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Gesundheitspolitik braucht einen langen
Atem – und Gesundheitspolitiker neben guten Ideen auch
Ausdauer. Denn in dem Multimilliardenprojekt sind stets viele
Rädchen zu drehen, damit sich das Ganze in die richtige
Richtung bewegt.
Und bei jeder Drehung muss genau abgewogen werden, wann es wie
schnell wohin gehen soll. Das bedeutet im Bundestag oft genug, dass
die Tage für die Akteure lang sind.
Der typische Dienstag etwa beginnt für Erika Lotz, die Obfrau der SPD-Fraktion im Gesundheits- und Sozialausschuss, schon um 7.30 Uhr, wenn sie sich mit Ministerin Ulla Schmidt und weiteren Spitzenkräften des Ministeriums zusammensetzt, um die Details der anstehenden Regelungen durchzusprechen. Wenig später geht es mit ähnlichen Themen in der Facharbeitsgruppe der Fraktion weiter, anschließend schauen die SPD-Gesundheitspolitiker, ob sie mit den Kollegen vom Koalitionspartner eine gemeinsame Position finden, dann steht auch schon die Besprechung mit den Obleuten aus den anderen Fraktionen an: Welche Vorhaben kommen auf die Tagesordnung der nächsten Ausschusssitzungen, wie ist damit weiter zu verfahren? Und schon beginnt die Fraktionssitzung, wo in großer Runde politisch Gleichgesinnter bis in den Abend oft auch wichtige Gesundheitsvorhaben beraten werden, damit trotz oft unterschiedlicher Ansichten eine einheitliche Meinung entstehen kann.
Gesundheit ist schließlich keine Sache, für die sich nur Fachleute interessieren, Gesundheit geht jeden an. Deshalb ist auch nach der Fraktionssitzung meistens noch nicht Schluss: Lotz arbeitet dann in Versammlungen, Begegnungen, Podiumsdiskussionen daran, Verständnis in der Bevölkerung für die Vorhaben zu finden. „Nach der Reform ist vor der Reform“, unterstreicht Heinrich Leonhard Kolb, der Obmann der FDP-Fraktion. Deshalb gehört die genaue Beobachtung der Wirkungen von Gesundheitspolitik zum täglichen Brot der Abgeordneten. Nicht immer sind sie sich im Vorfeld einig, ob die diskutierten Neuregelungen etwa den erhofften Entlastungseffekt für den Kostendruck auf die Krankenkassen haben werden, aber alle Vermutungen verwandeln sich schon wenige Wochen und Monate nach Verkündung eines Gesetzes in Tatsachen: Dann werden entweder die Befürchtungen der einen oder die Hoffnungen der anderen wahr. Und dann ist möglicherweise schon die nächste Gesetzesbaustelle im Gesundheitswesen ausgeschildert. Für Kolb ist dieses Politikfeld daher „permanent spannend“.
Jetzt zum Beispiel in der Pipeline der Gesetzgebung: Prävention und Telematik. Das eine Gesetz soll Angebot und Nachfrage auf dem Feld der Gesundheitsvorsorge stimulieren, das andere die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte absichern. Bezeichnend für die Arbeit im Ausschuss: Da wird nicht erst das eine Vorhaben von A bis Z bearbeitet und dann das nächste aufgegriffen. Da laufen die Beratungen parallel, wird etwa zu beiden Projekten innerhalb einer Woche zu Expertenanhörungen eingeladen.
Stets ist nämlich auf viele, viele Details zu achten, und deshalb ist im Prozess des Entstehens von Gesundheitsgesetzen die Anhörung von Fachleuten aus der Praxis ein wichtiger Meilenstein. Also eine Art vorgezogener Praxistest in der Theorie. Auch hier hat der Gesundheitsausschuss im Vergleich zu anderen parlamentarischen Gremien oft eine andere Dimension. „Riesiger Auftrieb“ umschreibt Kolb die stundenlange Befragung von bis zu Hundert Sachverständigen. Zu Hunderten von Seiten summieren sich oft schon die vorab eingereichten Stellungnahmen, und dann kommen die mündlichen Aussagen auf gezieltes Nachfragen der Abgeordneten noch hinzu.
