10. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989
THIERSE: HEUTE VOR ZEHN JAHREN WAREN DIE OSTDEUTSCHEN DIE HELDEN
Berlin: (hib/BOB/VOM-bn) "Heute vor zehn Jahren war das ostdeutsche Volk der Held”, erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse heute Mittag im Bundestag aus Anlass des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Seinem Druck, so Thierse weiter, hätten die "SED-Herrschaften” nachgeben müssen. Die entschlossene Friedfertigkeit dieser Menschen und ihre grenzenlose Begeisterung hätten den Charakter der geschichtlichen Stunde bestimmt.
"So viele Umarmungen zwischen den Berlinern West und Ost, so viele Verschwisterungen unter den Deutschen waren nie zuvor und danach”, so der Bundestagspräsident. Thierse hob zudem hervor, es sei damals kein Schuss gefallen, kein Blut geflossen. Das Unfassbare des Vorgangs habe sich in dem am häufigsten verwendeten Wort jene Tage ausgedrückt: "Wahnsinn”.
Der SPD-Politiker erinnerte an die fast 1000 Menschen, die seit 1949 an der innerdeutschen Grenze gestorben seien, davon 764 seit dem 13. August 1961, dem Tage des Mauerbaus. Ihrer sei zu gedenken, gerade auch in dieser Stunde glücklicher Erinnerung.
Gleiches gelte für die vielen Tausende, denen in der DDR der Prozess gemacht worden sei und die wegen sogenannter Republikflucht in der Regel zu mehrjährigen Strafen verurteilt worden seien. Der Bundestagspräsident erinnerte an die Vorgeschichte des 9. November 1989:
fünf Tage zuvor habe es die größte Kundgebung jenes Herbstes auf dem Berliner Alexanderplatz gegeben; davor hätten die Monate friedlicher Demonstration in Leipzig und anderswo gelegen, "in denen wir Ostdeutsche unsere Sprache, unseren Mut nach und nach wiederfanden: ‚Wir sind das Volk.'”
Auch der ehemalige Bürgerrechtler und heutige Leiter der Bundesbehörde für die Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck, erinnerte an die Leistung jener Akteure des Wendeherbstes von 1989, "die den Regierenden in der DDR so viel Druck machten, dass deren Mauern nicht mehr standhielten”.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht habe die Angst dieser Menschen schrittweise besiegt. Gauck wies daraufhin, heute gebe es gerade bei jenen, die damals aktiv waren, eine Trauer, eine Wehmut, die Aufbruchstimmung von damals verloren zu haben.
Nicht in den, was in den Wochen und Monaten des Umbruchs in der DDR in Bewegungen und Basisgruppen "erfunden” worden sei, habe das eigentliche Neue gelegen, sondern im Anspruch und in den Haltungen derer, die in der Regel zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv geworden seien.
”Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber zu gestalten”, so Gauck. Die Zeit zu experimentieren, die eigenen Kräfte zu erproben, sei im Unterschied zu den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa aber außerordentlich kurz gewesen.
Gauck: "Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge.” Viele hätten sich fremd im eigenen Land gefüllt. Sicher erkläre sich deren Bitterkeit deshalb auch aus einer neuen Hilflosigkeit und Enttäuschung. "Sie hatten das Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.”
Bundeskanzler Gerhard Schröder wies auf die besondere Bedeutung des Datums 9. November in der deutschen Geschichte hin. Dies sei ein "Tag der Freude, aber auch ein Tag der Scham und des Nachdenkens”. Ein Tag des Aufbruchs, aber auch ein Tag, an dem 1938 der Weg in einen "Abgrund von Unmenschlichkeit” begonnen habe.
Heute vor zehn Jahren seien die Deutschen das "glücklichste Volk der Erde” gewesen. Die Deutschen hätten sich vereint, noch bevor Deutschland vereinigt wurde. Die Mauer sei nicht in Washington, Bonn oder Moskau zum Einsturz gebracht worden, sondern von den "mutigen und unerschrockenen Menschen” eingedrückt worden, und zwar von Ost nach West.
Mit ihrer Zivilcourage hätten die Menschen in der DDR die deutsche Geschichte um die Erfahrung bereichert, dass "friedliche Beharrlichkeit und demokratischer Gemeinsinn Diktaturen zu Fall bringen”. Schröder dankte Gorbatschow, dessen Reformpolitik die Entwicklung von Frieden und Demokratie in Deutschland und in ganz Europa entscheidend gefördert habe.
Er hob auch den "großartigen Beitrag” der Nachbarn und Verbündeten im Westen hervor. Der 9. November 1989 stehe für eine realistische Perspektive auf Frieden, Demokratie, Wohlstand und Freiheit in Europa.
