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Das deutsche Gesundheitswesen ruht auf zwei Säulen: Neun von zehn Bundesbürgern und damit mehr als 70 Millionen Menschen sind Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit ihren rund 270 Kassen. Lediglich zehn Millionen Menschen sind bei privaten Krankenkassen versichert (PKV).
Die Voraussetzungen unserer gesetzlichen Krankenversicherung gehen bereits auf die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Vor nunmehr über 120 Jahren trat am 1. Dezember 1884 das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 1883 in Kraft. Dem Gesetz ging die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881 voraus, die Kaiser Wilhelm I. auf Anraten von Reichskanzler Otto von Bismarck verkünden ließ. In dieser Botschaft, die Bismarck selbst vor dem Reichstag verlas, wurden die Grundlinien der künftigen Sozialgesetzgebung festgelegt. Angekündigt wurde eine Dreiteilung der Sozialversicherung in Unfallversicherung, Krankenversicherung sowie Alters- und Invalidenversicherung.
Hinter den Überlegungen Otto von Bismarcks stand ein klares politisches Ziel: Der sozialistischen Arbeiterbewegung sollte der Wind aus den Segeln genommen werden. Das machte Bismarck in der „Kaiserlichen Botschaft“ unverhohlen klar: „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“
Durch das Krankenversicherungsgesetz von 1883 wurde erstmals in Europa eine Versicherungspflicht für Arbeiter eingeführt. Die Grundprinzipien haben sich bis heute letztlich nicht geändert. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen gemeinsam in die Versicherung ein, die im Falle der Krankheit die Kosten für die Behandlung und die Medikamente übernimmt und nach dem Ende der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber Krankengeld zahlt.
Tragendes Element der Krankenversicherung ist das Solidarprinzip: Der eingezahlte Beitrag richtet sich nicht nach dem individuellen Krankheitsrisiko, dem Geschlecht oder dem Alter des Versicherten, sondern nach der Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen. Die Leistungen sind dagegen bis auf das Krankengeld identisch. Die Folge: Die Gesunden zahlen für die Kranken, die Jungen für die Alten, die Bezieher hoher Einkommen für die Geringverdiener. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung werden daher auch als Solidargemeinschaft bezeichnet.
Gesetzliche Grundlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist das Sozialgesetzbuch, dessen Fünftes Buch (SGB V) sich mit der GKV beschäftigt. In Paragraf 1 heißt es dort: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Bei der gesetzlichen Krankenversicherung handelt es sich nicht um einen staatlichen Gesundheitsdienst. Stattdessen ist die GKV nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert. Versicherte und Arbeitgeber gestalten unter staatlicher Aufsicht im Rahmen der gesetzlichen Regeln zusammen mit der hauptamtlichen Verwaltung die Tätigkeit ihrer Krankenkasse selbst. Organe der Selbstverwaltung sind der Verwaltungsrat und der Vorstand. Der Verwaltungsrat ist in der Regel paritätisch mit Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt. Die Mitglieder werden bei den Sozialwahlen gewählt, die alle sechs Jahre stattfinden. Der Verwaltungsrat bestellt den hauptamtlichen Vorstand und beschließt neben der Satzung unter anderem die Höhe des Beitragssatzes.
Die Krankenkassen arbeiten wiederum mit der Ärzteschaft und den Krankenhäusern in der so genannten gemeinsamen Selbstverwaltung zusammen. Ihr oberstes Gremium ist der Gemeinsame Bundesausschuss. Seit Januar 2004 haben dort auch Patientenvertreter aus vier bundesweiten Organisationen ein Mitberatungsrecht. Der Bundesausschuss beschließt unter anderem, welche Medikamente und Behandlungsmethoden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden.
Die Kassenärzte haben in der GKV eine besondere Verantwortung. Sie besitzen ein Monopol für die Behandlung von Kassenpatienten. Dafür müssen sie im Gegenzug garantieren, überall in Deutschland für eine ausreichende medizinische Versorgung zu sorgen (Sicherstellungsauftrag). Die Verwaltung für die Kassenärzte übernehmen die 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Sie schließen für alle Kassenärzte eines Bezirkes Kollektivverträge mit den Krankenkassen über die Honorare ab. Die Kassen überweisen dann die vereinbarten Mittel an die KV. Der einzelne Arzt rechnet die Vergütung für seine Arbeit daher nicht selbst mit den Krankenkassen ab, sondern mit der für ihn zuständigen KV. Jede ärztliche Leistung wird auf Basis des „Einheitlichen Bewertungsmaßstabs“ (EBM) mit einer Punktzahl bewertet. Um den Wert eines Punktes zu berechnen, wird am Ende der von den Kassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen überwiesene Pauschalbetrag durch die Summe aller erbrachten Punkte geteilt. Je mehr Leistungen erbracht werden, desto geringer fällt also der Punktwert aus.
Kompliziert ist auch das Zusammenspiel der verschiedenen Krankenkassen. Ein besonderer Ausgleichsmechanismus – der Risikostrukturausgleich (RSA) – sorgt dafür, dass diejenigen Kassen, die viele Alte und gering Verdienende versichert haben, Geld von den Kassen erhalten, die mehrheitlich Junge und gut Verdienende als Versicherte haben. Das ist notwendig, da in Deutschland grundsätzlich keine gesetzliche Krankenkasse innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs einen Antrag auf Mitgliedschaft ablehnen darf, egal wie hoch das Krankheitsrisiko des Antragstellers ist oder wie gering das Beitragsaufkommen aus der (künftigen) Mitgliedschaft sein wird. Mit dem RSA nebst dem Ausgleich für aufwändige Leistungsfälle (Risikopool), durch die jährlich fast 16 Milliarden Euro umverteilt werden, wird verhindert, dass etwa Krankenkassen nur auf Grund ihrer günstigen Mitgliederstruktur niedrige Beitragssätze anbieten können, während andere Krankenkassen wegen einer ungünstigeren Mitgliederstruktur hohe Sätze kassieren müssen.
