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Oktober 09/2000
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DEBATTE ZUM CDU/CSU-ANTRAG "JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND"

Plenum fordert Zivilcourage gegen Gewalt und Antisemitismus

(in) Mehr Zivilcourage im Alltag trägt zu einem Klima der Ächtung menschenrechtsfeindlicher Äußerungen und Taten bei, erklärt die CDU/CSU-Fraktion in einem Antrag zum jüdischen Leben in Deutschland (14/4245). Der Bundestag hat ihn am 12. Oktober zur Beratung an den Innenausschuss überwiesen. Danach wird die Entstehung einer Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden in den vergangenen Jahrzehnten begrüßt und als Ausdruck des Vertrauens in die Demokratie und vor allem in die junge Generation gewertet.

Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden sei eine Bereicherung für das Land, wenn man sich bewusst mache, wie sehr jüdische Mitbürger die Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft, Politik und Kultur vorangebracht und gefördert hätten, so die Union.

Diese Kultur müsse ihren Reichtum wieder voll entfalten können. Verurteilt werden die Anschläge gegen jüdische Einrichtungen in Deutschland. Es müsse alles getan werden, um die "schändlichen Straftaten" aufzuklären, die Täter zu bestrafen und vor allem den Taten wirksam vorzubeugen. Durch deutlichen Protest und entschiedenes Eintreten für einen zivilisierten Umgang miteinander müssten Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten überwunden werden.

Geschichtliche Erinnerung dürfe nicht verblassen und eine Kultur des Verstehens und der Verständigung müsse auf allen Ebenen unterstützt werden, heißt es weiter. Der religiöse Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften könne dazu beitragen, dass aus Ablehnung Toleranz, Achtung und Wertschätzung wird.

"Aufstand der Anständigen"

Bei der Diskussion des Antrags im Plenum des Deutschen Bundestages am 12. Oktober zeigte sich Heinz Schmitt (SPD) sehr berührt davon, dass es heute in Deutschland wieder 83 jüdische Gemeinden gibt und die Zahl jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger auf 80.000 gestiegen ist. Es stelle sich die Frage, "ob und wie wir diesem Vertrauen gerecht werden". Zum breiten Konsens, den Rechtsextremismus mit den Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen, sei Entschlossenheit gefordert, "auch gegen die Wurzeln rechtsextremistischer Einstellungen vorzugehen". Es sei alarmierend, wenn Schulklassen mit den elementaren Regeln und Werten der Demokratie nicht vertraut seien. Wer diese nicht kenne, sei anfällig für die "einfachen Lösungen rechtsextremer Rattenfänger". Dringend notwendig sei es, in den Schulen wieder demokratisches Verhalten zu üben. Auch die Elternhäuser seien in die Pflicht zu nehmen. Eine geeignete Familienpolitik müsse dafür sorgen, "Konflikte in der Familie ohne Gewalt" zu lösen. Gewalt in der Gesellschaft resultiere auch aus Gewalt in Familien. Es müsse Schluss sein mit dem Wegsehen: "Wir brauchen den vom Kanzler geforderten Aufstand der Anständigen."

"Angriff auf uns alle"

Als ein ermutigendes Zeichen und Ausdruck eines wieder entstandenen Vertrauens wertete Friedrich Merz (CDU /CSU) die Zunahme jüdischer Gemeinden in Deutschland. Die außerordentliche Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Kultur in Deutschland sei ohne die großartigen Beiträge jüdischer Mitbürger nicht möglich gewesen. Namen wie Mendelssohn, Börne, Heine, Tucholsky, Feuchtwanger, Buber, Cohen, Lessing oder Rathenau machten den großen Verlust durch den Holocaust deutlich. "Wir wollen und müssen alles tun, damit diese Kultur ihren Reichtum auch in Zukunft in Deutschland weiterhin und wieder voll entfalten kann", sagte Merz. Die Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen "verurteilen wir mit Nachdruck", so Merz. Sie seien kein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft insgesamt. Deutschland sei und bleibe ein weltoffenes, tolerantes Land. Angriffe auf jüdische Bürger und ihre Einrichtungen würden "als Angriff auf uns alle" verstanden, dem man entschlossen begegnen müsse.

Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, bei den Werten des Grundgesetzes, die es zu schützen gelte, handele es sich nicht um ein Problem von Minderheiten. Kritisch setzte Özdemir sich mit dem Begriff "Deutsche Leitkultur" auseinander. Wenn es in einem Land mit verschiedenen Kulturen, Lebensstilen und Religionen eine Leitkultur gebe, so dürfe man sich nicht wundern, wenn andere dies als Aufforderung missverstünden und meinten, "Leitkultur" anders umsetzen zu müssen. Wenn morgens betont werde, wie wichtig verschiedene Kulturen für das Land seien, wenn mittags Antisemitismus und Rassismus verurteilt würden und abends im Wahlkampf gesagt werde, es dürfe keine Tabus mehr geben, man müsse auch über "die Überfremdung" reden können, dann müsse diesen Leuten klar gesagt werden, dass es so nicht gehe – dass man das "nicht durchgehen" lasse.

Guido Westerwelle (F.D.P.) nahm ebenfalls Bezug auf das Grundgesetz und erklärte, darin stehe nicht, die Würde der Deutschen oder der Christen sei unantastbar. Alle Menschen hätten das Recht darauf, dass die staatliche Gewalt ihre Würde schützt, während sie in Deutschland sind. Wenn eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen werde, so Westerwelle, gehe es nicht um 80 DM Glasschaden, auch nicht darum, dass irgendeine Schmiererei überpinselt werden müsse. Vielmehr werde mit jeder zerbrochenen Scheibe einer Synagoge auch ein Stück der Verfassungskultur zerbrochen: "Jeder Stein, der auf eine Synagoge geworfen wird, ist ein Stein mitten in das Gesicht jedes aufrechten Demokraten."

"Klare Antwort des Parlaments"

Es gehe nicht nur um selbstverständlichen Schutz, sondern auch um politische Bildung. Hier den Etat zurückzuschrauben sei "nicht vernünftig". Mit der klaren Antwort des Parlaments durch ein neues Gesetz vor der Bundestagswahl müsse das Thema Migration aus den Wahlkämpfen herausgehalten werden.

Roland Claus (PDS) mahnte, der Bundestag müsse im Einvernehmen handeln. Es habe in dieser Legislaturperiode bereits zwei wichtige Zeichen gegeben, bei denen Mitglieder aller Fraktionen "die Enge ihrer Fraktionen" verlassen hätten: bei den Entscheidungen zum Holocaust-Mahnmal und zur Zwangsarbeiterentschädigung. Die jüngsten Ereignisse seien eine organisierte Provokation schlimmster Art, "die wir nicht hinnehmen können". Die linke Bewegung dürfe mit dem Thema Rechtsextremismus nicht die Regierung bekämpfen, sondern müsse mit der Regierung gegen den Rechtsextremismus kämpfen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0009/0009027
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