Im Lichte dieser großartigen Perspektive bleibe Deutschland der Anwalt der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer dürfe Europa nicht ein weiteres Mal geteilt werden in einer gedachten "Wohlstandsgrenze” zwischen der Union und ihren östlichen Nachbarn.
Schröder mahnte, niemand sollte der Versuchung erliegen, die Vergangenheit zu verdrängen. Dies gelte für die "schreckliche Vergangenheit” des 9. November 1938, aber auch für jenes politische System, das durch den Mauerfall beseitigt wurde.
Der frühere amerikanische Präsident George Bush erinnerte daran, es habe kaum eine politisch so unvorhersehbare Situation gegeben wie die im Herbst des Jahres 1989, als die Völker Mittel- und Osteuropas begonnen hätten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Seine Gefühle damals seien schwer zu beschreiben, als sein Sicherheitsberater Brent Scowcroft am 9. November in sein Büro gekommen sei, um mitzuteilen, es lägen Nachrichten vor, dass die Berliner Mauer geöffnet sei.
Er habe daraufhin den Fernseher angemacht und die Bilder von jubelnden Menschen an und auf der Mauer gesehen. Als sein Pressesprecher dann vorgeschlagen habe, eine Stellungnahme für die Öffentlichkeit abzugeben, habe er - gerade auch aus Verantwortung gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow - darauf geachtet, keine voreiligen Kommentare abzugeben.
Dies sei nicht die Stunde für Triumphgefühle gewesen. Jede arrogante Maßnahme des Westens gegenüber Moskau hätte die Gefahr in sich geborgen, den Jubel über die gefallene Mauer wieder zu zerstören, so Bush. Auch im Nachhinein sei er der Überzeugung, dass dieses Verhalten seinerzeit richtig gewesen sei.
Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow erklärte, der heutige Tag sei ein Anlass zum Feiern nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Europäer und die ganze Welt. Die Mauer sei ein Zeichen des Widerspruches von Staaten zueinander gewesen, ihre Beseitigung ein langer qualvoller Weg.
Auf dem Weg dorthin seien tiefe Veränderungen in der Sowjetunion erforderlich gewesen. Auch habe es grundlegender Veränderungen im Verhältnis der Sowjetunion und der USA zueinander bedurft, um die seinerzeitigen Ereignisse möglich zu machen.
Der frühere sowjetische Präsident bezeichnete das deutsche und das russische Volk als die eigentlichen Helden der damaligen Zeit. Er würdigte außerdem die Leistungen verschiedener deutscher Politiker auf dem Weg zur Einigung Europas und nannte namentlich Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und Willy Brandt.
Gorbatschow merkte im Übrigen kritisch an, in den Jahren nach der Einheit Europas hätte man im Westen wie im Osten Chancen auf dem Weg zu der von George Bush propagierten "neuen Weltordnung” versäumt.
Er erklärte zudem, er könne nicht ganz nachvollziehen, warum an einem solchen Tag wie heute nicht auch die seinerzeitigen Machthaber der DDR, welche den Beschluss zur Maueröffnung gefasst hätten, zugegen wären.
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl erinnerte in seiner Ansprache an die "vielen Männer und Frauen”, an die Bürgerrechtsbewegung, die für die Menschenrechte und für die freiheitliche Demokratie "gelebt, gekämpft und gelitten” hätten.
Es sei Michail Gorbatschow gewesen, der mit dem neuen Denken und der Perestroika die Wende in der sowjetischen Politik begründet habe. Gorbatschows Name sei untrennbar mit dem Ende des Kalten Krieges und des Rüstungswettlaufs verbunden.
Ohne sein Wirken wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht denkbar gewesen, betonte Kohl. Er dankte dem früheren Präsidenten der USA, George Bush, ohne dessen persönliches Engagement für die Sache der Deutschen die Einheit nicht möglich gewesen wäre.
Das Geschenk der Einheit verpflichte die Deutschen, den Bau des Hauses Europa mit kräftigen Schritten voranzutreiben. Eine Rückkehr in die "enge nationalstaatlichen Denkens” dürfe es nicht geben. Er rief dazu auf, die "einzigartige Freundschaft” mit den französischen Nachbarn weiter zu pflegen.
Wie die Aussöhnung mit Frankreich möglich gewesen sei, sollte sie nach den Worten Kohls auch mit Polen gelingen. Zu einer glücklichen Zukunft Europas gehörten auch stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Kohl appellierte an alle, in ihrer Unterstützung für Russland, die Ukraine und die übrigen Staaten der früheren Sowjetunion nicht nachzulassen: "Jetzt zu helfen, ist eine Investition zur Sicherung der Zukunft in Europa.” Eine wichtige Voraussetzung für Frieden und Freiheit in Europa ist es für Kohl, die über Jahrzehnte bewährte transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten zu pflegen.
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