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Sie treffen sich immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Sie beratschlagen miteinander und ihr oberstes Ziel ist die gütliche Einigung zum Vorteil aller Abgeordneten und Fraktionen. Es ist ihnen eine Ehre, Mitglied des Ältestenrates des Deutschen Bundestages zu sein. Deshalb nehmen sie die Aufgabe ernst, ersparen dadurch den anderen Mitgliedern des Bundestages viel Zeit und erleichtern ihnen den politischen Arbeitsalltag. Ein Besuch hinter den Kulissen des Bundestages bei den effizienten Organisatoren des parlamentarischen Geschehens.
Nach außen spricht der Ältestenrat mit einer Stimme. Das ist erstaunlich, denn seine Mitglieder sind nicht nur als Menschen so verschieden, wie das Leben abwechslungsreich ist. Sie gehören auch unterschiedlichen Fraktionen an, sie vertreten verschiedene Überzeugungen und sie verfolgen im Bundestag oft gegensätzliche politische Interessen. Aber allen gemeinsam ist die Fähigkeit – vielleicht ausgeprägter als bei manch anderen –, sich auf andere einzulassen und den Konsens zu finden. Sind das deshalb ganz besondere Menschen und Politiker, die Mitglieder des Ältestenrates?
Sabine Bätzing ist gerade mal 30 Jahre jung, groß und schlank und von einer Fröhlichkeit, die von innen kommt. „Menschen, die sozusagen immer Schlagzeilen produzieren wollen, passen vielleicht nicht so gut in dieses Gremium“, sagt sie schmunzelnd. Die SPD-Abgeordnete und diplomierte Verwaltungswirtin aus Altenkirchen gehört dem Ältestenrat erst seit einem halben Jahr an. Als sie die Pressemitteilung zur neuen Funktion rausschickte, waren viele verwundert. Und natürlich blieb eine Frage nicht aus: Ob sie schon „alt genug“ für diese Arbeit sei.
Einer, der schon zu den ganz erfahrenen Abgeordneten gehört, ist Michael Stübgen, Mitglied des Bundestages seit 1990. Der 45-Jährige aus Finsterwalde, der Sängerstadt im Landkreis Elbe-Elster, hat vielleicht von Berufs wegen die Fähigkeit, anderen zuzuhören und zugewandt zu sein. Er ist Pfarrer und weiß, wie man miteinander redet, so dass es zum Nutzen aller sein kann. Im Ältestenrat sitzt der CDU-Abgeordnete seit 1999, bis dahin war er Mitglied der Jungen Gruppe. „Was mich am meisten interessiert hat“, sagt er, „ist die besondere Streitkultur mit dem Ziel, einen Konsens zu finden.“
Irmingard Schewe-Gerigk ist Parlamentarische Geschäftsführerin in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und somit qua Amt seit 2002 auch Mitglied im Ältestenrat. Die 57-jährige Redakteurin aus Herdecke wäre aber auch ohne das Fraktionsamt geeignet für diese Arbeit. Bereits zum dritten Mal Mitglied im Deutschen Bundestag ist sie. Eine, die auch innerhalb der Fraktion dafür steht, dass miteinander geredet und in der Sache gestritten wird, mit dem Ziel, die beste Lösung zu finden. „Ich arbeite gern in einem Gremium, das zu einer effizienten parlamentarischen Arbeit beiträgt. Dazu gehört auch, sich um Dinge zu kümmern, die den Abgeordneten manchmal das Leben schwer machen.“
Wer den FDP-Abgeordneten Ernst Burgbacher kennt, der weiß, dass es zu ihm passt, Mitglied dieses Konsensorgans zu sein. Der 56-jährige FDP-Abgeordnete und parlamentarische Geschäftsführer seiner Fraktion aus der Musikstadt Trossingen ist zwar ein streitbarer Politiker, aber viel wichtiger als ein Sieg ist ihm immer gewesen, andere zu überzeugen und mitzunehmen bei einer Entscheidung. Die das nicht verstehen, nennen ihn manchmal einen Sozialromantiker. „Das bin ich nicht, aber ein konsensualer Mensch, dem Engagement wichtiger ist als medientauglicher Streit.“ Ernst Burgbacher ist Mitglied der Kommission des Ältestenrates für Innere Angelegenheiten und als solches gehalten, sich um die ganz alltäglichen Sorgen all jener zu kümmern, die für den Bundestag arbeiten und in ihm tätig sind.
