Bundestagspräsident Thierse: Über die Zukunft Ostdeutschlands neu nachdenken
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält es für
notwendig, über die Zukunft Ostdeutschlands neu nachzudenken.
In einer Rede vor der Industrie- und Handelskammer zu Schwerin (22.
Januar, 17 Uhr, Mecklenburgisches Staatstheater) geht er dazu auf
eine Reihe von Vorschlägen ein und stellt fest: "Entgegen
mancher Ratlosigkeit gibt es meines Erachtens Chancen, die
wirtschaftlichen Probleme zu meistern". Im Verlauf seiner Rede
führt Bundestagspräsident Thierse aus:
"Die IHK zu Schwerin lädt zum Jahresempfang ins Theater, ins
"Staats-theater" wohlgemerkt. Da kommt man doch ins Grübeln.
Versteckt sich hinter der Entscheidung fürs Theater ein
Fingerzeig auf die neue Bühnenreife von Politik, auf das
schauspielerische Talent, das Politikern zugeschrieben wird? Ich
hoffe es nicht. Erwarten Sie bitte kein Polit-Entertainment von
mir. Ich will nur - und zwar ziemlich ernsthaft - zu dem mir
aufgetragenen Thema sprechen. Einem Thema, dem es an Dramatik nicht
gerade mangelt, dem Aufbau Ost. Wie steht es um die Zukunft der
neuen Länder? Welche politischen Konzepte sind geeignet, die
Struktur- und Wirtschaftprobleme des Ostens zu lösen? Und -
grundsätz-licher noch: Sind wir in Ostdeutschland - gemessen
an den Herausforderungen des europäischen Einigungsprozesses -
schon auf dem richtigen Weg?
Diese Fragen sind alles andere als "theoretisch", "abstrakt",
vermessen. Sie zielen auf das politische Konzept, das dem Aufbau
Ost zugrunde liegt. Und sie zielen auf das Selbstverständnis
der politischen Akteure - im Bund, in den Ländern, in den
Kommunen.
Nach zwölf Jahren des Aufbaus ändert sich unweigerlich
der Deutungsrahmen. Bisher haben wir von Übergangsproblemen
gesprochen, haben auf Alt- und Erblasten der DDR verwiesen. Bislang
galt, dass die Entwicklung Ostdeutschlands sich allmählich,
aber zwangsläufig auf westdeutsches Niveau zu bewegt. Wir
hatten uns angewöhnt, den Stand der deutschen Vereinigung am
Fortschritt der ostdeutschen Anpassung an westdeutsche Standards zu
messen.
Wir pflegten im Grunde genommen - um es mit einem Wort von Richard
von Weizsäcker zu sagen - eine "Utopie des Status quo":
Für den Osten war es ein ehrgeiziges Ziel, für den Westen
ein teures Unterfangen. Der Import des "Modells (West-)Deutschland"
bedeutete Orientierung auf der einen, der Export ein unverhofftes
Maß an Selbstbestätigung auf der anderen Seite.
Uneingeschränkt kann gelten: Der Aufbau einer
parlamentarischen Demokratie, rechtsstaatlicher Verwaltungen und
einer unab-hängigen Justiz nach dem westdeutschen Muster sind
ein Erfolg. Diese Vorgabe verschaffte uns politische und rechtliche
Stabilität. Der Vorrang von Kontinuität sicherte uns die
westdeutsche Bereitschaft, sich auf das kaum noch erwartete
Experiment der deutschen Vereinigung einzulassen und den Osten mit
außerordentlichen Leistungen zu unterstützen. Das nicht
dankbar anzuerkennen, wäre schlichte Ignoranz.
Im Vergleich zur politischen sieht die ökonomische Bilanz
proble-matischer aus. Nach dem wirtschaftlichen Kollaps entwickelte
sich die ostdeutsche Wirtschaft von 1992 bis ins Jahr 1995 hinein
mit zweistelligen Wachstumsraten. In diesem Zeitraum schien also
das Konzept einer nachholenden, zuweilen nachahmenden
Modernisierung auch wirtschaftlich aufzugehen. Seitdem aber kam der
Aufholprozess nicht nur zum Erliegen, der Osten ist seit 1997
gegenüber dem Westen sogar wieder zurückgefallen.