Wenn es etwa auf Antrag der Opposition um die Wirkungen und Nebenwirkungen des GKV-Modernisierungsgesetzes, die Altersgrenze für Vertragsärzte, die freie Wahl der Kostenerstattung, die mögliche Rückverlagerung von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in den Leistungskatalog der Kassen und um weitere Nebenwirkungen der letzten großen Gesundheitsgesetze geht, dann enthält allein die Liste der eingeladenen Verbandsvertreter 58 Positionen, von der Bundesknappschaft über die Bundesärztekammer oder den Bundesverband Deutscher VersandapothekerInnen bis zum Deutschen Gewerkschaftsbund, zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung und zum Verband Forschender Arzneimittelhersteller.
Und dann reicht auch der Ausschusssaal nicht aus, um so viel Sachverstand zu fassen. Diese Anhörung etwa wird wie viele andere in den Saal der SPD-Fraktion verlagert. Und sie ist, wie fast alle anderen Hearings, öffentlich und wird im Bundestagskanal übertragen. So kann sich jeder Versicherte, jeder Patient, jeder Interessierte selbst ein Bild von den vorgeschlagenen Gesundheitsgesetzen machen – und von den Positionen der Verbände.
Die Experten werden vom Ausschussvorsitzenden eingeladen – auf Vorschlag der Fraktionen. Die Obleute der Fraktionen einigen sich über die einzuladenden Verbände. Einzelne Sachverständige werden dann noch nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen geladen. Hinter den Kulissen bemerken die Abgeordneten oft ein regelrechtes „Gerangel“ um die Möglichkeit, den Bundestag beraten zu dürfen. Auf einem Politikfeld, in dem es um Hunderte von Milliarden Euro Umsatz geht, tummeln sich auch Tausende von Interessenvertretern. Nach den Beobachtungen von Kolb hat ein Auftritt vor dem Gesundheitsausschuss in diesem Umfeld „auch etwas mit Prestige und Nachweis von Bedeutung“ zu tun.
Immer wieder: Vorberatungen, Anhörungen, Nachberatungen, Einarbeiten von Stellungnahmen anderer Fachausschüsse, Änderungsvorschläge zu den ursprünglichen Formulierungen im Gesetzentwurf, Empfehlungen des Ausschusses für die Abstimmung im Plenum – längst hat auch Annette Widmann-Mauz aufgehört, die Stunden zu zählen, in denen Gesundheitspolitiker in den Ausschusssesseln sitzen. „Wir kommen ja aus dem Reformieren gar nicht mehr heraus“, erläutert die Obfrau der CDU/CSU-Fraktion. Schließlich sei das alte Pensum auf dem Feld der Gesundheit beibehalten worden und das große Feld der Sozialgesetzgebung mit Beginn der 15. Wahlperiode noch hinzugekommen.
Neben die über Monate laufenden Reformvorhaben treten stets auch aktuelle Entwicklungen. Wenn eine Grippewelle über die Republik rollt, schauen die für Gesundheit zuständigen Abgeordneten natürlich intensiv hin, und auch wenn die Nachricht vom Tod nach Organspenden die Öffentlichkeit beschäftigt, „überlegen wir, ob alles getan worden ist, um solche tragischen Entwicklungen zu verhindern“, schildert Widmann-Mauz. Wenn Reformen unvermutete Nebenwirkungen entfalten, finden die Ausschussmitglieder Wege, „Verwerfungen“ wieder aus der Welt zu schaffen. Etwa als klar wurde, dass durch den Wegfall der Zuzahlungsbefreiung für Sozialhilfeempfänger manche Heimbewohner über Gebühr belastet wurden. „Das haben wir sofort in die aktuelle Gesetzgebung eingebaut und so schon zum Jahresende für Entlastung gesorgt“, erläutert Widmann-Mauz.
Ein weiteres Kennzeichen der Gesundheitspolitik: Wirklich große Reformen gelingen nur, wenn Bund und Länder gemeinsam daran arbeiten. In der Praxis stehen sich aber nicht Bundestag und Bundesrat gegenüber, sondern die A- und die B-Seite. Derzeit haben SPD-geführte Landesregierungen, die die Politik der Bundesregierung (A) unterstützen könnten, keine Mehrheit in der Länderkammer. Deshalb können CDU/CSU-geführte Landesregierungen den Einfluss der Opposition (B) im Bundestag verstärken.
