Bundestagspräsident Thierse würdigt die Arbeit von Clauss Dietel und Lutz Rudolph
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die Arbeit der
beiden Formgestalter Clauss Dietel und Lutz Rudolph gewürdigt.
Sie gehören, so der Bundestagspräsident heute bei der
Eröffnung einer Ausstellung in der Sammlung Industrielle
Gestaltung (Berlin, Prenzlauer Berg) zu den "vielfältigsten,
kreativsten und interessantesten deutschen Formgestaltern der
letzten viereinhalb Jahrzehnte". Thierse zeigte sich "froh, dass
ihr umfangreiches Werk endlich einer größeren
Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird". Die Ausstellung
verspreche einen "Zugewinn an ästhetischer Erfahrung und an
kulturhistorischem Wissen und informiere zugleich über
wichtige Facetten des sinnlich-fassbaren, gegenständlichen
Erbes der DDR."
Bei der Ausstellungseröffnung führt der
Bundestagspräsident u.a. weiter aus:
"Wer bis Ende der 80er Jahre im Osten des geteilten Deutschlands
lebte, der kam an Dietel und Rudolph nicht wirklich vorbei. Es ist
wohl kein Wagnis zu behaupten: einen guten Teil ihrer
Schöpfungen, ihrer realisierten Entwürfe kannte jeder
Ostdeutsche: den Wartburg 353, die Heli-Radios der Firma Hempel in
Limbach, die als Lautsprecher dienenden Kugelboxen (zwei Jahre vor
Grundig), Schreibmaschinen von Erika und Robotron, Zweiräder,
wie das legendäre Mokick S 50 oder die Enduro S 51 von Simson.
Alles Dinge, die begehrt waren, die man in der Regel aber nur
schwer bekommen konnte. Über die DDR-üblichen Wartezeiten
für PKW werden ja noch heute gern Witze erzählt.
Die Palette der von den beiden Weißenseer Absolventen mal
gemeinsam, mal individuell, mal in Zusammenarbeit mit anderen
Gestaltern entworfenen Produkte ist natürlich sehr viel
umfangreicher als der flüchtige Blick auf die privaten
Gebrauchsgüter vermuten läßt: Es gibt auch Studien,
Entwürfe, Arbeitsmodelle für Strickmaschinen,
Rechenanlagen, LKW-Aufbauten und Waggons bis hin zu
Produktionshallen und Einfamilienhäusern. Vieles davon wurde
umgesetzt, manches blieb aus vielerlei Gründen auf der
Strecke. Die Bandbreite dieser Palette ist respektabel, der am
Funktionalismus geschulte Ideenreichtum ihrer Gestalter
bewundernswert.
Wer sich erstmals mit Dietels und Rudolphs Werk beschäftigt,
wird überrascht sein über ihre zahlreichen Entwürfe
und Funktions-muster für Kraftfahrzeuge, vor allem für
PKW. Diese erinnern selten an das, was auf den Straßen der
DDR zu sehen war. Einige der in den Autoentwürfen entwickelten
Ideen wirken heute wie Vorwegnahmen späterer Entwicklungen.
Tatsache ist: Der Renault Twingo entspricht in seinen Maßen
und in der plastischen Formgebung einem Dietel-Rudolph-Entwurf von
1971/72. Und der VW Polo ähnelt dem Modell des Nachfolgers
für den Trabant von 1972/73 wie ein Ei dem anderen. Dass ihre
Ideen mit zwei Jahrzehnten Abstand von anderen Herstellern gerne
aufgegriffen werden, mag die Entwickler nur bedingt trösten.
Aber es ist doch wenigstens Bestätigung dafür, dass sie
gedanklich und gestalterisch auf dem richtigen Weg waren.
Eine wichtige Erfahrung des letzten Jahrzehnts besagt ja, dass
Geschichtsschreibung mehr sein muss als der Blick auf das
Erreichte, auf das Hervorgebrachte. Auch Designgeschichte ist nicht
allein von ihrem Ende, von ihren Gestaltungen her zu begreifen. Im
Gegenteil: auch hier bedarf es eines kritischen Blicks hinter die
Kulissen, hinter die Entwürfe, Stilistiken, Texte und Produkte
- mögen diese noch so schillernd, noch so verführerisch
sein. Ohne Kenntnisnahme der Reibungen, Konflikte,
Abhängigkeiten und Widersprüche hinter den Kulissen
bleibt vieles unbegriffen.
Offene Fragen liegen ja reichlich auf der Hand: Wie funktionierte
Produktgestaltung unter den Bedingungen der DDR? Welche
Spielräume hatten freiberufliche Gestalter? Wie arbeiteten sie
angesichts der nachhinkenden Modernisierung, materieller
Engpässe und staatlicher Einflußnahme? Auf welchen
Traditionen und Ideen fußten ihre Gestaltungskonzepte? Wo
standen sie im internationalen Vergleich? Wer definierte die
Bewertungsmaßstäbe für industriell gestaltete
Produkte? Wer kritisierte die Kritiker? Und worin bestanden, worin
bestehen die Visionen der Gestalter?
Clauss Dietel und Lutz Rudolph stellten sich von Anbeginn in die
Traditionslinie des Bauhauses. Sie folgten der Idee von einem
industriellen Produzieren, das den praktischen und kulturellen
Bedürfnissen möglichst vieler Menschen verpflichtet ist.
Damit widersprachen sie der Auffassung, dass sich Produktgestaltung
(allein) aus den Prämissen der Technik oder der Wirtschaft,
des Profits ableiten lassen dürfe.
