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Stand: 31.05.2005
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Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beim Besuch des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katsav


Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort

"Es ist mir eine große Ehre und Freude, Sie, Herr Staatspräsident Katsav, und Ihre Ehefrau im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Bundesrates herzlich willkommen zu heißen.

Ihr Besuch, Herr Präsident, steht ganz im Zeichen eines wahrhaft historischen Datums: der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland vor 40 Jahren. Wir sind dankbar, dass Sie unsere Einladung zu dieser Sondersitzung des Deutschen Bundestages angenommen haben und hier in Berlin, dieser beladenen Stadt, das Wort an uns richten werden. Wir verstehen dies als Würdigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Staaten und zugleich als Bekenntnis zum Ausbau unserer erfolgreichen Zusammenarbeit. Die eindrucksvolle Rede Ihres Amtsvorgängers, Präsident Ezer Weizman, vor dem Deutschen Bundestag in Bonn 1996 ist vielen von uns noch lebhaft in Erinnerung.

Auch wenn deutsch-israelischen Beziehungen heute eng und vertrauensvoll sind: "selbstverständlich", "normal", "Routine" - all das sind sie nicht. Sie können es nicht sein, angesichts des brutalen Zivilisationsbruchs, der von Deutschen erdacht, geplant, organisiert und exekutiert wurde: dem Völkermord an den Juden Europas. Die Schergen des Holocaust löschten sechs Millionen Leben aus und zerstörten die Grundlagen einer jahrhundertealten blühenden deutschen und europäischen Kultur. Diese einschneidende Erfahrung prägt, wie Willy Brandt es formuliert hat, den "besonderen Charakter" des deutsch-israelischen Verhältnisses, sie wird unsere bilateralen Beziehungen auf immer mitbestimmen.

Dass angesichts dieser geschichtlichen Katastrophe unsere Länder heute freundschaftlich verbunden sind, empfinde ich als ein großartiges, ein beschämendes Geschenk: Wer hätte am 8. Mai 1945, dem Kriegsende, auch nur zu hoffen gewagt, dass in Deutschland jemals wieder jüdische Gemeinden wachsen, neue Synagogen gebaut, jüdische Museen und Schulen errichtet würden? Und wer hätte am 14. Mai 1948, dem Gründungstag des Staates Israel, vorauszusagen gewagt, dass wir schon in absehbarer Zeit bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zusammenarbeiten würden - partnerschaftlich, vertrauensvoll, auf solider politischer Grundlage? Doch es gab diese Visionäre eines israelisch-deutschen Annäherungs- und Versöhnungsprozesses: mutige Staatsmänner wie Nahum Goldmann und David Ben-Gurion. Ihre Bereitschaft, die Bereitschaft des Staates Israel, den Deutschen über die Gräber des Holocaust hinweg die Hand zu reichen, ist gar nicht hoch genug zu würdigen.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren Ländern war die Regierungserklärung von Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 27. September 1951. In ihr bekannte er sich mit einhelliger Zustimmung des Deutschen Bundestages zur Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistischen Verbrechen sowie zur Pflicht moralischer und materieller Wiedergutmachung gegenüber dem jüdischen Volk und dem Staat Israel.

Gleichwohl: Der Auf- und Ausbau belastbarer Beziehungen verlief keineswegs konfliktfrei. Gegen die von David Ben-Gurion und Konrad Adenauer begonnene Politik gab es nicht nur in beiden Ländern beträchtliche Widerstände, sondern auch von Seiten benachbarter Staaten oder der eigenen Bündnispartner. Die Verhandlungen zum so genannten Wiedergutmachungsabkommen, das am 10. September 1952 in Luxemburg unterzeichnet wurde, drohten mehrfach zu scheitern. Doch gerade mit diesem Vertrag wurde der Grundstein zu einer über den unmittelbaren Zweck hinausreichenden Zusammenarbeit gelegt, begann der Verständigungsprozess. Der Luxemburg-Vertrag war ein wichtiger Baustein für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland, die dreizehn Jahre später, am 12. Mai 1965, besiegelt wurde.

Vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Staatspräsident Katsav, das Verhältnis zwischen unseren Ländern als "einzigartig und besonders wertvoll" gewürdigt. Dieser Ihrer Einschätzung stimme ich gerne zu: Unsere Zusammenarbeit hat im Laufe der Jahre und Jahrzehnte tatsächlich eine beeindruckende Intensität erreicht. Nicht nur zwischen den Regierungen, auch zwischen der Knesset und dem Deutschen Bundestag gibt es enge Kontakte. Unter den Parlamentariergruppen unseres Parlaments bildet die deutsch-israelische Gruppe die zahlenmäßig größte.

Auch auf kommunaler Ebene gehen Israelis und Deutsche aufeinander zu. Über einhundert Städte- und Kreispartnerschaften ermöglichen den persönlichen Austausch. Daneben gibt es ein sehr dichtes und funktionstüchtiges deutsch-israelisches Netzwerk, das Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Sportvereine, Museen und nicht zuletzt Verbände wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft aufgebaut haben. Sehr intensiv arbeiten auch Forschungseinrichtungen zusammen, etwa die Max-Planck-Gesellschaft und das Weizman-Institut; die Anfänge dieser Kooperation liegen in den 50er Jahren.

