> Sonderausgabe > Medien im Wahlfieber
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Der Wahlkampf und der Showdown am 18. September stellen für die deutschen und ausländischen Medien herausragende Ereignisse dar. Millionen Zuschauer verfolgen an den Fernsehern die Auseinandersetzungen der Spitzenkandidaten, die Sehbeteiligung stellt manches internationale Fußballspiel in den Schatten. Dies gilt auch für den Aufmarsch der Presse: Bei der Bundestagswahl 2002 hatten sich mehr als 3.300 Medienvertreter zur Wahlbeobachtung im Reichstagsgebäude angemeldet. Seit Wochen präparieren sich Sender und Zeitungen für das Ereignis des Jahres 2005.
Unmittelbar nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder am 22. Mai angekündigt hatte, dass er über die Vertrauensfrage Neuwahlen erreichen will, haben Fernsehen und Funk, Zeitungen und Magazine mit ihrer Planung begonnen. Dabei mussten sie riskieren, dass sich Bundespräsident Horst Köhler gegen die Auflösung des Parlaments entscheidet und somit alle Pläne Makulatur werden. Früh wurden Aufgaben verteilt, Themen diskutiert und Urlaubssperren verhängt. „Bei uns sind im ganzen Monat September alle Mitarbeiter an Deck“, erklärt der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, Thomas Roth. Alles in allem arbeiten 600 Menschen für das Studio, davon allein 22 Redakteure.
Über ähnliche Schlagkraft verfügt der andere öffentlich-rechtliche Sender, das ZDF. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen diese beiden Medien bei der Berichterstattung über Wahlkampf und Wahlabend die entscheidende Rolle: Hier finden die Duelle der Kandidaten statt, hier kommt am Wahltag um 18 Uhr die erste Prognose, hier debattieren später in der „Elefantenrunde“ die Gewinner und Verlierer. Von den Privatsendern können am ehesten noch RTL und Sat1 mithalten, die anderen spielen nur am Rande mit.
Bei der Bundestagswahl 2002 brachten die beiden öffentlich-rechtlichen Sender in den sechs Wochen vor der Wahl den Löwenanteil an wahlrelevanten Beiträgen. Das ergibt sich aus einem Vergleich, der im Auftrag von ARD und ZDF angestellt wurde. Von insgesamt 1.027 Beiträgen mit Wahlbezug entfielen danach 367 auf die ARD und 298 aufs ZDF. RTL strahlte immerhin noch 189, Sat1 128 solcher Beiträge aus.
Die beiden öffentlich-rechtlichen Sender greifen dabei zu bewährten Konzepten: Schon vor der Entscheidung des Bundespräsidenten über die Auflösung des Bundestages liefen die Sommerinterviews mit den Parteivorsitzenden und mit Bundeskanzler Gerhard Schröder an. Den Anfang machte das Erste mit dem SPD-Vorsitzenden: Das ARD-Hauptstadtstudio präsentierte den Fußballfan Franz Müntefering auf dem grünen Rasen vor dem Reichstagsgebäude. Das ZDF besuchte ihn wenig später auf Norderney. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber empfing die ARD in einer Fertigungshalle von Siemens in Erlangen, die Kanzlerkandidatin und Physikerin Angela Merkel zeigte sich den Kameras vor dem Einsteinturm, dem Sonnenobservatorium in Potsdam. Die TV-Duelle der Kanzlerkandidaten Schröder und Stoiber waren Höhepunkte des Medienwahlkampfes vor drei Jahren. Beim ersten derartigen Zusammentreffen von Amtsinhaber und Herausforderer in Deutschland war das Interesse von Medien und Zuschauern riesengroß. Ein Duell wurde von den öffentlich-rechtlichen Sendern, das andere von den Privatsendern RTL und Sat1 übertragen. Bei ARD und ZDF verfolgten über 15 Millionen den direkten Schlagabtausch der Spitzenkandidaten – eine Sehbeteiligung, die selbst der beste „Tatort“ bei weitem nicht erreicht.