Lassen Sie es mich ungeschminkt sagen: Die strukturelle
Schwäche der Wirtschaft der neuen Länder ist derart
groß, dass sie selbst in einer konjunkturellen
Aufwärtsphase nicht mit der in den alten Bundesländern
mithalten konnte. Seit dem Abschwung im Jahr 2001 ist das
ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt zum ersten Mal seit zehn Jahren
rückläufig: Minus 0,6% im ersten Halbjahr 2001, also
über zwei aufeinanderfolgende Quartale, erfüllen den
Tatbestand der Rezession. Die weltweite Konjunkturkrise 2001 wirkt
sich gewiss auch auf die westdeutsche Wirtschaft aus. Dass wir 2001
den niedrigsten Anstieg des Bruttoinlandsproduktes seit 1993
verzeichnen, liegt aber auch an der Entwicklung im Osten. Die
Schere zwischen Ost und West geht weiter auseinander. Von einem
Angleichungsprozess kann keine Rede mehr sein. Die Hoffnung auf
schnelle Angleichung hat sich als Illusion erwiesen.
Wenn Wunschvorstellungen, besser: unsere Zeitvorstellungen
scheitern, muss man sich von ihnen verabschieden. Dennoch muss dies
kein Abschied von den Zielen sein. Wenn wir uns einig sind, dass
der große Abstand zwischen Ost und West auf Dauer nicht
hingenommen werden darf, dann ist es wohl an der Zeit, über
die Zukunft Ostdeutschlands neu nachzudenken.
Doch mit Verlaub: Wir tun uns schwer damit. Die Probleme springen
ja auch nicht jedem sofort ins Auge. Viel hat sich in den
ostdeutschen Ländern verändert. Die Tiefe des
gesellschaftlichen Wandels verschwindet unter einer
Oberfläche, die dem Westen immer ähnlicher wird. Das
Straßenbild zeigt renovierte Fassaden, bekannte Reklame,
volle Auslagen, notorischen Parkplatzmangel. Das ist in Prenzlauer
Berg nicht anders als in Rostock oder Schwerin. Auf der Suche nach
dem Osten mag der Westbesucher erst an der Sprache, der Art des
Umgangs, vielleicht am selten freundlichen Ton fündig werden.
Manch ein Besucher meint, nur die Menschen passen noch nicht ins
vertraute Bild.
Uns Ostdeutsche, das haben wir inzwischen eingesehen, verbindet die
Geschichte mehr, als uns selbst manchmal lieb ist. Der Kern der
ostdeutschen Identität, eine ausgeprägte Betonung von
Gleichheit und Gerechtigkeit, gilt nicht selten als unmodern, als
"mentales Problem". Ich sehe das anders. Die in der ostdeutschen
Gesellschaft ausgebildeten Kulturmuster sind kein Zukunftshemmnis
schlechthin - die gemeinschaftsbezogenen Einstellungen der
Menschen, ihre tragfähigen, nicht nur ökonomisch
begründeten "Beziehungsnetze", ihr Improvisationstalent. Ich
sehe in diesen Kulturmuster eine soziale und eine mentale
Kompetenz.
Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen, unter denen die
Verklärung der DDR die harmlosere ist. Gefährlicher ist
die Tatsache, dass egalitäre Orientierungen auch
Konformitäts-erwartungen erzeugen, die nicht nur soziale
Unterschiede schwer ertragen, sondern auch kulturelle Differenzen
in Lebensform und Wertorientierung. Geschichtsblindheit,
Fremdenhass, Nationa-lismus, rechtsextremistische Gewalt
können zum größten Hindernis für die Zukunft
Ostdeutschlands werden.
Manchmal wird diese Reaktion als Ausdruck des Mangels an
Perspektiven gedeutet. Darauf werde ich mich nicht einlassen.
Einlassen müssen wir uns auf die Tatsache, dass immer mehr
junge, gut qualifizierte, ehrgeizige Menschen ihre Zukunftschancen
in den alten Ländern oder im Ausland sehen. Die zunehmende
Abwanderung aus Ostdeutschland - im Jahr 2000 ist sie per Saldo um
fast 50% auf 61.000 gestiegen - ist ein Alarmsignal.
Offensichtlich steht der Osten für viele junge Menschen nicht
für Zukunftsperspektive. Auf dem Spiel steht aber nicht nur
das Vertrauen der kommenden Generation bei uns, sondern das
Gelingen des Vereinigungsprozesses insgesamt. Ein
zurückbleibender Osten mag zu schwach sein, diese Republik zu
gefährden, beschädigen kann er sie durchaus.
