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Reinhard Müller
"Mehr Europa" lässt sich jedoch nicht
verordnen
Die Europäische Union gibt sich eine
Verfassung
Verfassung ist ein großes Wort. Es entfaltet eine
politische Sprengkraft, weil es nach der überkommenen
Begriffslehre untrennbar mit dem Staat zusammenhängt: Wo keine
Verfassung, da kein Staat. Wie fügt sich Europa in dieses
Raster? Das Gebilde, das mit den Römischen Verträgen als
Wirtschaftsgemeinschaft entstand, strebte schon immer nach mehr.
Mittlerweile ist es eine Währungs- und Wirtschaftseinheit,
deren Organe auf vielen Gebieten Recht setzen und unmittelbar -
wenn auch meist im verborgenen - Einfluss auf das tägliche
Leben der Bürger nehmen. Die Europäische Union ist also
weit mehr als ein loser Bund von Staaten, die auf bestimmten
Gebieten zusammenarbeiten. Sie ist jedoch offenbar auch kein
Bundesstaat, in dem etwa Deutschland und Frankreich Gliedstaaten
wie die deutschen Bundesländer wären. Das entspricht
weder dem Selbstverständnis der Union noch dem ihrer
Bürger. Das Bundesverfassungsgericht erfand deshalb im
Maastricht-Urteil den Ausdruck "Staatenverbund". Damit wird die
Zwitterstellung und Neuartigkeit der Gemeinschaft zum Ausdruck
gebracht.
Konventsentwurf ist die Vorlage
Was ändert sich mit dem Verfassungsvertrag? Wird dieses
Dokument, auf das sich die Staats- und Regierungschefs auf der
Grundlage des Konventsentwurfs geeinigt haben (die Ratifizierung
durch die Mitgliedstaaten steht noch aus) die Europäische
Union auf eine neue Stufe heben? Ist das die vielfach beschworene
Neugründung Europas? Ein nüchterner Blick zeigt: Versteht
man eine Verfassung als Grundordnung eines Gemeinwesens, dann ist
die Gemeinschaft längst verfasst. Die Verträge legen die
Kompetenzen der Organe fest, sie bestimmen das Zusammenwirken von
Mitgliedstaaten und Union. Sie geben dem ganzen einen Rahmen, der
viele Funktionen einer klassischen Verfassung erfüllt. Das ist
eine europäische Ordnung - auch wenn viele darin eher
Unordnung sehen. Einen Qualitätssprung gab es mit dem Vertrag
von Maastricht. Die Einigung auf eine immer enger werdende Union,
der Verzicht auf die Währungshoheit, das konnte als
Auflösung der Nationalstaaten verstanden werden. So waren auch
die Reaktionen: In den Staaten, in denen keine Volksabstimmungen
vorgesehen waren, da wurden sie gefordert. In Deutschland hielt das
Bundesverfassungsgericht den Maastricht-Vertrag für
zulässig. Es stellte aber klar: Unter dem deutschen
Grundgesetz müssen dem Parlament substantielle Rechte bleiben.
Eine Union, die sich selbst Kompetenzen schaffen könnte, in
der also die Mitgliedstaaten nicht mehr Herren der Verträge
wären, ist demnach verfassungswidrig.
Was folgt daraus für den Verfassungsvertrag? Zunächst
ist es ein Vertrag. Formal gesehen handelt es sich um die
nächste Vertragsänderung nach der von Nizza. Auch wird an
der Rolle der Mitgliedstaaten festgehalten. Nur sie sollen
bestimmen, was für Kompetenzen die Gemeinschaft erhält.
Die Union kann sich nicht selbst ermächtigen. Doch auch das
ist zunächst eine formale Betrachtung. Einen schleichenden
Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten zugunsten der Union hat es
auch schon früher gegeben. Die Kommission ist als Motor der
Gemeinschaft stets versucht gewesen, auf allen Feldern
mitzumischen, also etwa Gesundheitspolitik im Namen einer
Harmonisierung des gemeinsamen Marktes zu betreiben. Der
Europäische Gerichtshof hat sich als zuverlässiger
Wächter des Gemeinschaftsrechts, aber auch mitunter als
Grenzverletzer in Kompetenzfragen erwiesen. Daran wird sich nichts
ändern.
Wird Europa wenigstens transparenter und bürgernäher?
Zweifel sind angebracht. Der Verfassungstext ist keine leichte
Kost. Es ist sicher zuviel verlangt, wollte man die hochkomplexen
europäischen Verflechtungen, wie sie sich in den vergangenen
Jahrzehnten nun einmal herausgebildet haben, nun in 20 knappe
Artikel pressen. Man mag es bedauern, wie sehr sich der Artikelwust
unangenehm vom Gründungsdokument der Vereinigten Staaten von
Amerika unterscheidet - auch wenn sich die Gemeinsamkeiten beider
Gebilde in Grenzen halten. Transparenter ist die Union jedenfalls
kaum geworden, bürgernäher wohl auch nicht - obwohl genau
das vom Verfassungskonvent gefordert worden war. Einen
Kompetenzkatalog, wie ihn sich deutsche Politiker gewünscht
hatten, gibt es nicht. Andererseits ist durchaus das Bemühen
erkennbar, ein zentralistisches Monster zu verhindern, als das
mancher - nicht nur in Großbritannien - die EU ansieht. Doch
es ist nicht viel einfacher geworden zu verstehen, wer wofür
in der Union zuständig ist und auf welchem Wege die
Entscheidungen gefällt werden.