Auch 2005 ließen die Spitzenkandidaten Schröder und Merkel früh verlauten, dass sie zu einem Fernsehduell bereit seien. Daraufhin hatten sich ARD, ZDF, RTL und Sat1 bereits im Mai auf eine Wiederholung der erfolgreichen Sendung verständigt. Vereinbart wurde diesmal allerdings nur ein einziges Fernsehduell am 4. September. Die CDU-Kanzlerkandidatin Merkel hatte sich gegen ein zweites Aufeinandertreffen ausgesprochen. Dafür dauerte der Schlagabtausch diesmal 90 Minuten. Insgesamt vier Moderatoren stellten die Fragen: Sabine Christiansen (ARD), Maybrit Illner (ZDF), Peter Kloeppel (RTL) und Thomas Kausch (Sat1). Merkel hatte in dem Poker um die TV-Duelle „Zeitmangel“ als Argument gegen ein zweites Treffen angeführt. Aus dem Lager des Bundeskanzlers war ihr daraufhin Mutlosigkeit vorgeworfen worden. So geriet selbst die Verhandlung über die Bedingungen der Fernsehdebatte zum Wahlkampfschauplatz.
Am Wahltag selbst, wenn die Spannung vor der ersten Prognose rapide steigt, zahlt sich langjährige Routine aus. Matthias Fornoff, beim ZDF zuständig für die Programmplanung, sagt gelassen: „Wir können das Rad nicht komplett neu erfinden.“ Das gilt auch für die ARD. Sie beginnt mit der Wahlsendung um 17 Uhr nach der vorgezogenen „Lindenstraße“, das ZDF will etwas früher anfangen. Die Macher in Mainz sind „auf eine sehr spannende Wahl“ eingestellt. Deshalb wollen sie eher mehr als weniger anbieten, auch lange Strecken senden, aber immer flexibel reagieren. Und wer gibt der Wahl ein Gesicht? Bei der ARD moderieren Anne Will und Thomas Roth, und beim ZDF führt Bettina Schausten, die Leiterin der Innenpolitik, durch die Sendung. Jörg Schönenborn (ARD) und Steffen Seibert (ZDF) präsentieren wieder die Zahlen, die ab 18 Uhr von Infratest dimap und der Forschungsgruppe Wahlen geliefert werden. Oft ist mit der ersten Prognose bei Schließung der Wahllokale das Rennen schon so gut wie gelaufen. Dann haben Gewinner und Verlierer das Wort.
Um diese Zeit stecken die Macher der gedruckten Medien noch mitten in der Recherche. Zum Beispiel beim „Spiegel“. Gabor Steingart, der Leiter der Hauptstadtredaktion, sitzt am Wahlabend vor seinem Rechner und telefoniert. Er führt vorher verabredete Gespräche mit Politikern, auf die es in den nächsten Tagen ankommen wird. Sekretärinnen nehmen Anrufe entgegen, notieren Versatzstücke, die die rund 30 Kolleginnen und Kollegen in Berlin und aus den Außenbüros hereingeben. Sie alle wollen in der Wahlnacht ganz dicht bei den Akteuren sein, ob sie nun Merkel, Müntefering, Schröder, Stoiber oder Roth, Gysi, Westerwelle heißen.
Was die Korrespondenten erfahren und was Steingart in seinen Telefongesprächen hört, das alles fließt ein in die Titelstory des Sonderheftes. Zwei unterschiedliche Versionen dieses Artikels werden schon vor dem Wahltag erstellt. Sie enthalten all die Informationen, die schon bekannt sind und die zur Bewertung des Wahlergebnisses – wie auch immer es ausfällt – unverzichtbar sind. Steingart will noch nicht verraten, welche Überschriften die beiden Versionen tragen könnten, etwa „Merkel wird Kanzler“ oder „Schröder bleibt Kanzler“. Vielleicht gibt es sogar eine dritte Möglichkeit. Steingart schließt auch das nicht aus.
