Rede von Bundestagspräsiden Wolfgang Thierse zur Verleihung des Leo-Baeck-Preises an Iris Berben am 3. September in Frankfurt (Haus der Jüdischen Gemeinde, 11 Uhr)
Es gilt das gesprochene Wort
Iris Berben, ein Unterhaltungsstar des Fernsehens, ein
Männertraum, eine Schönheit, eine verletzliche Frau, eine
Komödiantin mit dem Mut zur Hässlichkeit, eine
Krimi-Kommissarin, die ein Symbol für die - angeblich - neue
Frau um 50 ist. Eine Liste von Klischees, gewiss und auch ein Beleg
künstlerischer und sicher auch geschäftstüchtiger
Wandlungsfähigkeit.
Iris Berben füllt die Klatschpresse - und die
Gemeindesäle, die Theater, in denen sie aus einem kleinen,
verbreiteten, eigentlich berühmten Buch liest: dem Tagebuch
der Anne Frank. Dem Dokument eines mörderischen,
planmäßigen Antisemitismus, dem Beweis, dass ein kleines
jüdisches Mädchen in Lebensangst, im Versteck vor ihren
Peinigern, auch nicht anders fühlt als jedes andere
Mädchen.
Als vor etwa zwei Jahren rechtsextreme Gewalt, antisemitische und
fremdenfeindliche Hetze an der Tagesordnung waren wie seit dem Ende
des Nationalsozialismus nicht mehr, war Iris Berben auf vielen
Kundgebungen und unterstützte den Aufruf der Demokraten:
für Demokratie, Toleranz, den Dialog der Kulturen.
Das ist nicht ganz vergeblich gewesen. Rechtsextreme Straftaten
gingen zurück - obschon wohl genauer gezählt, gemeldet
und von der Polizei verfolgt wird. Eine groß angelegte
Demonstration der NPD scheiterte am Widerstand der Bürgerinnen
und Bürger. Nur: Entwarnung konnte und kann nicht gegeben
werden.
Wir alle standen und stehen vor dem Problem, die Erinnerung an
unsere deutsche beschämende Geschichte des Antisemitismus an
die nächste Generation weiter zu geben. Nicht mit erhobenem
Zeigefinger, nicht als Appell zu bloßer politischer
Korrektheit, sondern als Lehre, dass nicht einmal entfernt
Ähnliches je wieder geschehe! Auch als Versuch, den Opfern der
NS-Verbrechen wenigstens ein gewisses Maß an Wiedergutmachung
zuteil werden zu lassen.
Iris Berben tut etwas sehr nahe liegendes. Sie weiß, dass es
Teil ihrer künstlerischen Profession ist, gekonnt Texte
vorzutragen. Sie weiß, dass Menschen kommen werden, weil sie
Iris Berben sehen wollen. Nicht nur auf dem Bildschirm und dem
Foto. Und sie nimmt dieses Tagebuch von Anne Frank und liest daraus
vor. Ja mehr noch: Sie wagt es, ihm datumsgleiche Passagen aus
Goebbels-Tagebüchern gegenüberzustellen. Mit dieser
kühnen Montage gelingt es, Hoffen und Bangen eines damaligen
jungen Menschen so in die Gegenwart zu projizieren, dass das Leid
des Opfers für den heutigen Zuhörer sinnlich erfahrbar
wird. Auch bei einem unpolitischen Zuhörer, bei dem die
Erfahrung fehlt, welche Verheerungen Vorurteile und
Sündenbocktheorien anrichten, bildet sich - hoffentlich,
wahrscheinlich - die Einsicht: so wollen wir mit Mitmenschen nie
wieder umgehen.
