Helmut Strizek
Afrika hat mehr zu bieten als Sand
Ein Kontinent zwischen Demokratisierung und
Staatszerfall
Staatszerfall und Demokratieaufbau umschreiben
den Spannungsbogen für die Beurteilung der Lage in Afrika
südlich der Sahara. Die heutigen Strukturkrisen im
subsaharischen Afrika sind wesentlich durch die im Kalten Krieg
entstandenen Militärregimes und Einparteiensysteme
hervorgerufen oder verschärft worden. Es wäre indes
durchaus möglich gewesen, die aus mangelnder Staatstradition
herrührenden Probleme in demokratischer Auseinandersetzung
einzugrenzen und somit ein positiveres Staatsbewusstsein zu
entwickeln.
Leider war während des Kalten Krieges
niemand ernsthaft gewillt, die demokratischen Strukturen der
Unabhängigkeitsphase zu verteidigen. Bündnistreue stand
auf beiden Seiten im Ost-West-Konflikt zuoberst. Die
Strukturschwächen der neuen Staaten, die schon auf die
Schwäche vorkolonialer, erst recht kolonialer Zeit
zurückgingen, verschärften sich. Die in Eile gezimmerten
nachkolonialen Staaten konnten immer weniger ihre elementaren
Aufgaben erfüllen. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes gab
es einen zunächst viel versprechenden Wind des demo-kratischen
Wandels. Der Westen beging allerdings nach 1993 während der
Ära Clinton wieder einen demokratischen Sündenfall und
paktierte vor allem in Zentralafrika erneut mit
Militärherrschern, denen man zynischerweise den Ehrentitel
"Neue Führer Afrikas" zuerkannte. Chaos war die Folge. Doch
die Verhältnisse können sich nur bessern, wenn der
demokratische Wind wieder zu wehen beginnt. Es gibt Anzeichen
dafür.
Afrika hatte große vorkoloniale
Staatstraditionen. Ghana, Mali, Kongo und Simbabwe stehen für
historische Großstaaten. Aus bisher nicht schlüssig
erklärten Gründen hatten diese Staatsgebilde ihren Zenit
überschritten, als der Sklavenhandel im 16. Jahrhundert in
Schwung kam und Afrika über Jahrhunderte keine Chance zu
positiver Staatsbildung hatte. Es geriet in Isolation und nahm
nicht mehr an den technologischen Entwicklungen der übrigen
Welt teil. Afrika konnte sich auch nicht an der Welterkundung durch
die moderne Seefahrt beteiligen.
Berliner Kongo-Konferenz
Als Mitte des 19. Jahrhunderts der
Sklavenhandel abzuflauen begann, ergaben sich wieder
Möglichkeiten für neue Staatsbildungen. Aber der
Kulminationspunkt des Kolonialzeitalters nach der Berliner
Kongo-Konferenz 1884/1885 mit der Aufteilung Schwarzafrikas in
europäische Einflusszonen vereitelte diese Versuche. Hier
machte sich spektakulär die zentrale Folge der langen
Abkopplung bemerkbar: Afrika hatte der modernen Waffenentwicklung,
ganz besonders den ersten Maschinengewehren, nichts
entgegenzusetzen. Der waffentechnische Rückstand ist auch
Folge der Tatsache, dass das sub-saharische Afrika nicht an der
sich weltweit ausbreitenden Entwicklung hin zu formalisierter
Schuldbildung teilgenommen hatte.
Die nachkoloniale Staatenbildung kam
überra-schend. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging niemand davon
aus, dass in absehbarer Zeit die Kolonialmächte unter dem
Einfluss des amerikanischen Präsidenten Roosevelt
(Atlantik-Charta) gezwungen sein würden, diese "Spielzeuge
nationalen Stolzes" aufzugeben.
Als 1963 die Organisation für
Afrikanische Einheit gegründet wurde, handelte es sich noch um
einen Zusammenschluss demokratischer Staaten. Kurz danach begann
der "Afrikanische Umsturzkalender" (Ansprenger).
Militärregierungen und - häufig in Kombination -
Einparteienregimes konnten sich einige Jahre lang mit Billigung
ihrer westlichen oder östlichen Schutzmächte als
"Entwicklungsdiktaturen" mit dem Ziel verkaufen, den damals
häufig als Haupthindernis für die Entwicklung angesehenen
Tribalismus zu überwinden. Die Herrschaft der Ethnien wurde so
keineswegs überwunden, da zumeist eine von ihnen die
Machtbasis in Militär und Partei monopolisierte. Diejenigen,
die dies aussprachen, wurden zu Staatsfeinden erklärt. Zur
Stimulierung von wirtschaftlicher Entwicklung taugten sie ebenfalls
nicht. Die Entwicklungsdiktatoren, manche von ihnen rechte
Horrorfiguren, glaubten, in der Tradition afrikanischer Chefs
über das nationale Erbe (französisch: patrimoine)
verfügen zu können und, ohne Rechenschaft ablegen zu
müssen, sich den nationalen Reichtum ihrer Länder "unter
den Nagel reißen" zu dürfen. Die Afrikanisten begannen
vom neo-patrimonialen Staat zu sprechen. Die Völker blieben
bis weit in die 80er-Jahre Statisten im Weltpoker.
