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Kernstück jeder Plenarsitzung sind die Debatten. Auch wenn sie bestimmten Regeln folgen, ist keine wie die andere. Alle aber finden im Lichte der Öffentlichkeit statt.
Selbst für die routiniertesten Parlamentarier ist es ein besonderer Augenblick. Unter der hohen Kuppel des Reichstagsgebäudes im Plenarsaal am Pult zu stehen, noch einmal tief Luft zu holen und mit den Worten zu beginnen: „Herr Präsident, meine Damen und Herren ...“
Eine Rede im Bundestag zu halten, ist und bleibt die Königsdisziplin. Auch oder vor allem deshalb, weil sie immer am Ende eines langen Arbeitsprozesses steht. Man hat Wissen gesammelt, sich eine Meinung gebildet, in Ausschüssen, Arbeitskreisen, in der Fraktion debattiert und dann versucht, das Beste draus zu machen: Eine Rede, die zusammenfasst, nachvollziehbar ist, die Debatte weiter bringt und im besten Fall auch noch gut anzuhören ist. Eine Rede, nicht nur für die Abgeordneten und schon gar nicht nur fürs Protokoll, sondern für die, die sich ein Parlament gewählt haben und wissen wollen, was das Parlament tut, und ob ihnen von Nutzen ist, was es beschließt.
Bei der SPD-Abgeordneten Bettina Hagedorn hängt ein gelber Zettel im Büro, auf dem steht: „Es geht darum, die Seiten voll zu kriegen!“ Sie lacht: „Das habe ich wirklich mal gesagt, als ich unter großem Zeitdruck meine Zeitung für den Wahlkreis produzieren musste.“ Für das Schreiben von Reden gelte der Spruch nicht, da komme es drauf an, in nur wenigen Minuten das Wichtigste in gut formulierten Sätzen zu sagen.
Bettina Hagedorn ist seit 2002 im Bundestag und kam als geübte Rednerin. Die gelernte Goldschmiedin ging 1983 mit 28 Jahren in die Kommunalpolitik. „Da lernt man den öffentlichen Auftritt. Und doch hat man bei der ersten Rede im Bundestag Schmetterlinge im Bauch.“ Die so genannte Jungfernrede der Haushaltspolitikerin befasste sich mit dem Einzelplan des Familienministeriums im Bundeshaushalt, und es ging hoch her. Parlamentarier, die das erste Mal reden, werden fast immer sehr wohlwollend behandelt. Die eigene Fraktion ist möglichst vollständig da und die Opposition bemüht sich um Zurückhaltung. Der Abgeordneten Hagedorn allerdings wehte gleich ein scharfer Wind ins Gesicht. Zwischenrufe und Beifall hielten sich die Waage. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass sie spontan Zwischenrufe aufnimmt und kontert und ihre Redezeit ein wenig überzogen hat.
Inzwischen stand sie schon fünf Mal im Bundestag am Rednerpult. Ihre Reden schreibt sie selbst, den ersten Entwurf überarbeitet sie mehrmals, ihren Stil beschreibt sie als sachlich und offensiv zugleich. Die Manuskripte zeigen den Prozess der Arbeit: markierte Stellen, Randbemerkungen, Streichungen und Ergänzungen, die noch in letzter Minute gemacht wurden. „Das Blatt in der Hand gibt Sicherheit, aber flexibel muss man trotzdem bleiben. Und man darf nie vergessen, dass man eigentlich für die spricht, die nicht im Plenarsaal sitzen.“ Debatten sind Kernstück jeder Plenarsitzung. Im Vorfeld vereinbart der Ältestenrat für jeden Verhandlungsgegenstand eine Gesamtberatungsdauer. Die Verteilung der Redezeit auf die einzelnen Fraktionen erfolgt in der Regel nach einem festen Schlüssel. Um hier Gerechtigkeit walten zu lassen und Redezeit je nach Stärke der Fraktionen zu verteilen, ist ein wenig nachgebessert worden: Eine Stunde im Deutschen Bundestag dauert 62 Minuten. Das nennt man „Berliner Stunde“. Die zugeteilten Minuten kann eine Fraktion (und die beiden fraktionslosen Abgeordneten der PDS) unter sich aufteilen, wie sie möchte. Grundsätzlich unbegrenztes Rederecht haben Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung.