Streng reglementiert ist in Deutschland zudem der Arzneimittelhandel. Arzneimittel dürfen nur über Apotheken abgegeben werden. Um eine flächendeckende und sichere Versorgung sicherzustellen, dürfen zum Beispiel nur ausgebildete Apotheker eine Apotheke führen. Zudem ist der Wettbewerb eingeschränkt. Zwar wurde das Mehrbesitzverbot mit der zum 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsreform aufgehoben. Apothekenketten sind allerdings verboten. Ferner wurde das Versandhandelsverbot aufgehoben. Seitdem dürfen auch über Internetapotheken Arzneimittel in Deutschland bezogen werden.
Darüber hinaus sind auch die Preisspannen für Arzneimittel beim Großhandel und den Apotheken gesetzlich festgelegt. Die Pharmafirmen können die Preise für Arzneimittel aber frei gestalten. Die GKV als größter „Kunde“ bedient sich allerdings einiger Schutzmechanismen, damit die Preise nicht willkürlich hoch festgelegt werden. So existieren für viele Arzneimittel so genannte Festbeträge. Das ist die maximale Summe, die die gesetzlichen Kassen für ein bestimmtes Medikament erstatten.
Die im Konsens zwischen rot-grüner Bundesregierung und der CDU/CSU im Jahr 2003 vereinbarte Gesundheitsreform brachte für alle Beteiligten im System der gesetzlichen Krankenversicherung eine Reihe von Veränderungen. Neben den erwähnten Kollektivverträgen sind nunmehr auch direkte Verträge zwischen Kassen und Ärzten möglich. So können zum Beispiel Krankenkassen spezielle Hausarztsysteme aufbauen, in denen der Hausarzt als „Lotse“ fungiert. Dieses Modell haben bereits einige Kassen umgesetzt. Die Politik verspricht sich von derartigen Wettbewerbselementen in der Krankenversicherung eine deutliche Senkung der Kosten durch eine höhere Effizienz. Diesem Ziel soll auch die Einführung einer elektronischen Versichertenkarte im Jahre 2006 dienen. Geplant ist ein bundesweit vernetztes System, um Rezepte, Befunde oder Notfalldaten elektronisch abzuspeichern und überall abrufbar zu machen.
Für die Versicherten brachte die Reform vor allem eine höhere Eigenbeteiligung an den Krankheitskosten. Die schon bestehende Zuzahlung unter anderem zu Medikamenten wurde ausgebaut und um eine Praxisgebühr von zehn Euro ergänzt. Damit es nicht zu einer Überforderung kommt, ist die Eigenbeteiligung allerdings pro Jahr begrenzt auf ein Prozent des Bruttoeinkommens bei Chronikern, sonst zwei Prozent. Vorsorgeuntersuchungen sind zuzahlungsfrei. Versicherte, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind weiterhin von allen Zuzahlungen befreit.
Eine deutliche Senkung des Beitragssatzes, eigentlich Ziel der Reform, ist bisher nicht erreicht worden. Allerdings konnte ein Anstieg verhindert werden. Betrug der durchschnittliche Satz zum 1. Januar 2004 14,27 Prozent, waren es zum 1. Januar 2005 14,19 Prozent. Dass auch diese Reform nur eine Verschnaufpause bringt, ist allen Beteiligten klar. Einig sind sich die Parteien, dass ein weiterer Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge und damit der Lohnnebenkosten vermieden werden muss. Zwar ist unstrittig, dass das bestehende System effizienter gestaltet werden kann. Allen Beteiligten ist aber klar, dass damit die steigenden Gesundheitskosten nicht auf Dauer aufgefangen werden können. Schon am Tag nach der Einigung von Regierung und Opposition über die Gesundheitsreform im Sommer 2003 hatten Vertreter aller Parteien deutlich gemacht, dass sie eine grundlegende Umgestaltung des Krankenversicherungssystems für nötig erachten.
Warum die Ausgaben in Zukunft weiter wachsen werden, liegt für Fachleute auf der Hand. Insbesondere wird der medizinisch-technische Fortschritt dazu führen, dass die Ärzte in Zukunft bisher nicht heilbare Krankheiten in den Griff bekommen. Das wird zunächst enorme Kosten verursachen, wie das Beispiel Aids zeigt: Während früher fast alle Aids-Infizierten nach schnellem Ausbruch der Krankheit starben, leben heute viele Infizierte dank neuer, extrem teurer Medikamentencocktails deutlich länger.
Aber auch die demografische Entwicklung hat ihren Einfluss auf die Kosten. Denn die Bevölkerung wird älter, während gleichzeitig weniger Kinder geboren werden. Das bringt das Solidarsystem immer stärker aus der Balance, weil ältere Menschen höhere Ausgaben verursachen können, zugleich aber weniger in die Krankenversicherung einzahlen als der sich dann verkleinernde Kreis der Beitragszahler im Berufsleben. Die Folge wären steigende Kosten, die ohne umfassende Strukturreformen von einer sinkenden Zahl von Erwerbstätigen geschultert werden müssten.
Text: Timot Szent-Ivanyi
Fotos: Picture-Alliance, Mauritius
Grafik: Marc Mendelson
Erschienen am 18. April 2005
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