"Böse Buben" und
"Lichtgestalten"
Aber nicht nur die "bösen Buben" haben
die afrika-
nische Staatskrise angeheizt. Es waren gerade
"Lichtgestalten" der Unabhängigkeitszeit wie Julius Nyerere
(Tansania) oder Kenneth Kaunda (Sambia), deren wirtschaftliche
Unkenntnisse oder sozialistische Denkschemata den sinnvollen Umgang
mit Wirtschaftsfragen verhinderten. Sie ruinierten ihre Länder
mit der Prioritätensetzung: Umverteilung vor Wachstum. Sie
verteilten Agrargüter, deren Preise künstlich klein
gehalten wurden. Obwohl der politisch links stehende Franzose
René Dumont schon 1962 ("L' Afrique est mal partie") auf
diesen Geburtsfehler der neuen Staaten hinwies, ermunterten
"progressive" Berater aus Ost und West die neuen Staatschefs zur
Übernahme des in den Industriestaaten des Nordens damals
gültigen Modells des Wohlfahrtsstaates zulasten des
Agrarsektors und verhinderten die Bildung eines rationalen
ökonomischen Grundverständnisses.
Wie im 19. Jahrhundert beim Ende des
Sklavenhandels ergriff das subsaharische Afrika nach der
Auflösung des Sowjetreiches die Gelegenheit beim Schopf, um
die weltpolitischen Freiräume für mehr Selbstbestimmung
zu nutzen. Eine spontane Demokratiebewegung entstand und konnte
dort, wo man sie nicht behinderte, Erfolge erringen. Der Kampf um
Menschenrechte war auf einmal nicht mehr das Privileg westlicher
NGOs. Runde Tische und nationale Konferenzen wurden zur Regel, und
mancher Dinosaurier der Macht musste wenigstens "getürkte
Wahlen" zulassen, um sich den Anschein einer neuen
Legitimitätsbasis zu verschaffen. Die Völker betraten
wieder die politische Bühne.
Die demokratische Bewegung war erfolgreich,
so-lange Frankreich und die angelsächsische Welt sie
unterstützten. Die USA ließen keinen Zweifel, dass es nun
mit der Apartheid zu Ende sei. Im März 1990 erklärte
Außenminister James Baker dem alten "Kumpel" Mobutu
persönlich, die Zeit amerikanischer Unterstützung
für sein marodes Regime sei zu Ende. Auch Staatspräsident
Francois Mitterrand erklärte im Juni vor dem
franko-afrikanischen Gipfel in La Baule den Partnern, nur wenn sich
ihre Staaten auf den demokratischen Weg begeben würden,
könnten sie mit weiterer französischer Hilfe
rechnen.
Dann kam 1993 - unilateral, ohne Konsultation
Frankreichs - aus Washington ein anderes Signal. Mobutu und andere
Militärherrscher wurden von der Clinton-Administration wieder
gebraucht - aus Gründen, die bis heute nicht aus sicherer
Quellenbasis erklärt werden können. Jedenfalls entstand
mit Unterstützung aus Washington und London zwischen 1994 und
1997 um das islamistische Regime in Khartum herum ein Ring aus
Militärregimen (Eritrea, Äthiopien, Uganda, Ruanda,
Burundi, Kongo-Kinshasa sowie die Befreiungsbewegung SPLA im
Süd-Sudan), die sich gegen Khartum instrumentalisieren
ließen.
Insbesondere bei der Etablierung des
Rebellenführers Kagamé in Ruanda nahm man mit
Unterstützung des ugandischen Staatschefs Museveni im Sommer
1994 den - militärisch leicht verhinderbaren - Völkermord
an der Tutsi-Bevölkerung in Kauf. Auch die Entscheidung,
anstelle des demokratisch legitimierten Parteiführers
Tshisekedi den Rebellenchef Laurent Kabila als Nachfolger des
todkranken Mobutu im Mai 1997 mit
amerikanisch-ugandisch-ruandisch-burundischer Hilfe an der Spitze
seiner Kindersoldatenarmee in Kongo-Kinshasa militärisch an
die Macht zu bringen, bewirkte den Völkermord an den
Hutu-Flüchtlingen im Ost-Kongo und später einen
regionalen Bürgerkrieg. Diese "starken Männer" erhielten
von Außenministerin Madeleine Albright den Ehrentitel "Neue
Generation afrikanischer Führer".