Die von mir vor einem Jahr angeregte Debatte zur aktuellen Lage
Ostdeutschlands ist bei einer Aufrechnung von Licht und Schatten
stehen geblieben. Die Frage, wie die Dynamik des Aufbaus
wiederbelebt werden kann, haben wir noch nicht beantwortet.
Das Bild von der "Kippe" bezeichnet einen kritischen Punkt. Dieser
ist erreicht, wenn Rückstände in bleibende
Rückständigkeit umzuschlagen drohen, wenn das
Zurückbleiben das Image der Region und die Balance der
Gesellschaft prägt und die Fortschritte zu überlagern
beginnt. Das heißt nicht, dass der Absturz schon erfolgt ist
oder man sich mit ihm abfinden müsste.
Aus meiner Sicht müssen die Weichen im Osten neu gestellt
werden. Damit rede ich keinen Schnellschüssen das Wort,
sondern einem Lernprozess. Weil es keine monokausalen
Erklärungen für die Probleme gibt, gibt es auch keine
Lösung an sich, aber viele Beiträge, keinen
Königsweg, aber richtige Schritte.
Zunächst: Worüber reden wir, wenn wir über die
Zukunft Ostdeutschlands gesondert sprechen? Seit Mitte letzten
Jahres liegen die Rahmendaten, der amtliche Horizont für die
Zukunft Ostdeutschlands im vereinten Deutschland vor. Es ist das
Jahr 2020. So lange rechnen Bund und Länder im
Länderfinanzausgleich und Solidarpakt II mit ostdeutschem
Nachholbedarf, mit teilungsbedingten Nachteilen. Was bedeutet
das?
Das bedeutet: Die vor uns liegende Wegstrecke wird länger als
die hinter uns liegende. Wir brauchen mehr Zeit und tun folglich
gut daran, uns politisch darauf einzurichten und die
gesellschaftlichen Konsequenzen zu bedenken.
Eine noch zwanzig Jahre dauernde "Aufholperiode" ist eine lange
Zeit. Sie überfordert die Lebensplanung des Einzelnen. Diese
Aussicht allein bietet noch keine Anreize zum Bleiben. Zu einer
akzeptablen Zeit des Übergangs wird diese Periode nur, wenn
sie selbst schon verfügbare Zukunft ist. Das heißt, nur
wenn sie Chancen der eigenen Gestaltung eröffnet, wenn sie
Handlungsfrei-heit bietet, Eigenverantwortung herausfordert und
Möglichkeiten aktiver Identifikation mit Land und Leuten
bereithält.
Deshalb entscheidet sich nicht erst um 2020, also mit dem
Ausscheiden der noch in der DDR aufgewachsenen Menschen aus dem
Erwerbsleben, der Erfolg der nunmehr so genannten
Generationen-Aufgabe Aufbau Ost. Der Erfolg des Unternehmens
hängt vom gegenwärtigen Generationen-Übergang ab,
also von der gelingenden Integration der kommenden starken
Generation der vor dem "Geburten-Knick" Geborenen.
Die Stichworte für die Zukunftsfähigkeit des Ostens sind
also "mehr Chancen, höhere Eigenverantwortung, gelingende
Integration der kommenden Generation". Nichts davon ist
"ostspezifisch", aber alles hängt davon ab.
Ich denke, diese drei Stichworte für die
Zukunftsfähigkeit verweisen uns direkt auf die drei
großen Herausforderungen der Zukunftsgestaltung: Erstens
haben wir neu nachzudenken über die Demokratiegestaltung in
Ostdeutschland, über die wirkliche Aneignung und Nutzung
demokratischer Institutionen. Zweitens ist dringend die Frage zu
diskutieren, wie in der zweiten Phase des Aufbau Ost eine echte
wettbewerbs- und zukunftsfähige Wirtschaft geschaffen werden
kann. Und drittens ist zu überlegen, wie Ostdeutschland
beides, politische Stabilität und wirtschaftliche
Prosperität, nicht trotz, sondern vermittels des
europäischen Einigungsprozesses fördern kann.
Erstens, zur Demokratiefrage. Sie stellt sich auf den ersten Blick
nur dem Politiker. Aber auch Investoren fragen schon einmal nach
stabilen rechtlichen Rahmenbedingungen. Ich meine damit den Zustand
der Gesellschaft, ihre Fähigkeit zum Wandel und Ausgleich,
Innovation und Gerechtigkeit, zur Selbstregulation ihrer Konflikte
und Entfaltung ihrer Potentiale.
