"Der demographische Wandel muss politisch gestaltet werden"
Der Vorsitzende der Enquête-Kommission "Demographischer
Wandel - Herausforderungen unserer älter werdenden
Gesellschaft an den Einzel-nen und die Politik" des Deutschen
Bundestages, Walter Link (Diepholz), MdB, erklärt
anlässlich der Vorstellung des Kommissions-Schlussberichts
gegenüber der Presse am Mittwoch, 24. April 2002 (11.00 Uhr,
Raum 1 S 014, Reichstagsgebäude):
"Seit zehn Jahren arbeiten in drei Wahlperioden
Enquête-Kommissionen zum Themenbereich "Demographischer
Wandel". In dem jetzt vorliegenden Schlussbericht werden die
Ergebnisse der beiden Zwischenberichte von 1994 und 1998 vertieft,
konkretisiert, ergänzt und weiterentwickelt. Er stellt mit
seinen auch neuen Schwerpunkten zugleich einen Abschluss der
gesamten Arbeit dar. Der Schlussbericht wird am
Donnerstagnachmittag, 25. April, im Plenum des Bundestages beraten.
Dazu lade ich Sie alle sehr herzlich ein. Schon jetzt stelle ich
Ihnen einige Schwerpunkte des Berichts vor.
Die Altersstruktur in Deutschland ändert sich stark
Die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland wird sich in
den nächsten Jahrzehnten stark verändern. Immer mehr
Menschen erreichen ein immer höheres Lebensalter. Die
Geburtenrate stagniert seit Jahren auf einem niedrigen Niveau, das
auch kurzfristig schwer veränderbar ist. Schon heute gleicht
der Altersaufbau nicht mehr einer Pyramide. Die Pyramide droht sich
vielmehr in ihr Gegenteil zu verkehren.
Der demographische Wandel führt zu gravierenden
Veränderungen in allen Lebensbereichen. Er wird aber nicht zur
Katastrophe, wenn jetzt den politischen Handlungsempfehlungen der
Kommission gefolgt wird.
Richtig ist: Die Menschen in Deutschland werden weniger und
älter. Dieser demographische Wandel stellt die Politik vor
große Herausforderungen. Dringender Handlungsbedarf entsteht
vor allem durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Alternde
Belegschaften in den Betrieben und ein ungünstiger werdendes
Verhältnis zwischen Beitragszahlern und
Leistungsempfängern in der Sozialversicherung führen zu
neuen Problemen; ebenso die Tatsache, dass immer weniger Menschen
für die Erbringung von sozialen Dienstleistungen zur
Verfügung stehen.
Die Politik muss jetzt reagieren und gestalten
Die Politik muss sich darauf konzentrieren, die Auswirkungen des
demographischen Wandels auf Wirtschaft und Gesellschaft zu
gestalten. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass viele
Probleme, insbesondere in den sozialen Sicherungssystemen, nur zum
Teil durch den demographischen Wandel bedingt sind. Oft spielen
andere Faktoren wie politisch gewollte Leistungsausweitungen eine
noch größere Rolle. Der demographische Wandel muss auch
immer im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen wie dem
wirtschaftlichen und technologischen Wandel, den Veränderungen
in der Familie und auf dem Arbeitsmarkt gesehen werden.
Einzelne Ergebnisse der Kommissionsarbeit
Der Schlussbericht befasst sich in den Kapiteln B bis F mit
fünf Schwerpunkten:
- Verhältnis der Generationen,
- Arbeitsmarkt und Wirtschaft,
- Migration und Integration,
- Alterssicherung sowie
- Gesundheit, Pflege und soziale Dienste.
Ich will beispielhaft vier Themen kurz ansprechen.
Verhältnis der Generationen in der Familie
In den Familien machen sich die Folgen des demographischen Wandels
besonders stark bemerkbar. Dies hat sich jedoch nicht nachteilig
auf die gelebte Solidarität in der Familie ausgewirkt. Selbst
wenn die Familienmitglieder nicht mehr an einem Ort zusammenleben,
bleiben die Kontakte häufig und die emotionalen Bindungen eng.
Es gibt sogar Hinweise darauf, dass diese Bindungen angesichts der
Unsicherheiten in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft eher
enger werden. Auch die Tatsache, dass die verschiedenen
Generationen sich in der Familie mit Geld und anderen
Hilfeleistungen gegenseitig in hohem Maße unterstützen,
unterstreicht die enge Verbundenheit. Staatliche Politik muss
darauf ausgerichtet sein, diese Bindungen und dieses Hilfepotenzial
zu stärken.
Arbeitsmarkt
Auf absehbare Frist wird auf dem Arbeitsmarkt ein hoher Sockel an
Arbeitslosigkeit erhalten bleiben. Ab etwa 2015 ist jedoch mit
einem ausgeprägten Rückgang der Erwerbspersonen zu
rechnen. Wir müssen daher verstärkt neue
Beschäftigungspotenziale mobilisieren. Hierzu ist insbesondere
folgendes nötig:
- Beschäftigungshemmnisse müssen abgebaut werden.
- Lebenslanges Lernen für alle muss unerlässlich
werden.
- Es müssen Rahmenbedingungen für eine verbesserte
Vereinbarkeit von Beruf und Familie geschaffen werden.
- Die Erwerbsbeteiligung von Frauen muss erhöht und die
tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern muss
verwirklicht werden.
Ziel muss auch die Überwindung der weit verbreiteten
Frühverrentungspraxis sein. Hier sind nicht nur die Betriebe
gefragt, sondern es gilt auch, die bestehenden sozialrechtlichen
Anreize zur Frühverrentung abzubauen.
Alterssicherungssystem
Das Alterssicherungssystem ist das von der demographischen
Entwicklung am direktesten betroffene System der sozialen
Sicherung. Die staatliche Alterssicherungspolitik sollte auch
zukünftig dem Prinzip der Lebensstandardsicherung verpflichtet
sein. Um dies finanzieren zu können, sieht es die Kommission
als eine wichtige Aufgabe an, das tatsächliche
Rentenzugangsalter von heute durchschnittlich 59 Jahren zu
erhöhen und dem Regelalter von 65 Jahren anzunähern. Dies
reicht aber nicht aus, daneben muss die private wie die
betriebliche Altersvorsorge im Wege der Kapitaldeckung ausgebaut
werden.
Gesundheitssystem
Das deutsche Gesundheitssystem garantiert ein hohes
Versorgungsniveau, ist aber im internationalen Vergleich zu teuer.
Dieses Problem lässt sich nur durch eine langfristig angelegte
Umsteuerung des Systems lösen. Die Notwendigkeit von
Ausgabenkontrolle und Effizienzsteigerung im Gesundheitssystem wird
nicht mehr bestritten, der Streit geht aber um das Wie. Auch die
Kommission hat darum bewusst kein umfassendes Reformkonzept
angeboten, sondern zwei mögliche Sichtweisen dargestellt.
Geprüft werden sollte auf jeden Fall, ob Kranken- und
Pflegeversicherung integriert werden sollen.
Fazit
Die Enquête-Kommission ist davon überzeugt, dass die
Gestaltungsaufgabe, vor die uns der demographische Wandel stellt,
bewältigt werden kann. Die Handlungsempfehlungen des
vorliegenden Schlussberichts sind Wegweiser für die hierzu
notwendigen politischen Weichenstellungen. Ich wünsche, dass
der 15. Deutsche Bundestag die Ergebnisse und Empfehlungen
aufgreifen und in politische Entscheidungen umsetzen wird".
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