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von Werner J. Patzelt
Was ist leichter, als ein Parlament zu verstehen? Da kommen Leute zusammen, ringen in öffentlichem Streit um Positionen und treffen dann Entscheidungen. Diese Leute schulden uns Rechenschaft, weil wir es in der Hand haben, sie abzuwählen.
Doch was ist schwerer, als unsere Parlamente zu verstehen! Im Plenarsaal kommt meist nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten zusammen. In ihren Reden tauschen sie längst bekannte Argumente aus, ohne an der Position des Gegners etwas zu ändern. Meist praktizieren sie Fraktionsdisziplin. Und abwählen kann man sie meist auch nicht, weil sie auf Parteilisten abgesichert sind.
Warum dieser Widerspruch? Das populäre Grundverständnis vom Wesen eines Parlaments ist zu eng, fixiert auf das bloß Grundsätzliche. Es erfasst nicht jene Vorkehrungen, mit denen die Leitidee des Parlamentarismus realisiert wird. Also vermutet man eine Abweichung des Ist vom Soll, wo nur das Verstehen hinter dem zu Begreifenden zurückbleibt. Vor allem hier.
Parlamente praktizieren Arbeitsteilung. Das Plenum ist nur die Spitze des Eisbergs. Viel wichtiger sind die Ausschüsse, Arbeitsgruppen und Vollversammlungen der Fraktionen, die parlamentarischen Führungsgremien. Doch die meisten wissen wenig von anderen Stätten parlamentarischer Arbeit als dem Plenarsaal. Der steht zwar im Mittelpunkt der Berichterstattung, aber nur vom Plenarsaal aus lässt sich ein Parlament nicht verstehen.
Obendrein können Parlamente ganz verschieden funktionieren. Eines zu kennen, hilft noch nicht beim Verstehen jedes anderen. Der zentrale Unterschied: Kann ein Parlament die Regierung stürzen? Hat es sogar die Aufgabe, die Regierung zu bilden? Letzteres gilt für alle deutschen Parlamente. ‚Parlamentarisches’ Regierungssystem ist die Bezeichnung dafür. Doch andere Parlamente, etwa das der USA, haben diese Aufgabe nicht. Dort wird ein Präsident als Chef der Regierung unabhängig vom Parlament bestellt. Und was in so einem ‚präsidentiellen’ Regierungssystem richtig ist, kann im parlamentarischen Regierungssystem ganz falsch sein.
Denn alles ändert sich, wenn die Parlamentsmacht bis zum Sturz der Regierung reicht. Dann verschmelzen nämlich Regierung und regierungstragende Mehrheit zu einer gemeinsam handelnden Mannschaft: Aus dem alten Dualismus von Parlament und Regierung wird der neue Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition. Natürlich kann man die Politik und Minister der eigenen Regierung auch demontieren. Doch sinnvoll ist das nicht: Der Bürger schließt daraus, die Regierungsmehrheit sei mit ihrem Latein am Ende. Und weil zerstrittene Oppositionsfraktionen genauso öffentliches Ansehen einbüßen, zwingt das parlamentarische Regierungssystem auch sie zur Mannschaftsdisziplin.
Das also ist die Ursache des angeblichen ‚Fraktionszwangs’. Sehr viele Bürger verstehen sie einfach nicht. Viele lehnen schon ab, dass die Regierung überhaupt aus dem Parlament hervorgeht. Nicht wenige kommen auch mit der Rolle von Parteien nicht zurecht: dass es bei der Wahl vor allem um sie und ihre Spitzenkandidaten geht, und dass sie eine Art Haftung dafür übernehmen, dass ihre Abgeordneten auch nach der Wahl keine andere Politik betreiben, als vor der Wahl in Aussicht gestellt.
Was ist da los? Es wird versucht, unser modernes, von starken Parteien getragenes parlamentarisches Regierungssystem mit einem veralteten Parlamentsverständnis zu begreifen. Das muss misslingen. Was dann? Wir sollten das deutsche Parlamentarismusdenken modernisieren, nicht aber unser parlamentarisches Regierungssystem rückentwickeln.
Foto: Picture-Alliance
WERNER J. PATZELT, geboren 1953, lehrt als Professor am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Parlamentarismusforschung und der Vergleich politischer Systeme. Neben zahlreichen Artikeln veröffentlichte er unter anderem die Bücher „Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit“ (1993), „Abgeordnete und ihr Beruf. Interviews, Umfragen, Analysen“ (1995), „Parlamente und ihre Symbolik“ (2001), „Parlamente und ihre Funktionen“ (2003). In seiner Freizeit ist er Chorleiter und spielt Violoncello.