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Oktober 09/1999
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Zuerst ging es um Demokratie und Selbstbestimmung

von Stephan Hilsberg

Was sind wir mit der Frage traktiert worden: "Was bringt der Osten in die Deutsche Einheit ein?" Heute herrscht kein Zweifel mehr. Deutschland ist durch die Einheit reicher geworden.

Die Erfüllung des verloren geglaubten Traumes hat ein Trauma abgeschüttelt, das noch in den 80er Jahren von nicht wenigen für eine Tugend, für eine staatsbürgerliche Pflicht jedes Deutschen gehalten wurde. Darunter waren übrigens auch respektable Persönlichkeiten wie der frisch gebackene Nobelpreisträger Günter Grass. Die Deutsche Einheit, hieß es, sei uns Deutschen wegen der Verbrechen der Nazis, dem Holocaust, auf ewig verwehrt.

Unsere europäischen Nachbarn sahen das anders und dies übrigens auch wegen der Montagsdemonstrationen in Leipzig und einer ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung, die keinen Zweifel an ihrem Willen zu einem demokratischen und friedlichen Umbruch in der DDR aufkommen ließ. Die Demonstranten bei den Kundgebungen im Herbst 1989 haben das auch anders gesehen. Es wäre schwer gewesen, ihnen diesen Wunsch auszuschlagen und hätte den Deutschen ein weiteres Trauma in ihrer Geschichte beschert.

Heute wirft man den ehemaligen Bürgerrechtlern gern vor, sie hätten die Deutsche Einheit nicht gewollt. Dieser Vorwurf blendet die damalige politische Situation naiv aus: Zwei atomar hochgerüstete Militärblöcke, die sich an der innerdeutschen Grenze gegenüberstanden, der Osten zudem in der Hand der machtbewussten und erfahrungsgemäß skrupellosen Kommunisten, da konnte man nicht schnurstracks auf die Deutsche Einheit zustreben. Da ging es zuerst um Demokratie und Selbstbestimmung in der DDR. Es ging um Recht und Freiheit, beides von zentraler Bedeutung für eine Einheit der Deutschen. Nach dem unter Beweis gestellten Friedenswillen der alten Bundesrepublik zeigte nun auch Ostdeutschland, dass es klug mit seiner historischen Chance umzugehen verstand.

Der Mauerfall

Es stimmt, die SED war in eine Krise geraten. Der Verzicht auf die Breschnew-Doktrin durch Gorbatschow veränderte die Position der sowjetischen Truppen im Land. Aus Besatzern wurden Gäste, die keine Garanten des kommunistischen Machtanspruchs in der DDR mehr waren. Damit aber war das Ende der SED keineswegs sicher. Aber ihr Bankrott war offenbar geworden und damit der Verlust von Perspektiven. Die SED konnte den Bürgern keine Zukunft mehr bieten. Es war kein Zufall gewesen, dass die in den 70er Jahren begonnene Ausreisebewegung nun zu einem mächtigen Strom anschwoll. Diese Abstimmung mit den Füßen höhlte den Staat sprichwörtlich aus.

Und doch war sein Ende auch damit noch nicht besiegelt. Auch nicht mit dem Mauerfall. Dieser war eher eine Verzweiflungstat der ostdeutschen Kommunisten, die Druck aus dem Kessel DDR nehmen wollten, um politisch wieder die Initiative zu erlangen. Die SED stellte sich zwar auf einen Machtverlust ein, hoffte aber gleichzeitig auf eine Chance zur Weiterexistenz als kommunistische Partei und auf die des Staates. Der erste Teil der Rechnung ist aufgegangen. In der PDS hat die SED ihre Fortsetzung gefunden. Der zweite Teil misslang. Das ist die Leistung der sich ausdifferenzierenden oppositionellen Bewegung, die zuerst in der Sozialdemokratischen Partei, dann im Demokratischen Aufbruch und in der Grünen Partei den ostdeutschen Parlamentarismus vorzeichnete. Hingegen hatten andere Initiativen wie Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte viel zu spät registriert, dass nun die Zeit für politisches Handeln gekommen war. Ein Dialogangebot oder ein politisches Angebot zum Engagement für Frieden und Menschenrechte war zu wenig und für die Bürger nicht attraktiv.

Die SED musste sich freien, geheimen und gleichen Wahlen stellen, in denen sie unterging. Die Initiatoren der neu gegründeten Parteien waren sämtlich Ostdeutsche, die zum Teil seit Jahrzehnten auf den Moment des SED-Machtverlustes hingearbeitet hatten. Das konnte man von den westdeutschen Parteien so nicht behaupten, wenngleich der von ihnen unterstützte Helsinki-Prozess zu einem "domestizierten" Sozialismus beigetragen hatte.

