Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beim Besuch des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katsav
Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort
"Es ist mir eine große Ehre und Freude, Sie, Herr
Staatspräsident Katsav, und Ihre Ehefrau im Namen aller
Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates herzlich
willkommen zu heißen.
Ihr Besuch, Herr Präsident, steht ganz im Zeichen eines
wahrhaft historischen Datums: der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik
Deutschland vor 40 Jahren. Wir sind dankbar, dass Sie unsere
Einladung zu dieser Sondersitzung des Deutschen Bundestages
angenommen haben und hier in Berlin, dieser beladenen Stadt, das
Wort an uns richten werden. Wir verstehen dies als Würdigung
der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Staaten und
zugleich als Bekenntnis zum Ausbau unserer erfolgreichen
Zusammenarbeit. Die eindrucksvolle Rede Ihres Amtsvorgängers,
Präsident Ezer Weizman, vor dem Deutschen Bundestag in Bonn
1996 ist vielen von uns noch lebhaft in Erinnerung.
Auch wenn deutsch-israelischen Beziehungen heute eng und
vertrauensvoll sind: "selbstverständlich", "normal", "Routine"
- all das sind sie nicht. Sie können es nicht sein, angesichts
des brutalen Zivilisationsbruchs, der von Deutschen erdacht,
geplant, organisiert und exekutiert wurde: dem Völkermord an
den Juden Europas. Die Schergen des Holocaust löschten sechs
Millionen Leben aus und zerstörten die Grundlagen einer
jahrhundertealten blühenden deutschen und europäischen
Kultur. Diese einschneidende Erfahrung prägt, wie Willy Brandt
es formuliert hat, den "besonderen Charakter" des
deutsch-israelischen Verhältnisses, sie wird unsere
bilateralen Beziehungen auf immer mitbestimmen.
Dass angesichts dieser geschichtlichen Katastrophe unsere
Länder heute freundschaftlich verbunden sind, empfinde ich als
ein großartiges, ein beschämendes Geschenk: Wer
hätte am 8. Mai 1945, dem Kriegsende, auch nur zu hoffen
gewagt, dass in Deutschland jemals wieder jüdische Gemeinden
wachsen, neue Synagogen gebaut, jüdische Museen und Schulen
errichtet würden? Und wer hätte am 14. Mai 1948, dem
Gründungstag des Staates Israel, vorauszusagen gewagt, dass
wir schon in absehbarer Zeit bei der Gestaltung von Gegenwart und
Zukunft zusammenarbeiten würden - partnerschaftlich,
vertrauensvoll, auf solider politischer Grundlage? Doch es gab
diese Visionäre eines israelisch-deutschen Annäherungs-
und Versöhnungsprozesses: mutige Staatsmänner wie Nahum
Goldmann und David Ben-Gurion. Ihre Bereitschaft, die Bereitschaft
des Staates Israel, den Deutschen über die Gräber des
Holocaust hinweg die Hand zu reichen, ist gar nicht hoch genug zu
würdigen.
Eine wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen unseren Ländern war die
Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 27.
September 1951. In ihr bekannte er sich mit einhelliger Zustimmung
des Deutschen Bundestages zur Verantwortung Deutschlands für
die nationalsozialistischen Verbrechen sowie zur Pflicht
moralischer und materieller Wiedergutmachung gegenüber dem
jüdischen Volk und dem Staat Israel.
Gleichwohl: Der Auf- und Ausbau belastbarer Beziehungen verlief
keineswegs konfliktfrei. Gegen die von David Ben-Gurion und Konrad
Adenauer begonnene Politik gab es nicht nur in beiden Ländern
beträchtliche Widerstände, sondern auch von Seiten
benachbarter Staaten oder der eigenen Bündnispartner. Die
Verhandlungen zum so genannten Wiedergutmachungsabkommen, das am
10. September 1952 in Luxemburg unterzeichnet wurde, drohten
mehrfach zu scheitern. Doch gerade mit diesem Vertrag wurde der
Grundstein zu einer über den unmittelbaren Zweck
hinausreichenden Zusammenarbeit gelegt, begann der
Verständigungsprozess. Der Luxemburg-Vertrag war ein wichtiger
Baustein für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen
dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland, die dreizehn
Jahre später, am 12. Mai 1965, besiegelt wurde.
Vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Staatspräsident Katsav, das
Verhältnis zwischen unseren Ländern als "einzigartig und
besonders wertvoll" gewürdigt. Dieser Ihrer Einschätzung
stimme ich gerne zu: Unsere Zusammenarbeit hat im Laufe der Jahre
und Jahrzehnte tatsächlich eine beeindruckende Intensität
erreicht. Nicht nur zwischen den Regierungen, auch zwischen der
Knesset und dem Deutschen Bundestag gibt es enge Kontakte. Unter
den Parlamentariergruppen unseres Parlaments bildet die
deutsch-israelische Gruppe die zahlenmäßig
größte.
Auch auf kommunaler Ebene gehen Israelis und Deutsche aufeinander
zu. Über einhundert Städte- und Kreispartnerschaften
ermöglichen den persönlichen Austausch. Daneben gibt es
ein sehr dichtes und funktionstüchtiges deutsch-israelisches
Netzwerk, das Kirchen, Parteien, Gewerkschaften,
Bildungseinrichtungen, Sportvereine, Museen und nicht zuletzt
Verbände wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft aufgebaut
haben. Sehr intensiv arbeiten auch Forschungseinrichtungen
zusammen, etwa die Max-Planck-Gesellschaft und das
Weizman-Institut; die Anfänge dieser Kooperation liegen in den
50er Jahren.