Alle hatten eine bestimmte Erwartung an die Arbeit im Ältestenrat, die sich aus Wissen nährte und durch die eigene Fantasie ergänzt wurde. Alle vier sagen, dass die größte Überraschung die Stringenz gewesen ist, in der die Sitzungen abgehalten werden. Eher hatte jede und jeder erwartet, dass die 14-Uhr-Runde an jedem Donnerstag der Sitzungswoche stundenlang dauern würde. „Ich wusste, dass wir uns vorrangig um die organisatorischen Abläufe der Sitzungswochen kümmern. Ein an sich ja ziemlich kompliziertes Konstrukt, also dachte ich, das würde ziemlich viel Zeit kosten“, beschreibt Sabine Bätzing ihre Vorstellung. Was die SPD-Abgeordnete überraschend fand, war der Anruf am Tag vor der Sitzung, bei dem sie gefragt wurde, ob sie Normalkost oder vegetarisch essen möchte.
Das gemeinsame Essen am Anfang einer Sitzung gefällt auch Ernst Burgbacher, der sich selbst auf seiner Homepage als Genießer outet. „Allerdings geht es im Ältestenrat eher darum, sich mit dem viertelstündigen gemeinsamen Mahl am Anfang aufeinander einzustellen. Essen hält nicht nur Leib und Seele zusammen, es verbindet die, die miteinander am Tisch sitzen.“
Irmingard Schewe-Gerigk, die Vorsitzende der Bau- und Raumkommission des Ältestenrates ist, hatte zwar erwartet, dass neben der Neubauplanung auch viele „Kleinigkeiten“ auf den Tisch kommen, von der Menge aber war sie dann doch überrascht. „Vom Halteverbot in der Wilhelmstraße bis zu den Schwierigkeiten mit der Betonkerntemperierung reichen die Probleme und selbst heute erstaunt es mich noch manchmal, welche kleinen Sorgen uns neben den großen Themen auch beschäftigen. Aber das ist wichtig und deshalb gut.“
Michael Stübgen, einer der weiß, wie wichtig der Gestus der Sprache ist, hat zwar erwartet, dass es im Ältestenrat sachlich und weniger polemisch zugeht, aber dann war er doch ein wenig überrascht, wie ruhig die Debatten laufen. „Selbst die Parlamentarischen Geschäftsführer, eigentlich ja Kampfredner ihrer Fraktionen, gehen hier eher gelassen an die Dinge ran. Das entspricht ja auch dem Grundverständnis des Gremiums, obwohl es natürlich nicht streitlos abgeht. Auch im Ältestenrat kann man gewinnen oder verlieren.“
Damit hat er Recht, denn auf die Frage nach einem ganz besonderen Thema haben alle vier und unabhängig voneinander die Diskussion über das Ansinnen, Szenen für „Mission Impossible 3“ in der Reichstagskuppel zu drehen, benannt. Die war recht kontrovers, denn die einen fanden die Idee nicht schlecht und die anderen der Würde des Hauses nicht angemessen. Am Ende ging es gegen Tom Cruise und Sean Connery aus. Das wurde zwar mit einer Stimme verkündet, aber nicht einstimmig befürwortet.