Das bisher dominierende Prinzip des Aufbau Ost - nämlich
Alimentierung statt Selbstorganisation - führte in vielen
Bereichen zur Blockade selbsttragender Prozesse, zu einer
Lähmung von Initiative und Kreativität. Die neue
Zukunftsdebatte Ost muss nicht nur auf die Reform vorhandener
Institutionen zielen, sondern damit auch Verfahren verbinden, die
Passivität und Lähmung überwinden. Die Freisetzung
blockierter Selbstorganisation sehe ich als das wichtigste Moment
für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft im
Osten.
Der Sinn und Zweck von demokratischen Institutionen ergibt sich aus
der Fähigkeit, sie anzuwenden. Passiv übernommene Regeln
und Gesetze, die sich als nicht passfähig zu den
Verhältnissen oder lähmend für Engagement erwiesen
haben, gehören auf den Prüfstand.
Helmut Schmidt hat vor einiger Zeit gefordert, die Fülle der
für den Osten lähmenden Richtlinien und Paragraphen zu
lichten. Das könnte es sein - aber nur, wenn dies nicht
wiederum von oben, sondern von unten, nach Maßgabe der
Verhältnisse vor Ort und auf Initiative der Gremien und
Akteure vor Ort geschieht. Das heißt: Deregulierung, wo es
den Akteuren hilft. Neue Regeln, wo die Verhältnisse
strukturelle Benachteiligungen darstellen.
Wo der Geist einer Bürgergesellschaft lebendig ist, wo
freiwillige Kooperation und regionale Netzwerke funktionieren - das
so genannte soziale Kapital der Bevölkerung - gedeiht auch
Unternehmergeist, wächst der Mut zur Selbständigkeit.
Dieses soziale Kapital - das beweist die Geschichte - ist kein
politisch-kultureller Schnörkel der Demokratie, sondern das
Unterpfand freier wirtschaftlicher Entwicklung.
Heute hängt für den Osten viel davon ab, dass sich
wirksame Interessenvertreter und Netzwerke der Kooperation
entwickeln und profilieren. Das ist eine Aufgabe neu zu
schaffender, aber auch bereits etablierter Organisationen - wie
Ihrer Kammer, der Verbände, Parteien, Gewerkschaften,
Kulturträger. Wichtig ist, regionale Foren zu schaffen, die
ihr Gewicht in überregionalen Fragen einsetzen
können.
Alle Formen der Selbstorganisation, von der Bürgerbeteiligung
bis zum Interessenverband, ermöglichen Lernprozesse. Diese
führen aber nur weiter, wenn sie vermittelt werden - nach
innen wie außen. Selbstorganisierte Formen der
"Bürgerarbeit" brauchen wie die demokratischen Institutionen
gelegentlich professionelle Hilfe und wissenschaftliche Begleitung,
am Ende Öffentlichkeit und Einfluss auf Entscheidungen. Zu
viel Kreativität und Phantasie ist brach liegen geblieben bei
dem Versuch, jeweils nur zu kopieren, was im Westen funktioniert.
Wenn die Politik mehr Eigenver-antwortung, eine neue
Mündigkeit fordert, wenn die Menschen nicht mehr darauf warten
sollen, dass alles von oben und von anderen geregelt wird,
heißt das - statt Resignation oder Larmoyanz zu pflegen -
Selbstbehauptung zu üben! Mut, demokratisches Engagement sind
in den neuen Ländern gefragt - mehr denn je.
Nun zur zweiten, für Ihren Alltag eigentlichen
Herausforderung, dem Aufbau einer wettbewerbsfähigen
Wirtschaft: Wie kann die Wirtschaftskraft im Osten derart wachsen,
dass Subventionen überflüssig werden? Dies ist, das
brauche ich hier nicht zu betonen, die andere entscheidende
Zukunftsfrage.
Für einen "Zweiten Anlauf" für die ostdeutsche Wirtschaft
ist das positive Signal des Solidarpakt II ein wichtiger Pfeiler.
Dieses allein reicht aber nicht aus. Es ist ein Fundament.
Zusätzlich braucht es Impulse, um den Entwicklungsprozess
wieder zu beleben - und eine auf lange Sicht konzipierte Struktur-
und Standortpolitik.
