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Richard Szklorz
"Das haben wir von den Deutschen"
Wie die jungen Tschechen mit der deutschen
Vergangenheit umgehen
Noch immer tun sich tschechische politische
Eliten damit schwer, den 1945/46 vertriebenen deutschen Landsleuten
mit einer versöhnenden Geste entgegenzutreten. Gleichwohl gibt
es in der tschechischen Gesellschaft immer mehr Initiativen, die
sich der Vergangenheit des einst binationalen, von Deutschen und
Tschechen bewohnten Landes annähern. Spiegelbildlich zur
aktuellen deutschen Vertreibungsdebatte wird das Erbe "unserer
Deutschen", wie die Sudetendeutschen in Tschechien wieder
bezeichnet werden, nicht mehr tabuisiert, sondern zunehmend als
integraler Teil der Landesidentität begriffen.
Ein Unternehmer hat immer zu tun. Das gilt um
so mehr für einen Geschäftsmann der ersten Stunde wie
Zdenek Mateiciuc. Kurz nach dem Ende des Kommunismus gründete
er mit seinem Bruder eine Fabrik für Gummi- und
Plastikverarbeitung. Heute hat die Firma Mateiciuc fast 100
Angestellte. Ein Unternehmen durch die schwierige Zeit der
tschechischen Nachwendejahre zu bringen, erfordert täglich
vollen Einsatz. Dennoch fand Zdenek Mateiciuc genügend
Energie, sich zusätzlich einer weiteren Aufgabe zu widmen: Der
Aufarbeitung "blinder Flecken" in der neueren Geschichte seines
Städtchens Odrau.
Das Städtchen erhielt seinen alten
deutschen Namen nach der Oder, an dessen Oberlauf es liegt.
Unmittelbar nach Kriegsende wurden die in der Gegend seit
Jahrhunderten siedelnden Deutschen einem entwürdigenden, oft
brutalen Regime unterworfen, mittels der "Beneš-Dekrete"
enteignet und schließlich, im Frühjahr 1946, in
Güterwagons verfrachtet und nach Deutschland transportiert.
Ähnlich wie in vielen anderen Regionen der böhmischen
Länder, kam es auch hier innerhalb von wenigen Monaten zu
einer fast vollständigen Bevölkerungsumsiedlung- und
Neuansiedlung. Alles, was an die früheren deutschen Bewohner
erinnerte, wurde ausgemerzt. Die meisten tschechischen Neusiedler
wussten nichts von der Vergangenheit der Gegend, die nun unter der
Orts- bezeichnung Odry ihr neues Zuhause werden sollte.
Mateiciuc, erst kurz nach dem Krieg 1946
geboren und zudem Sohn eines tschechischen Neusiedlers,
bräuchte sich nicht um die Vergangenheit kümmern. Er
könnte sich leicht auf den Standpunkt stellen, dass er mit den
Ereignissen, die sich zur Zeit seiner Geburt abspielten, nichts zu
tun habe. Oder, dass die Vertreibung sowieso eine gerechte Strafe
für den Besatzungsterror der Nazis gewesen sei - womit er sich
mit einem Teil seiner Mitbürger durchaus einig
wäre.
Dass sich viele Sudetendeutsche dazu
hinreißen ließen, der Deutschen Wehrmacht zuzujubeln, als
diese im Herbst 1938 in die Tschechoslowakei einmarschierte,
rechtfertigt für Mateiciuc dennoch nicht die späteren
Vertreibungen der Deutschen: "Viele von ihnen haben es sehr schnell
bereut. Und wenn ich an die vielen Tschechen denke, die die
kommunistische Diktatur befürwortet haben. Nach 1989 wurden
sie dafür auch nicht aus ihrer Heimat verjagt."
Schon in seiner Jugend fielen ihm die
deutschen Ladeninschriften auf, die trotz mehrfacher
Nachkriegsübertünchung immer wieder durchschimmerten oder
die immer noch zahlreichen deutschen Grabsteine auf dem Friedhof.
Die Frage, was es für Menschen waren, die einst in diesem Ort
wohnten, ging ihm früh durch den Kopf. "Außerdem hatte
ich Freunde, die eine deutsche Mutter oder einen deutschen Vater
hatten, die wegen des tschechischen Elternteils aber nicht in den
Transport nach Deutschland mussten. Wenn ich sie zu Hause besuchte,
sah ich bei ihnen Tassen, Teller und Geschirrtücher mit
deutschen Sinnsprüchen darauf." Jedes tschechische Kind, das
in der Nachkriegszeit in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten
aufwuchs, kannte den Satz: "To máme po Nemcích" - "Das
haben wir von den Deutschen". Das konnte alles mögliche sein:
Küchengeschirr, Betten, ein Fahrrad, der Kinderschlitten,
kurzum das komplette Inventar eines Hauses. Denn alles bis auf 30
Kilo mussten die Deutschen zurücklassen.