Irmingard Schewe-Gerigk: „Das wichtigste ist der Tagesordnungspunkt ‚Verschiedenes’, das lernt man gleich in der ersten Sitzung. Damals lag die Beschwerde von Abgeordneten vor, die wegen eines Halteverbots am Bundestagseingang in der Willhelmstraße selbst mit schwerem Gepäck weit laufen mussten, um dem Fahrdienst entgegenzugehen. Bis das Problem mit der Berliner Senatsverwaltung gelöst wurde, hat es zwei Jahre gedauert. Also habe ich gleich am Anfang gelernt, dass Geduld und Hartnäckigkeit gefragt sind.“
Ernst Burgbacher: „Die erste Sitzung war schon was Besonderes. Gepflegte Atmosphäre, Namensschilder, ein nicht ganz geschlossener Kreis. Wenn ich irgendwo neu bin, beobachte ich erst einmal und schweige. Das habe ich auch im Ältestenrat gemacht. Und gemerkt, dass die gute Vorbereitung der Sitzungen in den Kommissionen und durch die Parlamentarischen Geschäftsführer natürlich viel dazu beiträgt, dass man so schnell und effektiv arbeitet.“
Sabine Bätzing: „Ich hatte Unterlagen ohne Ende, aber dann ging es unglaublich schnell, das alles abzuarbeiten. Und dann ist da noch die berühmte bunte Liste, die so heißt wegen der verschieden farbigen Blätter und die man immer bei sich hat. Auf der steht alles, was im Laufe einer Legislaturperiode erledigt werden muss. Was nicht erledigt wird, verfällt und muss völlig neu aufgestellt werden. Das nennt man das Prinzip der Diskontinuität.“
Michael Stübgen: „Ich arbeite seit vielen Jahren im Europaausschuss und finde, auch dort herrscht eine besondere Streitkultur, die geprägt ist von der Suche nach dem Konsens. Die habe ich auch und noch stärker ausgeprägt im Ältestenrat vorgefunden. Die erste Sitzung habe ich noch in Bonn erlebt. Irgendwie hat es mich ein wenig an das Gremium der Kirchenältesten erinnert, die ja als Berater des Pfarrers fungieren und sich um viele technische Angelegenheiten kümmern müssen. Insofern hat der Name Ältestenrat schon seine Berechtigung, obwohl er halt auch in die Irre führen kann. Aber ich wüsste auch keinen besseren.“
Alle vier sind routiniert und mitten drin im Arbeitsalltag des Ältestenrates. Sie bereiten sich in der jeweiligen Sitzungswoche gründlich vor, sind bei ihren Fraktionskolleginnen und -kollegen bekannt dafür, dass man bei ihnen Sorgen und Beschwerden loswerden kann und sie sich dann darum kümmern werden. Sie wissen, dass manche Dinge viel Zeit brauchen, auch wenn es am Anfang nicht so aussieht. Und dass andere sich auf seltsame Art und Weise klären, wie die mit dem gestohlenen Fahrrad von Christian Ströbele, das sich kurze Zeit später auf einem Trödelmarkt in Kreuzberg wiederfand.
Ihnen ist klar, dass sie sich nicht mit jeder Entscheidung nur Freunde machen. „Wir hatten mal die Beschwerde einiger Abgeordneter, dass die Schleusen in den Eingängen der Häuser des Bundestages zu viel Zeit kosten und abgeschafft werden sollten. Und wir haben dagegen entschieden, weil die dort arbeitenden Mitarbeiter dann frieren müssten“, erinnert sich Irmingard Schewe-Gerigk an eine solche Entscheidung. Die Mitglieder des Ältestenrates haben sich an die Besonderheiten dieser Runde gewöhnt. „In vielen anderen Sitzungen, die ich kenne, hoffen immer alle, dass sich niemand mehr meldet, wenn der Tagesordnungspunkt ‚Verschiedenes’ aufgerufen wird. Im Ältestenrat ist es der wichtigste und eigentlich auch interessanteste. Von der Kabarettveranstaltung im Bundestag bis zu Tom Cruise ist hier halt alles enthalten“, sagt Sabine Bätzing.
Sie alle kennen die Möglichkeiten des Gremiums, dann einzugreifen, wenn im parlamentarischen Ablauf zu sehr taktiert wird. „Dann ist es auch mal nötig, eine Sondersitzung einzuberufen, beispielsweise, wenn die Geschäftsordnung aus taktischen Erwägungen heraus zu sehr interpretiert wird. Oder wenn die Abstimmungsform des ‚Hammelsprungs’ zu stark dafür ausgenutzt wird, auf Zeit zu spielen, um eine Mehrheit für die Regierungskoalition im Plenarsaal herzustellen“, sagt Michael Stübgen.
Und sie wissen auch, dass die Stimmung im Ältestenrat nicht immer gleich ist. „Wenn am Donnerstagvormittag eine harte Debatte im Plenum stattgefunden hat, dann schlägt das natürlich auch auf die Sitzung um 14 Uhr durch. Wir sind auch nur Menschen, reagieren nicht nur rational und geben unsere Gefühle nicht an der Garderobe ab“, sagt Ernst Burgbacher.
Alle vier Abgeordneten – vier von insgesamt 28 – stehen dafür, dass der Ältestenrat effizient arbeitet und somit seinen Auftrag erfüllt. Zugleich ist er aber nicht mehr und nicht weniger als jedes andere parlamentarische Gremium: eine bunte, kluge Mischung. So bunt wie das Leben und so klug, wie Politik sein sollte.
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier
Erschienen am 29. Juni 2005