Viele der Vorschläge, die ich zu unterbreiten habe, sind so
oder anders durchaus schon im Gespräch. Sie zu wiederholen,
schadet nicht. Denn entgegen mancher Ratlosigkeit gibt es meines
Erachtens Chancen, die wirtschaftlichen Probleme zu meistern, wenn
man sich auf einige Grundsätze verständigt und
konzentriert:
Erstens: Wir müssen uns auf realistische Ziele
orientieren.
Der entscheidende Indikator für die ökonomische
Leistungsfähig-keit ist das reale Bruttoinlandsprodukt je
Einwohner. Ostdeutsch-land lag 1991 bei etwa 30 Prozent und seit
1996 mehr oder weniger unverändert bei etwa 60 Prozent des
westdeutschen Niveaus. Anzustreben wäre zumindest ein Niveau
von 80 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts pro
Einwohner in den nächsten 10-15 Jahren.
Eine realistische Zielstellung bedeutet allerdings nicht den
Verzicht auf "Angleichung" oder besser "Aufholen" - denn dies
hieße, Ostdeutschland ökonomisch aufzugeben, einer
"passiven Sanierung" das Wort zu reden! Diese würde
gesamtwirtschaftlich teurer. Arbeit zum Kapital zu bringen, statt
Kapital zur Arbeit macht die Infrastruktur - Schulen,
Straßen, Wohnungsbestände - zu teuren
Überkapazitäten, nachdem sie hier gerade mit viel Geld
modernisiert wurden.
Zweitens: Öffentliche Investitionen vorziehen.
Das festgestellte Infrastrukturdefizit des Ostens muss schneller
als geplant behoben werden. Neben Verkehr und kommunalen Diensten
gibt es bei Schulen, Hochschulen und Forschungseinrich-tungen den
größten Nachholbedarf. Solche Investitionen lägen
auch auf der Linie einer aktiven Strukturpolitik in Richtung
Forschung und Technologie.
Aber auch die Kommunen müssen in der Lage bleiben, ihre
Substanz zu erhalten. Damit sie trotz Finanznot als lokale und
regionale Auftraggeber agieren können, sollten Vorschläge
zur kommunalen Infrastrukturförderung durch Bund, Länder
und Mittel der Bundesanstalt für Arbeit aufgegriffen werden.
Diese zielen darauf ab, sowohl Infrastrukturinvestitionen, als auch
Arbeitsplätze für die Zielgruppen der gegenwärtigen
Arbeitsförderung zu schaffen.
Drittens: Weiter Investoren für Ostdeutschland gewinnen -
durch Standortprofilierung.
Angesichts der Ertragsschwäche ostdeutscher Unternehmen ist
ein selbsttragender Aufschwung aus eigener Kraft undenkbar.
Ostdeutschland braucht mehr Großunternehmen. Sie sind Motor
für Zulieferer, für regionale Wertschöpfungsketten,
für Export und für Innovation.
Die Profilierung von Wachstumsregionen als Investitionsmagneten
erfordert aber auch den Abschied von der Vision einer
gleichmäßigen Entwicklung aller. Gefördert werden
sollten mehr regionale Branchennetzwerke, die sich zu Clustern oder
Kompetenzzentren zusammenschließen. Diese können sich
dadurch Vorteile beim Ressourcenmanagement, beim Einkauf und bei
der Vermarktung verschaffen. Sie können sich eine
ständige Management-Beratung und Ausbildungsinfrastruktur
leisten. All das wirkt als Standortfaktor für neue
ansiedlungswillige Unternehmen. Ein besonders erfolgreiches
Beispiel ist das Kompetenzzentrum Mikroelektronik in
Frankfurt/Oder, die Grundlage für die angekündigte
Ansiedlung einer neuen Chip-Fabrik. Die Erfahrungen mit anderen
Branchennetzwerken sind ebenfalls durchweg ermutigend, wie eine
Studie aus Brandenburg belegt. Die Wirtschafts- und
Technologieförderung haben sich mit den Programmen InnoRegio
und InnoNet bereits in dieser Richtung erfolgreich bewegt.
Viertens: Wissenschaft und Forschung ausbauen.
Die Strukturpolitik muss an Vorhandenem anknüpfen - neben den
regionalen Wachstumspolen - an den Potentialen der Hochschulen und
Forschungszentren.