Mit dem Ende des kommunistischen Systems in der DDR wurde Deutschland westlicher. Wenn man davon ausgeht, dass die Phase der Teilung Deutschlands nur ein Teil seiner Geschichte ist, dann war die DDR ein Teil von Deutschland. Dann war die Entmachtung der SED im Ergebnis der Demokratisierung der DDR eine Verwestlichung Deutschlands. Diese Verwestlichung wurde vollendet mit der Deutschen Einheit. Das ist das eigentliche Geschenk der Ostdeutschen: Sie haben Deutschland westlicher gemacht und damit menschlicher, humaner, freiheitlicher und lebendiger.

Deutschland hatte es nach der Entmachtung der Kommunisten gleichermaßen schwerer und leichter als seine osteuropäischen Nachbarn. Deutsche Einheit und Überwindung des Kommunismus sind eben zweierlei Dinge. Vergleicht man den Lebensstandard der Menschen diesseits und jenseits der deutschen Ostgrenze, versteht man die Klagen der Ostdeutschen nicht. Doch gibt es in Deutschland nur wenige, die in der öffentlichen Rede den Ton finden, mit dem Ost- und Westdeutsche sich gleichermaßen identifizieren können. Aus dieser Beobachtung wurde die Metapher von der Mauer in den Köpfen und von der nicht vollendeten inneren Einheit.

Nach wie vor haben die Probleme Ostdeutschlands einen eigenen Charakter. Deshalb kann man durchaus vom Fortbestehen einer eigenen Geschichte Ostdeutschlands sprechen. Diese ist nicht mit übertriebenen Erwartungen zu erklären, die, wie manche meinen, einfach nur runtergeschraubt werden müssten. Ostdeutschland hat in sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht die alten Bundesländer noch lange nicht eingeholt. Was die Ostdeutschen hier an Defiziten registrieren und was sie als Versagen der Politik interpretieren, hat seine Ursachen allein in der SED-Diktatur und in zahlreichen Fehlern des Einigungsprozesses.

Hier liegt ein neues Aufgabenfeld für die ehemaligen Bürgerrechtler. Deren Leistung war es, sich mit dem eigenen Land zu identifizieren und sich dafür verantwortlich zu erklären, trotz der scheinbar fest zementierten Macht der SED. Die Masse der Ostdeutschen tat dies nicht. Sie hat die DDR nicht akzeptiert, auch deren Wirklichkeit nicht, sie hat sich in Nischen zurückgezogen oder das Weite gesucht. Ganz zu schweigen von den Mitläufern des Systems, die in ihm Karriere machten. Mit Verantwortung für das Land hatte das kaum etwas zu tun. An dieser Verantwortungslosigkeit hat sich bis heute wenig geändert. Zu DDR-Zeiten konnten die Ostdeutschen abends in eine Traumwelt fliehen, sie reisten via Fernseher in den Westen aus. Das geht heute nicht mehr. Dennoch haben sich noch zuwenig Ostdeutsche als politisch handelnde, aktive, ihrer eigenen Kreativität bewusste Bürger entdeckt.

Die daraus folgende öffentliche Enthaltsamkeit liegt schwer über dem Land. Nicht so schwer wie vor 1989, aber durchaus vergleichbar. Damals durfte man sich von der Interessenlosigkeit der Mitbürger nicht schrecken lassen. Das haben die Oppositionellen auch nicht getan. Sie haben ihre Konzepte und Ideen für Menschenrechte, Frieden, Umwelt- und Bildungsfragen entwickelt. Darin besteht auch heute ihre Aufgabe. Pädagogisch gesehen geht es darum, Zeichen der Hoffnung, des Selbstvertrauens und des Vertrauens in die Zukunft zu setzen. Jeder, der sich für die Demokratie und die offene Gesellschaft einsetzt, stärkt sie.

Heute, zehn Jahre danach, stehen wir in der Phase der Konsolidierung der Einheit, in einer Phase des Zusammenwachsens der Teile, des sich Aneinanderreibens und des Aneinandergewöhnens. Da gibt es auch unschöne Szenen, letztlich aber einen großen Normalisierungsprozeß. Jammerossi und Besserwessi sind begriffliche Auswüchse dieses Prozesses, an dessen Ende nicht Empörung und Wut, sondern Normalität stehen wird.

Stephan Hilsberg
Stephan Hilsberg,

ein führender Kopf der DDR-Bürgerrechtsbewegung, wurde am 17. Februar 1956 in Müncheberg/Mark (Brandenburg) geboren. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Nach dem Besuch einer Polytechnischen Oberschule in Berlin und dem Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee arbeitete er von 1976-89 als Programmierer am Institut für Medizinische Physik und Biophysik an der Berliner Charité. Ab 1988 engagierte er sich in der Oppositionsbewegung und gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Er wurde deren Erster Sprecher, dann Geschäftsführer der SPD in der DDR. Im März 1990 wurde er Mitglied der frei gewählten Volkskammer der DDR. Seit dem 3. Oktober 1990 ist Hilsberg Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis 282 (Bad Liebenwerda, Finsterwalde, Herzberg, Luckau, Lübben), seit 1997 ist er Mitglied des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion und hat seit 1998 das Amt des bildungs- und forschungspolitischen Sprechers seiner Fraktion inne.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9909/9909004
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