Eine Reihe der nach 1990 entstandenen
demokrati-schen Parteien, die einer Anti-Khartum-Politik im Wege
standen, wurden bekämpft und teilweise zerschlagen. Diese
Politik wurde zum Fiasko. Ab Mai 1998 lieferten sich Eritrea und
Äthiopien einen absurden Grenzkrieg. Anfang August 1998 ging
auch Kabila "von der Fahne". Der Stellvertreter-Krieg gegen
Khartum, zu dem Madeleine Albright im Dezember 1997 in Uganda
öffentlich aufgerufen hatte, musste abgeblasen werden. Das
Kongo-Chaos ist noch immer nicht beendet. Vielleicht erlauben die
für 2005 vorgesehenen Wahlen ein wenig Hoffnung.
Während es einige Jahre lang bei
westlichen Intellektuellen chic war, sich der
amerikanisch-britischen Begeisterung für die "neuen
Führer Afrikas", die zwangsläufig kein Interesse an
demokratischem Wind haben konnten, anzuschließen und über
die "Demokratieunfähigkeit" Afrikas zu schwadronieren, sind
die Afrikaner dabei, den demokratischen Zug wieder zu besteigen.
Sie haben gelernt, dass keine andere Staatsform Interessenausgleich
zwischen sozialen - auch ethnischen - Gruppen und zugleich
wirtschaftliche Entwicklung durch Entfaltung der Marktkräfte
ermöglicht. Allen Globalisierungswarnungen zum Trotz
führen die Väter der New Partnership for Africa's
Development (NEPAD) seit Jahren einen Dialog mit dem
"Weltwirtschaftsclub" der G8 und propagieren Stabilität durch
demokratische Reformen. Auch die Afrikanische Union hat sich zum
Ziel demokratischer Staatsordnungen bekannt - selbst wenn dies bei
manchen Staatschefs noch immer ziemliche Lippenbekenntnisse sein
mögen.
Chancen und Potentiale
Auch Amerika scheint wieder den Wert der
Demokratie für Afrika entdeckt zu haben. Diese Botschaft
sollte die Reise von Präsident George W. Bush durch fünf
Staaten vom 7. bis 12. Juli 2003 vermitteln. Die Berufung von Colin
Powell zum ersten farbigen US-Außenminister hatte für das
subsaharische Afrika positive Auswirkungen. Man möchte ihm
gönnen, dass in seiner Amtszeit im Sudan der längste
kriegerische Konflikt Afrikas beendet werden kann. Vorsichtig hat
auch Bundeskanzler Gerhard Schröder während seiner
Afrika-Reise im Januar 2004 eine demokratische
Stabilitätsbotschaft übermittelt, bei der zum Schutz
legitimer Regierungen auch eine Beteiligung deutscher Soldaten
nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Das gesamte Afrika - sein nördlicher
arabisch-islamischer Teil ausdrücklich eingeschlossen - hat,
wenn es nicht wieder wie so oft in den letzten 500 Jahren für
fremde Ziele instrumentalisiert wird, auf demokratischem Weg eine
Chance, seine überkommenen Strukturdefizite zu überwinden
und unter Mitarbeit von Bevölkerungen mit Schulbildung die
beträchtlichen ökonomischen Potentiale zugunsten breiter
Schichten auszuschöpfen. Der Zusammenbruch des Schulwesens in
den 90er-Jahren ist vielleicht die schlimmste, aber
überwindbare Auswirkung der "failing states". Eine
demokratische Entwicklung wird auch den Frauen erlauben, sich mehr
als bisher in die Staatenbildung einzubringen und den Trend zu
stoppen, bei dem in fundamentalistisch orientierten Gebieten wie in
Nord-Nigeria ihre schon in einem liberalen Islam erworbenen Rechte
wieder eingeschränkt werden. Schwarzafrika hat genügend
Potential, um seine gegenwärtigen Krisen mittel- bis
langfristig zu überwinden.
Dabei gilt es, eine wachstumskonforme
Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft zu etablieren. Plumpe
Staatsfeindlichkeit hilft ebenso wenig wie kritiklose
Gläubigkeit in die positiven Wirkungen staatlicher
Globalplanung, die in Teilen der Weltbank noch immer propagiert
wird. In den ärmsten Staaten macht es zudem keinen Sinn, dass
die Weltbank weiterhin mit Darlehen aktiv wird, die die
Überschuldung bewirkt haben.
Die mit großen Reichtümern
versehenen Gebiete von Angola über Gabun und die beiden
Kongo-Staaten bis Sudan könnten in Zusammenarbeit mit dem
teilindustrialisierten Südafrika zu Wachstumslokomotiven
werden, wenn der Rest der Welt eine solche Entwicklung nicht
behindert. Auch wenn die Rallye Paris-Dakar die Wüste in die
Wohnzimmer der Welt bringt, Afrika hat mehr zu bieten als
Sand.
Dr. Helmut Strizek lebt in Berlin und forscht
seit 1973 zu Afrika.
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