Iris Berbens Engagement für Demokratie und Toleranz hat etwas
mit ihrem Lebensweg zu tun und nicht zuletzt auch etwas mit ihrem
Lebenspartner. Ihre ganz persönliche Verbindung nach Israel
hat Iris Berben sensibilisiert für die Probleme des Landes und
für die Verantwortung, die aus der deutschen Geschichte
erwächst. Gelegentlich wird sie wegen ihres Engagements auch
schon einmal "Fürsprecherin Israels" genannt. Tatsache ist,
dass sich Iris Berben konsequent und intensiv für den
deutsch-israelischen und den christlich-jüdischen Dialog
einsetzt - und das seit vielen Jahren.
Dafür, verehrte Frau Berben, werden Sie heute geehrt. Die
Ehrung gilt einem Verdienst, einem Vorbild. Und wie Sie diese
Ehrung kommentieren, ist selbst wieder vorbildlich. Sie stellen sie
in den Dienst der Sache mit der manchen irritierenden Bemerkung,
dass diese Auszeichnung Sie beschäme.
Weil doch das, wofür man Sie auszeichnet,
selbstverständlich sein müsse. Nämlich gegen
Intoleranz einzutreten, Hass und menschenverachtende Gewalt zu
ächten, sich für Toleranz und Verständigung stark zu
machen. Sie haben Recht - das alles müsste
selbstverständlich sein. Aber die Realität sieht - leider
- anders aus. Deshalb verstehe ich sehr gut, wenn Sie sagen, der
Leo-Baeck-Preis sei eine Auszeichnung, die wehtue.
Der Leo-Baeck-Preis ist ein politischer Preis. Er wird meines
Wissens erstmals einer Künstlerin verliehen, noch dazu einer
der populärsten in Deutschland. Wir haben leider die ungute
Angewohnheit, Menschen in Schubladen zu stecken: Hier
Künstler, da Unternehmer, dort Politiker. Alles hübsch
sauber voneinander getrennt. Mehrfach-, gar Vielfachtalente und
Grenzgänger sind vielen suspekt. Das kommt zum Ausdruck im
Sprichwort vom Schuster und seinen Leisten. Eine Künstlerin,
die sich politisch engagiert, erzeugt Irritation, weil wir Kunst
und Politik als getrennte Welten wahrnehmen. Das ist so
bedauerlich, wie es falsch ist. Gewiss: Politik ist
professionalisiert. Aber daraus darf man doch nicht den Schluss
ableiten, dass sich außer den Profis niemand um die
Demokratie zu kümmern habe. Gut möglich, dass sich viele
Künstler auch deshalb nicht trauen, politisch Flagge zu
zeigen, weil sie Negatives für Image, Quote und Auflage
fürchten. Ein Benefizkonzert für einen guten Zweck ist
löblich - ersetzt aber kein politisches Engagement. Ich bin
deshalb jedem Künstler - auch jedem Sportler - dankbar, der
sich aktiv für die Sache der Demokratie einsetzt, der sich
für Toleranz stark macht. Und gleiches gilt
selbstverständlich für jede Künstlerin - für
jede Sportlerin. Es gibt allerdings nur wenige Künstlerinnen
und Künstler, die sich so dauerhaft, so konsequent und
deswegen so glaubhaft für Demokratie und Toleranz einsetzen,
wie es Iris Berben seit vielen Jahren tut.
Aus der deutschen Geschichte leiten Sie, liebe Frau Berben,
für sich persönlich die moralische Verantwortung ab, mit
den ethnischen, religiösen, kulturellen Minderheiten von heute
solidarisch zu sein. Sie beziehen klar Position gegen jede Form von
Ausgrenzung und Gewalt gegen Andersgläubige, Ausländer,
Auffällige - Andere. Sie tun dies mit einer Klarheit und
Offenheit, die Ihnen auch Anfeindungen einbringt. Sie berichten von
Schmähbriefen. (Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie
bitter das ist.) Von solchen Attacken haben Sie sich aber nie
beeindrucken lassen. Im Gegenteil, Sie setzen sich nur um so
engagierter ein.