Die Folge: Am Anfang eines Gesetzesvorhabens „guckt man zwar vor allem auf die eigene Seite“, wie Lotz hervorhebt, erarbeiten SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihre Positionen und Eckpunkte, lassen sich vom Ministerium bei der Ausarbeitung der Gesetzestexte unterstützen und kommen so auf zahlreichen Besprechungen und Klausursitzungen immer weiter voran auf dem Weg, aus ihren Ideen und Absichten die Konturen konkreter Gesetze zu machen. Doch schon vor dem Beschluss von Entwürfen durch die Bundesregierung sind formal auch die Bundesländer eingeschaltet worden, damit der Bundestag schon bei der ersten Beratung der Vorschläge weiß, wo die Mehrheit der Länder nicht mitspielen wird.
Und deshalb ist die Detailberatung im Ausschuss auch ein ständiges Abklopfen von Kompromissmöglichkeiten, ist die gute Koordinierung von A- und B-Seite ein wesentliches weiteres Aufgabenfeld. „Sehr kontinuierlich“ macht das auch Widmann-Mauz. Zwischen CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und unionsgeführten Landesregierungen gebe es nämlich „nicht immer Einigkeit von Beginn an“, schildert Widmann-Mauz, schließlich existierten „durchaus unterschiedliche Interessen zwischen Bund und Ländern“.
Auch haben die wenigsten Länder einheitliche Regierungen. Auch dort gibt es Koalitionen, und so nutzt die FDP im Bundestag ihre Einflussmöglichkeiten über die Landesregierungen, an denen Parteifreunde beteiligt sind. In der Öffentlichkeit wenig bekannt ist, dass es neben den A- und den B-Länderkoordinatoren auch eine „F-Länder-Runde“ gibt, in denen die Länder ihr Vorgehen in den vier CDU-FDP-Regierungen und in der einen SPD-FDP-Regierung abstimmen. „Das ist durchaus ein Pfund, mit dem man wuchern kann“, sagt Kolb – auch wenn die Liberalen „nicht jedes Komma beeinflussen“ könnten.
Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) hat gezeigt, wie das Geben und Nehmen funktioniert. „Wir hatten zwar einen guten Koalitionsentwurf, aber wir wussten von Anfang an, dass wir ein Gesamtkonzept nur realisieren können, wenn wir uns mit der CDU/CSU einigen“, berichtet Birgitt Bender, Obfrau von Bündnis 90/Die Grünen. Das gipfelte in einer sommerlichen Runde in der baden-württembergischen Landesvertretung. „Tagein, tagaus haben wir dort zusammengesessen“, erinnert sich Bender. Und: „Das war in der Tat eine spannende Sache, vor allem, als es in der Endphase darum ging, Knöpfe dranzumachen.“
Die Medien hätten bei diesen Runden immer das Bild der Begegnung von Ulla Schmidt und Horst Seehofer inszeniert, was Bender als „besonders eindrücklich“ auch nachvollziehen kann. Tatsächlich habe aber auch sie als Verhandlungsführerin von Bündnis 90/Die Grünen von A bis Z daran mitgewirkt. Und was war ihr wichtig? Was hat sie insbesondere im Blick behalten? „Na, da gab es zum Beispiel die Frage, wie therapeutische Vielfalt auch in Zukunft gewährleistet werden kann.“ Schließlich sei es das besondere Anliegen der Grünen, dass es nicht zu einer „Vereinseitigung Richtung Schulmedizin“ komme, sondern dass sich diese Verfahren immer auch der Herausforderung durch so genannte „besondere Therapierichtungen“ stellen müssten. Konkret achtete Bender darauf, dass bei der Ausgrenzung von nicht rezeptpflichtigen Medikamenten aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen „nicht alle Naturheilmittel platt gemacht werden“. Das sei zwar nicht ganz so ausgegangen wie gewünscht, doch immerhin sei es gelungen, im Gesetz zu verankern, dass der therapeutischen Vielfalt bei der Beschreibung der erstattungsfähigen Medikamente Rechnung getragen werden muss.