Andersrum wird ein Schuh daraus: Für Dietel und Rudolph war
und ist Gestaltung Kultur. Gestaltung soll sich am Menschen
orientieren, an seinen sozialen Beziehungen, seinen Werten und
Bedürfnissen, an seiner Verantwortung für den Schutz der
natürlichen Umwelt. Der Gestalter sollte modischen Eskapaden
widerstehen und für die Langlebigkeit seiner Produkte Sorge
tragen. Ich zitiere Clauss Dietel: "Nicht für den Tag und
baldiges Wegwerfen, sondern für langes Nutzen sind die Sachen
zu gestalten. Gebrauchspatina als ästhetischer Reiz des
Nutzens und Brauchens muss dafür an den Produkten möglich
sein. Nicht vor, sondern nach dem Nutzensende soll der moralische
Verschleiß liegen."
Fünf Eigenschaften sind es, die ein gut gestaltetes,
vernünftiges Produkt auszeichnen: Es soll nicht nur langlebig
sein, sondern auch leicht, lütt (klein), lebensfreundlich und
leise. Diese Eigenschaften zielen auf sparsamen Materialeinsatz,
auf das Weglassen modischer Mätzchen, auf eine ökologisch
verantwortliche Perspektive. Dietel verankerte sie in seinem
"offenen Prinzip der Gestaltung", das er erstmals Ende der 60er
Jahre formuliert.
Dieses Prinzip greift zunächst einmal die Baukasten-Idee auf
und zielt auf größere Offenheit gegenüber
technischen und technologischen Erneuerungen, auf Austauschbarkeit
einzelner Baugruppen oder Bauteile, auf Mitgestaltung durch die
Nutzer. Zugleich greift die Forderung nach Offenheit über das
konkrete Produkt hinaus und zielt auf Erweiterung jener
Spielräume, die das geschlossene System der Produktion und
Reproduktion bietet. Spätestens hier zeigt sich: Das offene
"Prinzip der Gestaltung" hat nicht nur eine ökonomische,
sondern ganz wesentlich auch eine gesellschaftliche, eine
kulturelle Dimension.
Kritik für diese Position ernteten Dietel und Rudolph nicht
nur zu DDR-Zeiten frei Haus, etwa seitens des Amtes für
Formgestaltung, dem sie in tiefsitzender Abneigung verbunden waren.
Nach 1990 standen sie dann plötzlich unter
"Nostalgie-Verdacht", weil ihre Gestaltungswerte und -prinzipien
(Anti-Styling, Gebrauchspatina, offenes Prinzip, ökologisches
Denken) angeblich nichts anderes als "moralisch aufgeladene
Begriffe sind". Das "offene Prinzip" galt dieser Kritik nicht mehr
als ein "technokratisches Modell". Und es wurde die Vermutung
geäußert, dass das Loblied auf die "veredelnden Spuren
des Nutzens und Brauchens" (die "Patina des Gebrauchs") nichts
anderes bezwecken sollte, als "die Misere des DDR-Design, der
ganzen minderen Produktion, akzeptabel zu machen". (Elke
Trappschuh, Design Report 11/92.)
Ich vermute, kulturelle und soziale Prägungen sitzen mitunter
tiefer, als man wahrhaben möchte. Sie erschweren das
Gespräch, bewirken Verletzungen, münden irgendwann in
Respektlosigkeit. Gleichwohl brauchen wir die Debatten über
deutsch-deutsche Erfahrungen, über den Umgang miteinander,
über verpasste Hoffnungen und ungenutzte Chancen. Es geht mir
hier nicht um Harmonie, denn kultureller Streit ist etwas
Produktives. Er zwingt ja dazu, die eigene Biographie zu befragen,
sich selbst Rechenschaft abzulegen, sich auf Nachfragen und
Argumente anderer einzulassen. Selbstgerechtigkeit ist dabei
allerdings ein schlechter Ratgeber.
Kulturelle Erfahrung, kulturelles Wissen vermitteln sich nicht von
selbst. Dafür benötigen wir öffentliche Räume,
Institutionen, Fachleute. Dieses Museum, diese Sammlung
industrielle Gestaltung ist ein solcher Ort, ist ein
schützenswertes Biotop der kulturellen Verständigung
zwischen Ost und West. Die Debatte um die Formgestaltung in der DDR
zeigt, wie wichtig ein solches Museum ist. Es hat nicht nur eine
dokumentarische, sondern eben auch eine
kritisch-aufklärerische Funktion. Am Beispiel des
formgestalterischen Werkes von Clauss Dietel und Lutz Rudolph
lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Entwicklung der
Produkt- und Gebrauchskultur in Ostdeutschland. Die erkennbaren
Widersprüche zwischen Planwirtschaft, Technologie und
Kreativität verweisen auf komplexere gesellschaftliche
Zusammenhänge - auf den Alltag der Menschen, auf ihre
Verhältnisse untereinander. Es lohnt sich danach zu fragen,
wie sich in den Biographien der beiden Formgestalter deutsche
Geschichte exemplarisch spiegelt.
Und weil das so ist, wiederhole ich meinen Wunsch, den ich vor
genau einem Jahr anlässlich der Eröffnung dieses Museum
geäußert habe: Ich wünsche mir, das vor allem junge
Menschen in dieses Museum kommen und sich hier auf Spurensuche
begeben durch den kulturellen Alltag ihrer Eltern und
Großeltern. Diese können ihren Nachkommen in dieser
Ausstellung zahlreiche Geschichten erzählen: Im Angesicht der
Objekte von Dietel und Rudolph wird Geschichte lebendig und
konkret.
Und ich bleibe bei dem Wunsch, dass es dem Museum eines Tages
gelingen möge, eine gültige Dauerausstellung zu
etablieren - als kulturelles Gedächtnis der DDR: immun gegen
jede alte und neue Mythenbildung. Die aktuelle Ausstellung zeigt
einmal mehr, wie sinnvoll das wäre."
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