Die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann hat eine besondere Art, ihre Reden zu schreiben. Musik muss sein, und meist läuft die schlanke dunkelhaarige Rechtsanwältin barfuß durchs Büro, setzt sich immer wieder an den Computer, schreibt, verwirft, schreibt wieder. Sie arbeitet, und dafür braucht die Frau den ganzen Raum. Zwölf Reden hat sie inzwischen im Bundestag gehalten. Sie arbeitet im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und ist die Vorsitzende der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Die erste Rede der 40-jährigen Abgeordneten enthielt den schönen Satz: „Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im rechtsfreien Raum.“
Gitta Connemann hat Sinn für Humor und das Thema dieser Rede war die Schweinehaltungsverordnung. Eine nächste befasste sich mit dem Thema „Schutz der Wale“. „Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden und den Agrarausschuss habe ich mir ausgesucht. Diese Themen liegen mir sehr am Herzen.“
Am meisten irritiert habe sie bei der ersten Rede die rückwärts laufende Digitaluhr im Rednerpult. „Außerdem habe ich am Anfang gedacht: Wo ist der Ausgang und warum bin ich hier? Da unter der Kuppel zu stehen, hinter einem der große Bundestagsadler – das ist schon ein erhebendes Gefühl.“ Die Aufregung hat sich gelegt.
Gitta Connemann kennt Tricks und Kniffe. Zum Beispiel den mit der Büroklammer. Ist kein Rednerpult da, das Halt für die Hände gibt, nimmt sie eine Büroklammer, mit der sie während des Sprechens hantiert. Das sieht niemand und es vermeidet Verlegenheitsgesten. Großartig.
Wenn die Abgeordnete ihre Reden schreibt, geht sie nach einem stringenten Muster vor: Beschreibung des Themas, Sach- und Rechtslage klären, Aufzeigen des Problems, Lösung. Und alles ohne Schuhe, damit die Bodenhaftung stimmt.
Die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner bestimmt der amtierende Präsident oder die amtierende Präsidentin. Er hat dafür zu sorgen, dass Beratungen zweckmäßig gestaltet werden und Rücksicht auf verschiedene Parteirichtungen genommen wird. Und so gilt das Prinzip, dass auf eine Rede eines Mitgliedes der Bundesregierung eine Rede aus den Reihen der Opposition folgt. Aber auch sonst werden Debatten so geführt, dass sich Pro und Contra abwechseln. Es ist ein uraltes Prinzip und ein bewährtes dazu. Zumal auf diese Art und Weise keine Langeweile aufkommt und Ungerechtigkeiten oder falsche Gewichtungen vermieden werden.
Ursula Sowa von Bündnis 90/Die Grünen bevorzugt Klemmbretter. Ihre Mitarbeiter recherchieren zu einem Thema vor, und gemeinsam werden die Schwerpunkte und die Kernbotschaften herausgearbeitet. Danach setzt sich die 47-Jährige an den Computer. Die ausgedruckten Entwürfe kommen auf das Klemmbrett und werden mit Randnotizen, Streichungen, Ergänzungen versehen. Das geschieht oft zu Hause, wo mehr Ruhe ist und man die Rede auch mal laut halten kann. Oder im Zug, da allerdings leise. „Eine gute Übung sind die Reden, die man im Ausschuss, ich in dem für Verkehr, Bauen und Wohnen, halten muss. Außerdem war ich lange Stadträtin. Da habe ich gelernt, zu kämpfen und polemisch zu agieren. Reden müssen schnell auf den Punkt kommen, man darf die Zeit seiner Zuhörer nicht vergeuden.“
Ursula Sowa liebt Zwischenrufe, weil sie zeigen, dass zugehört wird. Sie geht fast immer kurz und polemisch auf diese Meinungsbekundungen ein. Ihre eigenen Spielregeln sind: kurze Sätze, sparsame Gesten, den Boden unter den Füßen spüren, den Blick hin und wieder schweifen lassen und bei schwierigen Passagen nach innen schauen.