Salomon Korn hat sich kürzlich sehr zu Recht besorgt über
"Das deutsche Schweigen" geäußert. Trotz gut gemeinter
und mit immensem Aufwand betriebener Aufklärungskampagnen in
den Schulen, in der politischen Bildung, in der Wissenschaft, in
der Kultur müsse man Zweifel haben, ob eine nachhaltige
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gelungen ist. Aktuelle
Untersuchungen untermauern diese Zweifel. Ich erwähne hier die
Analyse von Harald Welzer, der untersucht hat, wie das Thema der
NS-Verbrechen in deutschen Familien behandelt wird. Das Ergebnis
ist schockierend. Der Sozialwissenschaftler hat festgestellt, dass
in deutschen Familien offenbar eine schleichende Umdeutung von
Geschichte abläuft. Schule und Medien präsentieren zwar
eine Fülle von Informationen, die ein realistisches Bild vom
Ausmaß der Nazi-Verbrechen zeigen. Doch im familiären
Gespräch besteht die Tendenz, Unangenehmes umzuwerten - soweit
es sich auf die eigene Familiengeschichte bezieht. Schlimmstenfalls
bis zur Verdrehung von Opfer- und Täterrolle.
Trotz mehr als 50 Jahre Arbeit an der Zivilgesellschaft sind viele
Ressentiments nicht entkräftet, manche Vorurteile gerade
einmal oberflächlich kaschiert. Um so verheerender, wenn
leichtfertig gezündelt wird. Die Antisemitismus-Debatte vom
Frühsommer dieses Jahres - vom Zaun gebrochen aus
wahltaktischen Überlegungen - war ein schlimmes Beispiel. Wir
haben erneut erleben müssen, dass in politischen und
literarischen Diskussion plötzlich Anschauungen Platz greifen,
die sich antisemitischer Vorurteile bedienen. Damit war der Geist
aus der Flasche. Solcherart ermutigt, meinten nicht wenige, dass
nun sie sich auch antisemitisch und xenophobisch äußern
konnten. Und die Rechtsradikalen durften das Gefühl
genießen, plötzlich nicht mehr allein zu sein mit ihren
unanständigen Parolen.
Hinter dem kalkulierten, angeblichen "Tabu"-Bruch vom
Frühsommer steckte der Versuch, alte Klischees zu bedienen.
Das war so durchsichtig wie perfide. Ohne hier weitergehende
Absichten unterstellen zu wollen, müssen wir aber doch alle
wissen: Auch der Weg zum Völkermord hat mit kleinen Schritten,
mit zunächst kaum wahrnehmbaren Überschreitungen
begonnen: Mit der Pflege von Vorurteilen, mit einem schleichenden,
alltäglichen Rassismus, der zuerst in der Sprache
auftauchte.
Es ist eine erprobte Strategie der Intoleranten, im Namen der
Meinungsfreiheit antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche
Äußerungen zu legitimeren. Der Sprachwissenschaftler
Noam Chomsky - Verfechter einer radikalen Meinungsfreiheit - ist
einem solchen Ansinnen auf den Leim gegangen, indem er sich
dafür vor einigen Jahren hat instrumentalisieren lassen:
Für das unsägliche Buch des französischen Autors
Fauvisson, der die Existenz der Gaskammern von Auschwitz leugnet.
Chomsky argumentierte damals, der Preis der Meinungsfreiheit sei
der, dass auch die abwegigsten Meinungen zu tolerieren seien. Genau
das ist die Form missverstandener Liberalität, die wir nicht
dulden dürfen. Im Gegenteil: Schon den Anfängen
müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Jedem Ressentiment
gegenüber Juden und gegenüber anderen Minderheiten
müssen wir widersprechen. Das war in Deutschland lange
Konsens, der sich aus dem Echo der Nazi-Geschichte ergibt. Das muss
in Deutschland Konsens bleiben!