Es ist gut zu wissen, dass Deutschland vier Jahrzehnte nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und sechs Jahrzehnte nach Kriegsende zu kaum einem anderen Land so lebendige Beziehungen unterhält wie zu Israel. Der Deutsche Bundestag bekräftigt (mit dem Beschluss vom 12. Mai 2005) seinen Willen, in diesem Geiste den Austausch und die Zusammenarbeit auf allen Ebenen fortzuführen ? insbesondere natürlich jene Austauschprojekte, die Begegnungen zwischen jungen Israelis und jungen Deutschen ermöglichen und dazu beitragen, Wissen übereinander zu vermitteln, Vorurteile abzubauen, Freundschaften zu stiften.

Die Zahlen können sich sehen lassen: An den Begegnungsprogrammen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten ca. eine halbe Million junger Deutscher und Israeli teilgenommen, darunter viele Freiwillige, die beispielsweise in Diensten von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V." oder "Pax Christi", in Sozialprojekten, Gedenkstätten und Kibbuzim arbeiten. Heute sind 600 Jugendliche aus Israel und Deutschland zu Gast im Deutschen Bundestag, sie verfolgen diese Sondersitzung an Bildschirmen: Ihnen allen einen herzlichen Gruß aus dem Plenarsaal!

Angesichts der beeindruckenden Vielfalt und Qualität der bilateralen Jugendarbeit frage ich mich, ob es nicht an der Zeit ist, dass wir neben dem deutsch-französischen und deutsch-polnischen endlich auch ein deutsch-israelisches Jugendwerk auf den Weg bringen? Schließlich stehen wir in beiden Ländern mitten in einem Generationenwechsel: Es leben nur noch wenige Zeitzeugen des Holocaust, bald werden ihre Enkel das politische und kulturelle Leben, das historische Denken prägen. Und je bessere Strukturen wir haben für die Vermittlung historischen Wissens und den Erwerb konkreter Alltagserfahrungen im jeweils anderen Land, umso besser können wir die Lehren aus unserer Geschichte verarbeiten, können wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten.

Vor wenigen Tagen haben wir im Zentrum Berlins das Denkmal für die ermordeten Juden Europas der Öffentlichkeit übergeben. Die Entscheidung für dieses Denkmal ist noch in Bonn gefallen, kurz vor dem Umzug des Parlaments. Es war die Entscheidung für ein erstes gemeinsames Erinnerungsprojekt des wiedervereinten Deutschlands und das Bekenntnis, dass sich dieses geeinte Deutschland seiner Geschichte stellt, indem es in seiner Hauptstadt an das größte Verbrechen seiner Geschichte erinnert, Aufklärungsarbeit leistet, historische Debatten anstößt.

Unsere Geschichte verpflichtet uns, jede Form von Antisemitismus, von Rassismus und Intoleranz zu ächten und zu bekämpfen. Antisemitische und fremdenfeindliche Gewalttaten, die bei uns wieder zugenommen haben, sind immer auch ein Angriff auf unsere Demokratie und den elementaren Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde, auf dem sie aufbaut. Dem Treiben rechtsradikaler Parteien und Bündnisse sehen wir Deutsche nicht tatenlos zu. Als am 8. Mai in Berlin ein Aufmarsch von Neonazis drohte, hat sich die demokratische Mehrheit gewehrt. Sie erklärte den 8. Mai zum "Tag der Demokratie" und machte deutlich, dass weder unsere Straßen und Plätze noch unsere Sprache den Feinden der Demokratie, dumpfen Nationalisten, Rassisten und Antisemiten, überlassen bleiben. Die große Mehrheit in unserem Land will, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger bei uns und mit uns sicher und frei leben können.

Die Verantwortung Deutschlands wirkt aber auch nach außen. Am 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren Ländern hat der Deutsche Bundestag erneut bekräftigt, dass das Recht der Bürger Israels, in sicheren Grenzen frei von Angst, Terror und Gewalt leben zu können, für uns elementarer Bestandteil der Solidarität und Freundschaft mit Israel ist. Diese Position ist und bleibt ein unverrückbarer Pfeiler deutscher Außenpolitik. Der Bundestag sieht eine besondere Verpflichtung unseres Landes darin, sich aktiv für die Überwindung des Nahost-Konflikts einzusetzen und gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, mit den USA, Russland und mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Wiederbelebung des Friedensprozesses im Rahmen der "Road Map" zu unterstützen. Ziel ist die Existenz zweier souveräner, lebensfähiger und demokratischer Staaten, Israel und Palästina, verbunden in gemeinsamer Sicherheit, garantiert durch die internationale Gemeinschaft. Dazu müssen auch die Länder der Region ihren Beitrag leisten.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,

wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, wünschen Ihrem Land, der Regierung Israels und Ihnen persönlich sehr viel Ausdauer und Geduld, vor allem aber gute Erfolge bei der Wiederbelebung des Friedensprozesses, bei der Gestaltung eines gerechten und dauerhaften Friedens in der gesamten Region. Sie sollen wissen: Wir Deutsche, wir Europäer stehen an Ihrer Seite."

9975 Zeichen

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2005/pz_0505314
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