Ihre erste Rede im Bundestag hielt sie zu später Stunde und zur Auswertung eines Gutachtens zum Thema Unfallsicherheit. Sehr speziell das Thema, deshalb saßen auch nicht allzu viele im Plenarsaal. Der Stress hielt sich also in Grenzen und Beifall gab es von allen Seiten. Die Lieblingsthemen der Abgeordneten sind Kultur und Bauen. „Da blühe ich auf, da fallen mir Bilder auf, da stöbere ich in meinem Bücherschrank, um einen richtig guten Aufhänger zu finden.“
Wer seine Redezeit überzieht, wird vom amtierenden Präsidenten zunächst gemahnt, und schlimmstenfalls wird ihm oder ihr das Wort entzogen. Harte Regeln, aber notwendig, um die Gesamtberatungsdauer nicht ins Unendliche auszuweiten. Alle Debatten im Bundestag werden von Stenografen protokolliert und können später nachgelesen werden. Zu später Stunde kommt es vor, dass Reden nicht mehr gehalten, sondern nur noch zu Protokoll gegeben werden.
Reden sind gründlich vorbereitet und Debatten folgen einem roten Faden. Deshalb wirken sie für Beobachter fast nie sonderlich spontan. Aber es ist ein Anliegen aller Parlamentarier, sich verständlich und somit Politik nachvollziehbar zu machen.
Die FDP-Abgeordnete Claudia Winterstein hatte ihre Feuertaufe mit 25 Jahren. Da wurde sie Geschäftsführerin des Berliner Landesverbandes der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Und von da an musste sie oft und vor vielen Menschen reden. „Meist waren alle Zuhörenden älter als ich, das hat wirklich mein Selbstbewusstsein trainiert.“ Später wurde die promovierte Philosophin Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Stadtrat Hannover. Da gehörte bei ihr Reden längst zum Handwerk.
Allerdings gibt sie zu, dass schon allein die Größe des Plenarsaals im Reichstagsgebäude einen beeindruckenden Unterschied macht. „Ich sitze als Schriftführerin oft neben dem amtierenden Präsidenten, bin also den Blick von vorn gewöhnt. Aber trotzdem war die erste Rede im Bundestag von Aufregung begleitet. Es ging um den Entwurf der Europäischen Verfassung.“
Claudia Winterstein legt viel Wert auf Anfang und Schluss einer Rede. Mit dem Anfang erwirkt man Aufmerksamkeit, mit dem Ende bleibt man im Gedächtnis. Eine ihrer Reden begann zum Beispiel mit dem Satz: „Zypern ist für Urlauber ein Traum, aber für viele Zyprioten ein Albtraum.“ So ein Sprachbild steht erst einmal.
Mitglieder einer kleinen Fraktion haben wenig Redezeit. Drei Minuten manchmal nur. „Da muss jeder Satz sitzen. Und für den Fall, dass meine Vorredner bereits gesagt haben, was in meinem Manuskript steht, habe ich immer noch den ersten, viel zu langen Redeentwurf mit. Dann disponiere ich um und tausche Absätze aus.“
Auch wenn Claudia Winterstein die freie Rede liebt, weiß sie, dass man im Bundestag mit Manuskript ans Pult gehen sollte. „Einmal, weil man schnell und gut auf den Punkt kommen muss, und zum anderen kommt nach Ablauf der Redezeit ein Saaldiener und möchte das Manuskript für das Protokoll haben.“
Aber auch, wenn alles gut durchdacht sein muss – ob eine Debatte interessant ist, hängt am Ende immer von denen ab, die vorn stehen und Reden halten. „Improvisation ist, wenn niemand die Vorbereitungen bemerkt“, hat François Truffaut es treffend beschrieben.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 18. Oktober 2004