Wir stellen mit Entsetzen fest, dass Antisemitismus, Rassismus und
Intoleranz wieder zunehmen. Nach Beobachtungen des
Simon-Wiesenthal-Zentrums in Los Angeles ist die Zahl
antijüdischer und rassistischer Internet-Seiten innerhalb nur
eines Jahres weltweit um 25 % gestiegen. Aber nicht nur im
virtuellen Raum nehmen Hass und Fremdenfeindlichkeit zu. Sehr
konkret und sehr real breitet sich in vielen Ländern Europas
ausländerfeindliches Verhalten aus. Rechtspopulistische
Rattenfänger locken mit einfachen Lösungen.
Wohlstandsrassismus greift um sich. Eine Art
Wagenburgmentalität wird gesellschaftsfähig. Dazu tragen
auch Unterscheidungen bei wie die in sogenannte "nützliche"
und sogenannte "unnütze" Zuwanderer. Eine furchtbare, eine
unmenschliche Differenzierung. Und ob es Zufall ist, dass
ausgerechnet im zweiten Quartal dieses Jahres die Zahl
antisemitischer Straftaten in Deutschland sprunghaft gestiegen ist?
Man kann, nein: man muss daran Zweifel haben, dass dies nur Zufall
ist.
Der Zustand einer Gesellschaft ist nicht zuletzt daran abzulesen,
wie es den ethnischen, den konfessionellen, den kulturellen
Minderheiten geht. Die Polizeiwachen vor jüdischen
Kindergärten, Schulen und Gotteshäusern sprechen eine
deutliche Sprache: Juden in Deutschland können sich nicht -
immer noch nicht! - wirklich sicher und respektiert fühlen.
Das widerspricht unserem Verfassungsauftrag und es widerspricht
unserer moralischen Verpflichtung, die sich aus dem Holocaust
ergibt. Aber nicht nur das, es ist menschlich unanständig,
einfach schäbig.
Antisemitismus ist gegen Juden gerichtet, doch ihn zu
bekämpfen ist nicht ihre Angelegenheit allein, sondern unser
aller Sache. Der Erfolg im Kampf gegen Antisemitismus hängt
davon ab, ob es uns gelingt, in dieser Gesellschaft ein Klima
herzustellen, in dem alle menschenfeindlichen Äußerungen
und Taten geächtet sind. Der Erfolg zeigt sich darin, ob und
inwieweit es in unserer Gesellschaft als selbstverständlich
betrachtet wird, aufzustehen und die Gegner von Toleranz Gegner zu
nennen und ihre Ziele öffentlich anzuprangern.
Ziel aller Demokraten ist, dass die Mehrheit, die ganz große
Mehrheit, Rückfälle in deutschtümelnde,
antisemitische, fremdenfeindliche und antidemokratische Haltungen
zurückweist und verhindert. Doch die gesellschaftliche
Wirklichkeit sieht anders aus. Deshalb, liebe Frau Berben, verstehe
ich Ihre Wut auf eine verbreitete Gleichgültigkeit und
Ignoranz. Und ich kann auch nachvollziehen, warum dieser Preis Sie
beschämt. Und doch: Wenn eine profilierte Künstlerin ihre
Vorbildrolle so ernst nimmt, dass sie ihre Popularität
verknüpft mit politischem Engagement für die Demokratie,
dann ist das mehr als anerkennenswert, dann ist das
auszeichnungswürdig. Und so gesehen eben doch ein Grund zur
Freude. Außerdem ein Grund mehr, mit Mut und Zuversicht
gemeinsam dafür zu arbeiten, dass wir unser Ziel erreichen:
eine Gesellschaft, in der Hass und Intoleranz keinen Platz haben,
eine Gesellschaft, in der wir Menschen ohne Angst verschieden sein
können. An dieser Gesellschaft und für sie haben wir noch
mutig und ausdauernd zu arbeiten!.
Liebe Frau Berben, jede Filmschauspielerin (und auch jeder
Filmschauspieler) träumt wohl davon, wenigstens einmal einen
Oscar zu bekommen. Heute bekommen Sie einen: den Leo-Baeck-Preis,
einen Oscar der Toleranz - Herzlichen Glückwunsch!
12.911 Zeichen