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101/1999
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HERZOG PLÄDIERT FÜR MEHR DIREKTEN EINFLUSS DER BÜRGER

Berlin: (hib) Der Staat muß sich den Bürgern als "Beteiligungsstaat" präsentieren. Dann habe er es auch nicht mehr nötig, sich durch die - am Ende doch nicht haltbaren - Versprechen eines perfekten "Versorgungsstaates" Zustimmung zu erkaufen. Das betonte Bundespräsident Roman Herzog heute beim Staatsakt anläßlich des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland im Berliner Reichstagsgebäude. Er könne sich durchaus mehr direkten Einfluß der Bürger vorstellen, etwa das Kumulieren und Panaschieren der Wählerstimmen auch bei Bundes- und Landtagswahlen, die Ausweitung von Direktwahlen von Bürgermeistern sowie die Verstärkung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden zumindest auf kommunaler Ebene. In diesem Zusammenhang hob der Bundespräsident hervor, daß es nicht nur eine individuelle Freiheit gebe. Frei könne man nur gemeinsam sein. Freiheit funktioniere nicht, wenn der einzelne immer nur Rechte für sich in Anspruch nehme und immer mehr Verantwortung den anderen aufbürde, sei es nun dem Staat oder der Gesellschaft. "Ohne den Einsatz des einzelnen für die Gemeinschaft ist auf die Dauer jedes Gemeinwesen überfordert". Zur Freiheit gehöre auch, die Folgen des eigenen Handelns selbst zu verantworten, was heute nicht immer ganz klar zu sein scheine. Es müsse Schluß damit sein, die unangenehmen Folgen "unseres Tuns zu sozialisieren, über die nützlichen aber privat zu verfügen". Die Politiker und die Medien forderte Herzog auf, sich einer klaren Sprache zu bedienen, die Gegensätze nicht verschleiere, sondern echte Handlungsalternativen aufzeige: "Wer politische Gegensätze durch Kungelei im Hinterzimmer lösen will, schadet dem Vertrauen in unserer Demokratie."

Nach den Worten Herzogs stehen Demokratie und Freiheit heute vor zwei großen Herausforderungen, und zwar vor der Frage, wie in einer sich globalisierenden Wirtschaft auch künftig Wohlstand geschaffen werden könne, und wie dabei das Ziel der Gerechtigkeit zu wahren sei. Die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik sei auch eine Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft gewesen. Diese sei jedoch nicht etwas Statisches, sondern müsse immer wieder an die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung angepaßt werden. Sie verlange ein Regelwerk, das ein Gleichgewicht der Kräfte organisiert, den Wettbewerb vor "dominierenden Monopolen" schützt und der Sozialbindung des Eigentums Rechnung trägt. Wolle man das soziale Netz "halbwegs behalten", müsse man wieder besser sein als die anderen. Die Sozialsysteme würden aber geschwächt, so der Bundespräsident, wenn der Staat beginne, sich die politische Zustimmung seiner Bürger dadurch zu erkaufen, daß er mit einem Geflecht direkter und indirekter Subventionen "praktisch jeden zum Empfänger irgendeines Sozialtransfers macht". Ziel müsse es immer bleiben, die Menschen so zu stärken, daß möglichst viele nicht auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind.

Herzog erinnerte in seiner Rede an die Gründerzeit der Republik, in der nicht nur die Städte in Ruinen gelegen hätten, sondern auch das Land "moralisch zerstört" und "von der Welt geächtet" gewesen sei. Aber das deutsche Volk habe aus der Erfahrung von Unfreiheit, Inhumanität und Diktatur gelernt. Nach der Wiedervereinigung und dem Umzug des Bundestages nach Berlin stehe der Reichstag für Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle. Zum ersten Mal in seiner Geschichte lebe Deutschland mit allen Nachbarländern in freundschaftlichen Beziehungen und fühle sich als "Triebfeder eines friedlich zusammenwachsenden Europas". Die Erfahrungen aus der Geschichte müßten so gut wie möglich an die kommenden Generationen weitergegeben werden. Dies sei zwar schwer, da mit den Generationen sich auch Wahrnehmungen und Erinnerungen veränderten. Es müsse jedoch eingefordert werden, daß die Erfahrungen und nicht zuletzt die aus Irrtümern und Fehlern gewonnenen Erfahrungen, "von den nach uns Kommenden zur Kenntnis genommen werden". Nur so entstehe kollektive Erinnerung, ohne die es weder nationale Identität noch nationale Verantwortung gebe.

In seiner Rede ging der Bundespräsident auch auf die deutsche Außenpolitik ein. Über aller Tagesaktualität dürfe nicht vergessen werden, daß die letzten zehn Jahre eine insgesamt "tiefgreifende Wende" gebracht hätten. Es sei gelungen, die deutsche Einheit mit dem Einverständnis der Nachbarn zustandezubringen und das "tief verwurzelte Mißtrauen" gegenüber diesem "großen Land in der Mitte Europas" zu überwinden. Die Veränderungen seien aber noch tiefer gegangen. So sei der Einsatz für die Menschenrechte zu einem "zentralen Leitmotiv" der deutschen Außenpolitik geworden. Der zentrale Satz des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" müsse auch jenseits der Landesgrenzen gelten, und eine auf lange Sicht angelegte Außenpolitik müsse die Idee der Freiheit "zur zentralen Botschaft Europas für die Welt" machen. Mit Blick auf das Kosovo betonte Herzog, es reiche nicht, Menschenrechte nur zu fordern. Sie müßten auch tatsächlich verwirklicht und im Extremfall durchgesetzt werden. Abschließend ging der Bundespräsident auf seine nun zu Ende gehende Amtszeit ein, in der er "unser Land so in seiner ganzen Vielfalt gesehen" habe, wie es anderen vielleicht nicht vergönnt sei. Die Begegnung mit den Menschen des Landes stimme ihn zuversichtlich. Das kommende Jahrhundert werde einer Generation gehören, die "tüchtig, weltoffen und tolerant ist". Einer Generation, die ihre Vergangenheit annehme und gerade deshalb selbstbewußt in die Zukunft gehe.



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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/hib/1999/9910101
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