Vielfalt und Arbeitsfähigkeit
Demokratie war eines der Zauberworte, unter denen der
Verfassungskonvent angetreten war. Undemokratisch war die
Gemeinschaft freilich nie. Immerhin entschieden demokratisch
gewählte Regierungen. Und ein supranationales Gebilde kann
nicht im gleichen Maße die Vielfalt der Bürger abbilden
und repräsentativ sein wie ein nationales Parlament, ohne an
die Grenzen seiner Arbeitsfähigkeit zu stoßen. Nur wurde
die Legitimationskette zwischen Bürger und Entscheider immer
länger; wurden die Verantwortlichkeiten immer unklarer. Aber
gibt es nicht ein Europäisches Parlament? In der Tat, und man
findet kaum einen Politiker, der sich nicht für dessen
Stärkung ausspricht. Seine Mitentscheidungsmöglichkeiten
wurden kontinuierlich ausgeweitet. Für den Bürger bleibt
es gleichwohl problematisch, dass die europäische
"Volksvertretung" kein Initiativrecht zur Gesetzgebung hat. Zudem
gibt es - trotz aller Versuche einer Eindämmung - mehr Raum
für Mehrheitsentscheidungen. Im Grunde ist das zweifellos ein
urdemokratisches Prinzip, auf das schon der Vorspruch des
Verfassungsvertrages hinweist. Aber was für eine Folge hat es,
wenn etwa gegen den Willen der Bundesregierung in Brüssel
Regeln auf wichtigen Rechtsgebieten beschlossen werden, die vor
allem Deutschland betreffen? Da hilft auch das bis zum Schluss
heiß umkämpfte, aber keineswegs transparente Prinzip der
"doppelten Mehrheit" wenig.
Streit um den Gottesbezug
Symptomatisch für den Zustand Europas ist der Streit
über den (fehlenden) Gottesbezug in der Präambel der
Verfassung. Zu Recht stellten viele - vom Papst bis zu den
Grünen - die Frage nach den ethischen Grundlagen der
Gemeinschaft. Nur wer weiß, auf welchem Fundament er steht,
kann sinnvoll darüber entscheiden, wer noch alles zu Europa
gehören soll. Schon die jetzige Erweiterungsrunde hat deutlich
gemacht: Entgegen der offiziellen Propaganda ist die Aufnahme
vieler neuer oder andersartiger Mitglieder und die gleichzeitige
Vertiefung der Gemeinschaft kaum zu bewältigen. Zum anderen
war die Debatte über die religiösen Wurzeln Europas ein
bequemes Mittel, um sich nicht mit den komplizierten
institutionellen Veränderungen befassen zu müssen.
Das Gegenstück zur feierlichen Präambel ist die
Austrittsklausel. Sie gab es in den bisherigen Verträgen
nicht. Der nicht zuletzt auf Drängen der osteuropäischen
Neumitglieder eingefügte Passus zeigt eine neue
Nüchternheit. Auch bisher konnte natürlich niemand zum
Verbleib in der Gemeinschaft gezwungen werden. Aber der geordnete
Austritt ist neu. Er passt nicht so recht zu den Beschwörungen
einer auf ewig geschlossenen Schicksalsgemeinschaft.
In welcher Verfassung ist also Europa? Das neue Dokument
zeichnet das Bild einer institutionell gestärkten Organisation
mit einem für eine längere Zeit gewählten
Präsidenten des Europäischen Rates, einem
europäischen Außenminister und einem mächtigeren
Parlament. Ob der alte Kontinent dadurch gestärkt und
handlungsfähiger wird, wird der politische Praxis-test zeigen.
Auch die Verfassung ermöglicht ein Europa verschiedener
Geschwindigkeiten, nicht zuletzt in der Außen- und
Sicherheitspolitik.
Vor allem aber bleibt die Frage unbeantwortet, wohin Europa
treibt. Die Mitgliedstaaten haben die Finalität ihres Projekts
unbeantwortet gelassen. Dabei kann man genau das von einer
Verfassung erwarten. Von einer Neugründung Europas wird man
deshalb schwerlich sprechen können. Womöglich hat die
Verfassungsdebattte Aufschluss darüber gegeben, dass sich
"mehr Europa" nicht verordnen lässt. Denn das letzte Wort
nicht nur über diesen Vertrag, sondern auch über die
weitere Zukunft Europas haben die Parlamente und vor allem die
Bürger.
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