> Debatte > Essay 05/05
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Ein Essay von Henri Ménudier
Als die Anfrage kam, ob ich ein Essay über die Europäische Verfassung schreiben wolle, war die Welt noch in Ordnung. Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen hatten noch nicht stattgefunden, und es gab noch Hoffnung für das Europareferendum in Frankreich. Seit Ende Mai herrscht Ratlosigkeit. Der Ausgang der Landtagswahlen in Deutschland führte zu einer Regierungskrise im Bund. Und zum ersten Mal hat ein französischer Präsident der Republik ein Europareferendum verloren. Die deutsch-französische Achse scheint gebrochen. Der deutsch-französische Motor auf Regierungsebene hat keinen Sprit mehr – mindestens für ein paar Monate, wenn nicht für längere Zeit. Die massive Bejahung der europäischen Verfassung durch das deutsche Parlament war beeindruckend, die klare Ablehnung des gleichen Textes durch die Mehrheit der Franzosen ist für die Zukunft der EU beängstigend.
Es war nicht selbstverständlich, dass wir in den letzten Jahren den gleichen europäischen Weg gegangen sind. Weil die deutsche Einheit Unsicherheit in Europa gestiftet hatte, haben Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand entscheidende Anstöße für die Zukunft gegeben. So entstand der Vertrag von Maastricht, und die Debatte um die politische Union in Europa wurde wieder aufgenommen. Von großer Bedeutung war die Europarede des Bundesaußenministers Joschka Fischer Mitte Mai 2000 und die Antwort von Jacques Chirac vor dem Deutschen Bundestag. Aber erst die Einigung zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder Ende 2002 hat die Differenzen zwischen dem Europa der Regierungen und den Vorstellungen der Föderalisten geebnet. Deutsche und Franzosen haben dem Text der Verfassung ihren Stempel aufgedrückt.
Ist die europäische Verfassung nach dem „Nein“ Frankreichs endgültig gescheitert und schon beerdigt? Natürlich nicht, denn Frankreich allein kann über die Haltung der anderen EU-Mitglieder nicht entscheiden. Es ist aber wahrscheinlich, dass das französische „Nein“ die potenziellen Neinsager in anderen Ländern ermuntern wird. Die Meinungsumfragen haben immer wieder gezeigt, dass die Franzosen auf eine Neuverhandlung setzen. Doch das ist eine große Illusion, denn die Verschiedenartigkeit der Standpunkte der Neinsager schließt eine gemeinsame Verfassungsalternative aus. Und die Staaten, die die Verfassung schon ratifiziert haben, wollen selbstverständlich den Vertrag nicht so schnell ändern.
Eine erneute Verhandlung mit 25 Staaten würde bestimmt kein besseres Ergebnis für Frankreich bringen. Könnten eventuell einige Teile der Verfassung in Kraft treten? Die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates für zweieinhalb Jahre? Die Ernennung des europäischen Außenministers mit dem entsprechenden diplomatischen Dienst? Teillösungen, die niemanden zufrieden stellen können. Wir werden Zeit brauchen, um die genauen Motive der französischen Ablehnung zu untersuchen. Denn die EU und die anderen EU-Mitglieder können nicht so tun, als ob am 29. Mai nichts passiert wäre. Die Antworten gehen uns alle an. War nicht der Text der Verfassung zu lang und zu kompliziert? Welche waren die innenpolitischen, die sozialen und die wirtschaftlichen Gründe des Neins? Ist das gleiche Unbehagen in anderen Ländern nicht auch feststellbar?
Themen wie die Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen, die Delokalisierung, das Lohn- und Sozialdumping und ganz allgemein die Folgen der Globalisierung haben die Debatte schwer belastet. Es gab bittere Klagen über den fehlenden Dialog zwischen den Eurokraten und den Politikern einerseits und den Bürgern Europas andererseits. Krise der Politik? Die Frage nach der Maßlosigkeit der Erweiterungspolitik muss auch offen gestellt werden können, ohne gleich der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt zu werden.
Wir haben ein wirtschaftliches Europa. Weil die EU so groß geworden ist und weil sie eine aktive Rolle in der Weltpolitik wahrnehmen soll, brauchen wir eine starke politische Union mit einem effizienten deutsch-französischen Motor. Europa hat schon viele existentielle Krisen durchgemacht. Aufgeben dürfen wir auf keinen Fall.
Fotos: Picture-Alliance, Privat
Erschienen am 29. Juni 2005
PROF. DR. HENRI MÉNUDIER, Jahrgang 1940, lehrt an der Pariser Sorbonne. Als Experte für Deutschland nach 1945 und für die deutsch-französischen Beziehungen war er Gastprofessor an mehreren deutschen Universitäten. Darüber hinaus ist er unter anderem Präsident des Bureau International de Liaison et de Documentation (BILD) und Herausgeber der französischen Zeitschrift über Deutschland „Documents“.