Die zurückgebliebenen Sachen, die man
bis heute findet, machen Geschichte lebendig und wirken in die
Gegenwart. Vor allem die junge tschechische Akademikergeneration
öffnet sich in ihren Arbeiten der tabuisierten Vergangenheit,
wie zum Beispiel Jan Cibulka, Student der Politischen
Wissenschaften an der Universität Olmütz. Vor einiger
Zeit verfasste er eine gut recherchierte, viel beachtete Studie
über die Repression gegen die deutsche Bevölkerung in
seiner Region. Gefragt nach seiner Motivation, antwortete er, dass
es eigentlich die Wanduhr gewesen sei, die seit vielen Jahren im
Haus seiner Eltern hängt und von der es immer hieß, man
habe sie "von den Deutschen". Der tägliche Blick auf die Uhr
habe bewirkt, dass er irgendwann anfing, sich für diese
Menschen und die dramatischen Umstände ihres Verschwindens zu
interessieren.
Viele Jahrzehnte waren die vertriebenen
Sudetendeutschen in Tschechien mit Nichtbeachtung oder mit dem
Stigma der ewigen Revanchisten belegt. Auch die wenigen im Lande
verbliebenen deutschen Bürger wurden diskriminiert,
eingeschüchtert und angehalten, ihre Identität zu
verbergen. "So als ob es sie bei uns nie gegeben hätte", sagt
die Prager Journalistin und Germanistin Martina Schneibergová.
In der Vorwendezeit, in der sie ihr Germanistikstudium absolvierte,
war es ein Tabu, sich mit den Deutschen der böhmischen
Länder und deren Kultur zu beschäftigen, obwohl sie bis
1945 fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und
wirtschaftlich, kulturell und politisch eine sehr wichtige Rolle
spielten.
Längst haben aber auch die tschechischen
Germanisten entdeckt, dass es in ihrem Land nicht nur die Prager
deutsche Literatur gab, mit der so berühmte Namen wie Franz
Kafka, Franz Werfel, Max Brod oder Rainer Maria Rilke in Verbindung
gebracht werden. Die Palacký-Universität in der alten
nordmährischen Stadt Olomouc/Olmütz hat sich mit ihrem
"Zentrum zur Erforschung deutschsprachiger mährischer Autoren"
zum Vorreiter dieser Rückbesinnung gemacht. Dabei ging es
nicht nur darum, die mährische Verwurzelung etwa einer so
bedeutenden Schriftstellerin wie Marie von Ebner-Eschenbach bewusst
zu machen. Auch weniger bekannte wurden dem Vergessen entrissen.
Die Tätigkeit der Olmützer Abteilung stößt
nicht immer auf Gegenliebe. "Es gab sogar einen Brief, in dem wir
beschuldigt wurden, tschechischen nationalen Interessen untreu zu
sein", sagt die Leiterin, die Germanistikprofessorin Ingeborg
Fialová-Fürst.
Aber auch Volkskunst kann helfen, Wunden zu
heilen. Auf beiden Seiten. Das gilt insbesondere für die
Musik- und Tanzgruppe Stázka aus dem westböhmischen
Teplá/Tepl, die bewusst mit dem Volksmusikmaterial der aus
dieser Region verschwundenen Deutschen arbeitet, manchmal unter
Verwendung des schon fast ausgestorbenen deutschen Dialekts,
häufiger noch mit eigenen, tschechischen Texten und neuen
Stilelementen. Unzählige Projekte, die aus der engen
Zusammenarbeit von Vertriebenenvereinen und von Bürgern und
Gruppen in Tschechien entstanden sind, haben die Menschen
näher gebracht. Vom Erfolg dieser "Volksdiplomatie" zeugen
restaurierte Kirchen, historische Gebäude, Friedhöfe,
Gedenksteine zum Nutzen der teils durch das Verschwinden der
ursprünglichen Bevölkerung immer noch geschädigten
Landschaften.
Dennoch wäre es übertrieben, schon
von einem gesellschaftlichen Trend zu sprechen. Noch ist es vor
Wahlen in Tschechien gang und gäbe, mit antisudetendeutschen
Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen. Andererseits steht das
heute ethnisch fast "reine" Tschechien vor dem Dilemma, auf die
Geschichte eines einst binationalen Landes zurückzublicken.
Vom sensibleren und geschichtsbewussten Teil der tschechischen
Gesellschaft wird das inzwischen als eine Chance verstanden, sich
mit einem vielschichtigen kulturellen Erbe auseinander zu setzen,
es zu pflegen und sich von ihm bereichern zu lassen. Dabei geht es
nicht nur um Wanduhren, alte Fotos oder Kinderschlitten, sondern um
das Überdenken des eigenen tschechischen
Selbstverständnisses, das sich über Generationen hinweg
ethnisch, ja geradezu spiegelbildlich nach deutschem Muster des
späten 19. Jahrhunderts völkisch definierte und die
komplizierte und eigentliche Verwobenheit beider Gruppen
ignorierte. Im Grunde stehen die Tschechen vor der nicht einfachen,
aber kreativen Aufgabe, sich neu zu erfinden. Oder in der
früher gängigen Haltung zu verharren, die so tat, als
hätte es die Deutschen in ihrem Land nie gegeben.
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