Damit das Sonderheft am Dienstag an den Kiosken liegt, muss die redaktionelle Arbeit bis Montag früh geleistet sein. Das heißt, dass auch die Redaktion in der Hamburger Zentrale bis dahin voll besetzt ist. Die Produktion des Sonderheftes ist aber nur der vorläufige Höhepunkt einer Arbeit, die direkt nach der Neuwahlankündigung des Bundeskanzlers begonnen hat. Dietmar Pieper, stellvertretender Spiegel-Ressortleiter, sagt: „Wir haben wie die Parteien nicht abgewartet, bis der Bundespräsident und schließlich auch das Bundesverfassungsgericht gesprochen haben.“
Für das Spiegel-Hauptstadtbüro wurde vom 8. August bis zur Vereidigung der neuen Kanzlerin oder des alten Kanzlers eine Urlaubssperre verhängt. In dieser Zeit gilt für die Korrespondenten ganz besonders, was nach Steingarts Worten den Spiegel ohnehin auszeichnet: „Wir gucken ganz genau hin, was hier passiert. Davon leben wir ja.“ Sie wollen wissen, was für Menschen sich in der neuen Linkspartei zusammenfinden, wie die SPD sich verändere, was bei den möglichen neuen Regierungsparteien ablaufe. „Wir decken in dieser Zeit das Spitzenpersonal der Partei 24 Stunden lang ab“, sagt Steingart. Und durch Kooperation mit den Regionalbüros könne die „Maschine Spiegel“ ihre Schlagkraft noch verdoppeln.
Mit sehr viel weniger Ressourcen müssen die meisten der über 300 Regionalzeitungen in Deutschland auskommen. Für die „Braunschweiger Zeitung“ wurde durch die Neuwahlentscheidung „die ganze Jahresplanung über den Haufen geworfen“. Chef vom Dienst Peter Lohse meint, die ganze Urlaubs- und Themenplanung sei nun hinfällig. In solchen Fällen muss man sich was einfallen lassen. Auf die Neuwahlankündigung reagierte das Blatt mit einer TED-Umfrage in allen Lokalteilen: Die Leser sollten unter anderem mitteilen, welche der Kandidaten sie eigentlich für geeignet halten. 9.000 Anrufe zeigten, dass die Idee ankam.
Journalisten von Regionalzeitungen versuchen in erster Linie, ihren Lesern Grundlagen für ihre Entscheidung am 18. September zu liefern. Beispielsweise organisierte die Braunschweiger Zeitung in den Wahlkreisen ihres Verbreitungsgebiets Podiumsdiskussionen mit den Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien, veröffentlichte deren Vorschläge zur Lösung der wichtigsten politischen Probleme, fragte auch nach, wie die Abgeordneten der Region ihre Versprechungen von 2002 umgesetzt haben.
Zum Wahltag selbst tritt die Redaktion in zwei Schichten an. Die erste erledigt das, was Lohse als „normalen Sonntagsdienst“ bezeichnet. Diese Arbeit ist vermutlich gegen 19 Uhr getan. Dann kommt die Wahlschicht dran. Es gilt, den Text der Titelseite fertig zu stellen, die aus Berlin gelieferten Hintergrundartikel zu redigieren und einen Leitartikel oder einen Kommentar zu verfassen. Viel Platz werden die Einzelergebnisse aus den Wahlkreisen und Stimmbezirken beanspruchen.
Vor Mitternacht wird dies nicht geschafft sein. Und je nachdem, wie die Ergebnisse der Hochrechnungen verlaufen, werden sie die Titelseite mehrfach verändern und Texte umschreiben müssen. Wie die Redakteure der Braunschweiger Zeitung werden auch zahlreiche andere Medienmenschen in Deutschland am 18. September einen langen Tag haben – das Ereignis Bundestagswahl fordert ihren vollen Einsatz.
Text: Klaus Lantermann
Fotos: Deutscher Bundestag, Picture-Alliance
Erschienen am 13. September 2005