
sehen.
Eva Böhnke: Wir waren schon öfter in Berlin und wählen jetzt
aus, was wir sehen möchten. Heute Reichstag und morgen MoMA.
Ich finde übrigens, dass das Reichstagsgebäude für
die Hauptstadt angemessen ist. Es gefällt mir.