Unter Dutzenden „kleinerer“ Vorhaben schimmert ein neues großes Reformwerk bereits durch: Bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen drehen sich die Gedanken um die Umstellung der Krankenversicherung heutigen Typs auf eine umfassende Bürgerversicherung, in die alle einzahlen. Bei der CDU/CSU geht es um die Gesundheitsprämie, bei der FDP um die Pflicht zur privaten Versicherung. Und natürlich sind auch die Gesundheitsexperten der Bundestagsfraktionen mit in die Arbeiten eingebunden, die derzeit vor allem auf den Parteischienen laufen. Bender etwa beschäftigt sich mit der Frage, wie ein schneller Übergang aller in die Bürgerversicherung gewährleistet werden könnte – dass sich also für die derzeit privat Versicherten nicht über Jahrzehnte gar nichts ändere. „Wie das funktionieren kann, da ist schon noch eine Menge an Feinarbeit zu leisten,“ ahnt Bender. Sie weiß aber auch, „dass das nicht unmittelbar in gesetzgeberisches Handeln münden wird“. Denn in „dieser Geschichte“ gebe es bei der CDU/CSU keinen Handlungsspielraum. Und so „werden wir erst mal den Auftrag der Wähler brauchen, um diese Weichenstellung vornehmen und dann zu Verhandlungen mit der CDU/CSU kommen zu können“.
Für Widmann-Mauz lässt sich das Umbauvorhaben jedoch nicht vollständig aus der aktuellen Gesetzesarbeit ausblenden. „Es spielt doch in unseren Debatten über konkrete aktuelle Vorhaben immer eine Rolle, wie zukunftsfähig die jeweilige Maßnahme ist“, gibt die CDU/CSU-Obfrau zu bedenken. Und dann stünden die anstehenden Grundsatzentscheidungen natürlich im Hintergrund. Aber auch Widmann-Mauz rechnet nicht mehr damit, dass diese Gesundheitsreform von geradezu „epochalem Charakter“ noch vor den Wahlen Gesetzesform annimmt. Derzeit habe Rot-Grün schließlich noch keine „durchgerechnete Variante“ der Bürgerversicherung präsentiert. Außerdem sei die Bürgerversicherung in keiner bisher bekannt gewordenen Variante verfassungskonform gestaltbar und viel bürokratischer als das Prämienmodell. Im Prämienmodell würden sich über die Steuer alle – auch Beamte und Selbstständige – entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern beteiligen, die Solidarität ende nicht an der Beitragsbemessungsgrenze, so dass die gesamte Last der Finanzierung nicht ausschließlich auf den Schultern der Mittelschicht ruhe. Die Entlastung der Mittelschicht sei ebenso notwendig für das Wachsen der Wirtschaft wie die Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages bei 6,5 Prozent. Damit blieben die Arbeitgeber in der Verantwortung für die Entwicklung der Prämie, aber durch die Festschreibung werde verhindert, dass der medizinisch-technische Fortschritt die Arbeitsplätze verteuere und somit Beschäftigung erschwere. Gleichwohl werde die große Reformdebatte sicherlich bald an Fahrt gewinnen.
Bei der SPD-Fraktion ist die Arbeitsgruppe Gesundheit noch nicht formal an dieser Baustelle tätig. Doch Lotz wirkt bei der Partei natürlich mit, wenn es um die weitere Ausarbeitung geht. „Ich gehe davon aus, dass wir uns noch vor der Wahl mit Eckpunkten der Reform beschäftigen werden“, sagt sie voraus. Denn was für die Krankenversicherung richtig sei, müsse auch für die Pflegeversicherung in den Blick genommen werden, und für die müsse schon „sehr bald eine Dynamisierung erreicht werden“. Bis zum Herbst sollen Vorschläge auf dem Tisch liegen.
Kolb ist sich sicher, dass es bei allen Fragen der Finanzierung alsbald „ans Eingemachte“ gehen werde. Wenn immer weniger Beschäftigte durch die Lohnbezogenheit der Beiträge immer höhere Kosten für immer mehr Leistungsempfänger finanzieren müssten, führe dies „zwangsläufig zum Kollaps“. Deshalb hat seine Fraktion begonnen, das eigene Konzept in einer Serie von rund 40 Expertengesprächen auf den Prüfstand zu stellen und die Vorschläge im Licht dieser Erkenntnisse „noch reifer“ zu machen.
Das läuft alles jenseits der eigentlichen Gesetzesarbeiten im Ausschuss – und diese sind wiederum vorbereitend und belebend. „Gesundheitspolitiker sind eben sehr engagierte Leute“, sagt Lotz. Jeder wisse, welche gewaltigen Auswirkungen bei jeder Entscheidung auf dem Spiel stünden. Alle achteten deshalb auf die größtmögliche Qualität. Trotz aller parteipolitischen Gegensätze diskutierten sie stets „sehr ordentlich miteinander.“ Damit auch was Ordentliches daraus entsteht.
Text: Gregor Mayntz
Fotos: Picture-Alliance, Mauritius
Erschienen am 18. April 2005
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