Es ist gut zu wissen, dass Deutschland vier Jahrzehnte nach
Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und sechs Jahrzehnte nach
Kriegsende zu kaum einem anderen Land so lebendige Beziehungen
unterhält wie zu Israel. Der Deutsche Bundestag
bekräftigt (mit dem Beschluss vom 12. Mai 2005) seinen Willen,
in diesem Geiste den Austausch und die Zusammenarbeit auf allen
Ebenen fortzuführen ? insbesondere natürlich jene
Austauschprojekte, die Begegnungen zwischen jungen Israelis und
jungen Deutschen ermöglichen und dazu beitragen, Wissen
übereinander zu vermitteln, Vorurteile abzubauen,
Freundschaften zu stiften.
Die Zahlen können sich sehen lassen: An den
Begegnungsprogrammen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten
ca. eine halbe Million junger Deutscher und Israeli teilgenommen,
darunter viele Freiwillige, die beispielsweise in Diensten von
"Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V." oder "Pax Christi",
in Sozialprojekten, Gedenkstätten und Kibbuzim arbeiten. Heute
sind 600 Jugendliche aus Israel und Deutschland zu Gast im
Deutschen Bundestag, sie verfolgen diese Sondersitzung an
Bildschirmen: Ihnen allen einen herzlichen Gruß aus dem
Plenarsaal!
Angesichts der beeindruckenden Vielfalt und Qualität der
bilateralen Jugendarbeit frage ich mich, ob es nicht an der Zeit
ist, dass wir neben dem deutsch-französischen und
deutsch-polnischen endlich auch ein deutsch-israelisches Jugendwerk
auf den Weg bringen? Schließlich stehen wir in beiden
Ländern mitten in einem Generationenwechsel: Es leben nur noch
wenige Zeitzeugen des Holocaust, bald werden ihre Enkel das
politische und kulturelle Leben, das historische Denken
prägen. Und je bessere Strukturen wir haben für die
Vermittlung historischen Wissens und den Erwerb konkreter
Alltagserfahrungen im jeweils anderen Land, umso besser können
wir die Lehren aus unserer Geschichte verarbeiten, können wir
unsere Zukunft gemeinsam gestalten.
Vor wenigen Tagen haben wir im Zentrum Berlins das Denkmal für
die ermordeten Juden Europas der Öffentlichkeit
übergeben. Die Entscheidung für dieses Denkmal ist noch
in Bonn gefallen, kurz vor dem Umzug des Parlaments. Es war die
Entscheidung für ein erstes gemeinsames Erinnerungsprojekt des
wiedervereinten Deutschlands und das Bekenntnis, dass sich dieses
geeinte Deutschland seiner Geschichte stellt, indem es in seiner
Hauptstadt an das größte Verbrechen seiner Geschichte
erinnert, Aufklärungsarbeit leistet, historische Debatten
anstößt.
Unsere Geschichte verpflichtet uns, jede Form von Antisemitismus,
von Rassismus und Intoleranz zu ächten und zu bekämpfen.
Antisemitische und fremdenfeindliche Gewalttaten, die bei uns
wieder zugenommen haben, sind immer auch ein Angriff auf unsere
Demokratie und den elementaren Grundsatz der Unantastbarkeit der
Menschenwürde, auf dem sie aufbaut. Dem Treiben
rechtsradikaler Parteien und Bündnisse sehen wir Deutsche
nicht tatenlos zu. Als am 8. Mai in Berlin ein Aufmarsch von
Neonazis drohte, hat sich die demokratische Mehrheit gewehrt. Sie
erklärte den 8. Mai zum "Tag der Demokratie" und machte
deutlich, dass weder unsere Straßen und Plätze noch
unsere Sprache den Feinden der Demokratie, dumpfen Nationalisten,
Rassisten und Antisemiten, überlassen bleiben. Die große
Mehrheit in unserem Land will, dass jüdische Bürgerinnen
und Bürger bei uns und mit uns sicher und frei leben
können.
Die Verantwortung Deutschlands wirkt aber auch nach außen. Am
40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen
unseren Ländern hat der Deutsche Bundestag erneut
bekräftigt, dass das Recht der Bürger Israels, in
sicheren Grenzen frei von Angst, Terror und Gewalt leben zu
können, für uns elementarer Bestandteil der
Solidarität und Freundschaft mit Israel ist. Diese Position
ist und bleibt ein unverrückbarer Pfeiler deutscher
Außenpolitik. Der Bundestag sieht eine besondere
Verpflichtung unseres Landes darin, sich aktiv für die
Überwindung des Nahost-Konflikts einzusetzen und gemeinsam mit
unseren Partnern in der EU, mit den USA, Russland und mit dem
Generalsekretär der Vereinten Nationen die Wiederbelebung des
Friedensprozesses im Rahmen der "Road Map" zu unterstützen.
Ziel ist die Existenz zweier souveräner, lebensfähiger
und demokratischer Staaten, Israel und Palästina, verbunden in
gemeinsamer Sicherheit, garantiert durch die internationale
Gemeinschaft. Dazu müssen auch die Länder der Region
ihren Beitrag leisten.
Sehr geehrter Herr Staatspräsident,
wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, wünschen Ihrem
Land, der Regierung Israels und Ihnen persönlich sehr viel
Ausdauer und Geduld, vor allem aber gute Erfolge bei der
Wiederbelebung des Friedensprozesses, bei der Gestaltung eines
gerechten und dauerhaften Friedens in der gesamten Region. Sie
sollen wissen: Wir Deutsche, wir Europäer stehen an Ihrer
Seite."
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