Greifswald, Rostock und Wismar haben wegen geringerer
Studentenzahlen immerhin bessere Studienbedingungen, kürzere
Studienzeiten und niedrigere Abbrecherquoten.
Die Hochschulen stehen an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und
Forschungssystem, aber auch an der zwischen Wirtschafts- und
Beschäftigungssystem. Hier wird wertschöpfungsrelevantes
Wissen erzeugt und Beschäftigungsfähigkeit hergestellt.
Politisch werden sie aber nur über die erste Schnittstelle
gesteuert. Für die regionale Strukturpolitik stellen sie so
etwas wie einen Umweltfaktor dar. Hochschulpolitik muss aber ein
Element der regionalen Strukturpolitik werden, weil es für
Ostdeutschland nach den Versuchen der Wiederbelebung industrieller
Kerne vor allem ein zukunftsträchtiges Leitbild gibt: die
mittelständisch geprägte innovative Region. Diese braucht
intelligente und innovative Kapazitäten,
Gründerpersönlichkeiten und Spitzenqualifikationen -
Angebote, für die unsere Hochschulen zuständig
sind.
Fünftens: Niedriglöhne und Produktivität
schließen einander aus.
Ostdeutschland ist vergleichsweise immer noch - und für viele
kleine und mittlere Unternehmen oft notwendigerweise -
Niedrig-lohngebiet. Langfristig und grundsätzlich hat es als
Niedriglohn-gebiet jedoch keine Chance, weil eine Wirtschaft, die
auf moderne Technologien setzt, damit unvereinbar wäre. Die
Abwanderung von Fachkräften würde zunehmen, eine
Produktivitätsangleichung käme nicht zustande, und im
Wettbewerb mit den osteuropäischen Niedriglohn-anbietern haben
ostdeutsche Unternehmen schon heute die schlechteren Karten.
Sechstens: Den ökologischen Strukturwandel für den
ländlichen Raum nutzen.
Mecklenburg-Vorpommern besitzt schon einen großen Anteil
ökologisch bewirtschafteter, landwirtschaftlicher
Nutzfläche, weil hier Großbetriebe auf ökologischen
Landbau umgestellt wurden. Es fehlt aber an Verarbeitungs- und
Vertriebskapazitäten. Die Agrar-wende sollte hier neue
Ansätze bieten, neue Wertschöpfungsketten zu
erschließen. Auch die Bio-Energie-Gewinnung könnte wegen
der großen Flächen hier wirtschaftlich werden.
Siebentens: Neue Formen der Arbeitsmarktpolitik entwickeln.
Die angekündigte Einführung des Kombilohns ist ein
Schritt, um Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose
wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bedeutsamer ist die
Reform der Arbeitsförderung nach dem neuen Job-Aqtiv-Gesetz.
Dieses könnte für die besonderen Ost-Probleme neue
Spielräume bringen. (z.B. Job-Rotationsmodelle).
Achtens: Regionale und betriebliche Modelle gegen Abwanderung
junger, qualifizierter Menschen entwickeln.
Die starken Geburtsjahrgänge der achtziger Jahre treffen nach
ihrer Ausbildung auf eine besonders ungünstige Konstellation
des ostdeutschen Beschäftigungssystems, die sogenannte "zweite
Schwelle". Um diese durchlässig zu machen, brauchen wir
Übergangslösungen. Abwanderung zu vermindern oder
Rückkehroptionen zu stärken ist eine Zukunftsaufgabe.
Denn die kommende ostdeutsche Generation ist - allen Vorurteilen
zum Trotz - ehrgeizig, mobil und leistungsbereit. Besonders trifft
das auf die jungen Frauen zu, die gegenwärtig um ihrer
Berufschancen willen am stärksten abwandern.
Um dem entgegenzuwirken, wäre eine provisorische Einbindung
Ausgelernter mit dem Ziel gleitender Übergänge zwischen
den Generationen in den Betrieben denkbar. Damit würde auch
der Überalterung der Beschäftigten in ostdeutschen
Unternehmen entgegengewirkt werden.
Ein Beispiel, wie junge mobile Menschen motiviert werden
können, später wieder in ihre Heimat, in ihre Firmen
zurück zu kehren, gibt Mecklenburg-Vorpommern selbst mit
seinem Programm "mv-for-you". In der Frage "Heimatbindung" sind
auch die Betriebe und Kommunen direkt zuständig und in ihrer
Phantasie gefragt.
Wer über die wirtschaftlichen Chancen und Perspektiven der
neuen Länder nachdenkt, kommt schließlich an der
europäischen Frage nicht vorbei, meinem letzten
Schwerpunkt.
Die Osterweiterung der EU bringt Ostdeutschland aus der Randlage in
eine Mittellage. Darin liegt unsere Chance gegenüber dem
berühmten Mezzogiorno: Wir liegen nicht im Stiefel.
Wirtschaftlich gesehen birgt die Osterweiterung gewiss auch
Risiken: Es fallen die Barrieren für den freien Verkehr von
Dienstleistungen und Arbeit zwischen Regionen, die sich
ökonomisch dramatisch voneinander unterscheiden, mit allen
Konsequenzen. Auf diese Entwicklung müssen wir uns
vorbereiten. Wenn wir uns abschotten, geht aber die wirtschaftliche
Dynamik des Erweiterungsprozesses über Ostdeutschland
hinweg.
Beim Übergang zur völligen EU-Dienstleistungsfreiheit
besteht ein Schutzbedarf für bestimmte Wirtschaftsbereiche,
zum Beispiel für die Bauwirtschaft, damit es nicht zu einem
Verdrängungswett-bewerb mit osteuropäischen Anbietern
kommt. So wichtig eine solche Schutzmaßnahme
übergangsweise auch sein mag: Eine zukunftsfähige
Strategie ist sie nicht.
Die Lohnkostenunterschiede werden kapitalintensive Produktionen im
Westen, arbeitsintensive Produktionen im Osten begünstigen.
Vor dieser Arbeitsteilung brauchen wir aber keine Angst zu haben.
Osteuropäische Unternehmen produzieren für Märkte,
auf denen west- wie ostdeutsche Unternehmen schon jetzt nicht mehr
als Anbieter auftreten. Das Problem der ostdeutschen Industrie
besteht also nicht darin, dass es plötzlich einer
Billiglohnkonkurrenz ausgesetzt würde, sondern dass es die
Möglichkeiten der Arbeitsteilung mit den Beitrittsländern
verpasst.
Wir brauchen ein Leitbild für unsere Region, das ich mit dem
Begriff "europäische Verbindungsregion" beschreiben
würde. Damit würden Prioritäten gesetzt, etwa in der
regionalen und überregionalen Verkehrs- und Raumplanung, in
der Förderung von Dienstleistern, die ihre Kunden und
Märkte in der neuen gesamteuropäischen Arbeitsteilung
suchen und natürlich auch bei der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit in Sachen Forschung und Entwicklung.
Regionale Lösungen, allemal in europäischer Perspektive,
brauchen wissenschaftlichen Vorlauf und wissenschaftliche
Begleitung. Wer auf den Märkten bestehen will, muss die
vorhandenen Potentiale mit den Innovationsträgern
verknüpfen, zum Vorteil aller Beteiligten. Der Ostseeraum ist
schon jetzt eine solche potente europäische Region, die zudem
an eine lange Tradition des kulturellen und wirtschaftlichen
Austauschs anknüpfen kann. Mecklenburg-Vorpommern kann sich
hier durchaus als Vorreiter vor anderen ostdeutschen Ländern
profilieren.
All dies wird aber nur erfolgreich sein, wenn in den Jahren bis zur
Erweiterung der EU zielgenaue Investitionen vorangebracht werden,
die Ostdeutschland nicht nur als Transitgebiet, sondern auch als
Anbieter von Dienstleistungen und Produktionen qualifizieren, die
wegen seiner Lage sowohl im Osten, als auch im Westen nachgefragt
werden. Ostdeutsche können außerdem Erfahrungen
einbringen, über die man im Westen nicht verfügt:
Erfahrungen aus Zeiten des rasanten Umbruchs, Kompetenzen, die auch
für Osteuropäer noch lange wichtig sind.
Europa kann tatsächlich zur zweiten Chance für
Ostdeutschland werden. Dazu sollten wir uns etwas einfallen lassen,
und das sollten wir uns etwas kosten lassen. Es nicht zu tun, kommt
uns mit Sicherheit später teurer. Auch das ist eine Lehre des
letzten Jahrzehnts. Jetzt ist es an der Zeit, Weichen zu stellen:
Weg vom "Weiter so" und hin zu neuer, innovativer Politik für
Ostdeutschland."
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