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September 08/2000
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VOLKSKAMMER UND BUNDESTAG VOR ZEHN JAHREN

Sechs Monate für den Bau eines Rechtsstaates

Doppelhaus in Leipzig: Halb saniert und halb verfallen.
Doppelhaus in Leipzig: Halb saniert und halb verfallen.

Zehn Jahre deutsche Einheit bringen die Zeit zurück, in der binnen Wochen geschah, was auf Jahrzehnte als unwahrscheinlich galt. Die ungestümen innerdeutschen Umwälzungen lassen sich zum Beispiel am 17. Juni festmachen. Traditionell wurde an diesem Feiertag an den niedergeschlagenen Aufstand 1953 in der DDR erinnert und die Mahnung des Grundgesetzes zur Wiedervereinigung wach zu halten versucht. Dreieinhalb Jahrzehnte lang fanden die Festredner im Bundestag treffende Worte, ohne auch nur den Hauch einer aktuellen Wiedervereinigungschance beschreiben zu können.

Doch dann kam der 17. Juni 1990. Das erste frei gewählte Parlament der DDR behandelte den Antrag auf sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik. Und ein weiteres Jahr später gab es den 17. Juni als Feiertag nicht mehr. Er war abgelöst vom 3. Oktober, jenem Tag vor zehn Jahren, als die Einheit Wirklichkeit wurde. Blickpunkt Bundestag wirft aus diesem Anlass einen Blick auf die Beiträge der beiden deutschen Parlamente zum Einigungsprozess.

Es gibt Szenen, die im kollektiven Gedächtnis unauslöschlich gespeichert sind. Eine ganz wesentliche spielt im Bonner Wasserwerk, in dem der Bundestag während der Zeit des Plenarsaal-Neubaues tagte. Dort geht es am Abend des 9. November 1989 um die "Verbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung". Es ist 20.22 Uhr, als Vereine und Steuern plötzlich vergessen sind: Vizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) verliest die Agenturmeldung über den Fall der Mauer und unterbricht die Sitzung. 20 Minuten später, immer mehr Abgeordnete strömen zusammen, gibt Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU) eine kurze Erklärung ab, auch die Fraktionen schicken Vertreter ans Rednerpult – und jedesmal notieren die Parlaments-Stenografen Ungewöhnliches: "Beifall bei allen Fraktionen." Spontan singen die Abgeordneten die Nationalhymne. Einen Tag später sieht Altkanzler Willy Brandt (SPD) zusammenwachsen, was zusammengehört.

Damals: Jugendliche in Ost-Berlin.
Damals: Jugendliche in Ost-Berlin.

Im Nachhinein bekommt eine Einschätzung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) fast seherische Qualität. Er hatte am 8. November 1989 ebenfalls im Bundestag eine größere wirtschaftliche Unterstützung für eine sich wandelnde DDR in Aussicht gestellt und davon gesprochen, dass "die Tage der Mauer in Berlin gezählt" seien. Tatsächlich waren es da nicht mehr Tage, sondern nur noch Stunden. Aber diese Beschleunigung des Mauer-Countdowns ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die DDR-Grenzer. Und auch Kohl hatte in größeren Zusammenhängen Reisefreiheit, Freizügigkeit und Zusammenarbeit als Beiträge zur Überwindung der Teilung Europas gemeint. Doch die Zangenbewegung aus anschwellendem Ausreisedruck über DDR-"Bruderländer" und die gleichzeitig schnell näher kommende Zahlungsunfähigkeit des ostdeutschen Staates ließen das System schneller kollabieren, als es sich selbst die Beteiligten und Akteure vorstellen konnten.

Dass etwas in der Luft lag, spürte die Lungenärztin Sabine Bergmann-Pohl im Sommer 1989 bei ihrem Urlaub an der Ostsee. Die DDR-Medien stellten die Fluchtbewegung nach Budapest und Prag als von westlichen Agenten gesteuerte Aktion dar: "Ich habe unter den Urlaubern keinen gefunden, der das geglaubt hat – im Gegenteil, es wurde ganz offen diskutiert, dass das alles politische Konsequenzen haben würde." Das alles hatte für sie persönlich schon bald einschneidende Konsequenzen. Schon kurz nach dem Fall der Mauer sah sie sich in Gesprächen mit den West-Berliner Gesundheitsbehörden, um die Behandlung kranker Ost-Berliner zu regeln. Und ein weiteres Vierteljahr später war sie Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer und zugleich Staatsoberhaupt der DDR.

Das neue Parlament hatte mit dem alten nur den Namen gemein. 96,75 Prozent der 400 Abgeordneten hatten zuvor nicht in der Volkskammer gesessen. Parlamentserfahrung: Fehlanzeige. So war Bergmann-Pohl dankbar, dass Bundestag und Bundespräsident auf Nachfrage umgehend Mitarbeiter zur Beratung entsandten. Anerkennend erwähnt sie jedoch auch die Bediensteten der bestehenden, von den SED bestimmten Strukturen. "Die Mitarbeiter waren ungeheuer gutwillig, den Demokratisierungsprozess positiv zu begleiten." Die freien Wahlen vom 18. März 1990 hatten der Volkskammer den Volkswillen unmissverständlich gezeigt: Für die baldige Wiedervereinigung hatten mehr als zwei Drittel der DDR-Bürger gestimmt.

Das prägte. Manches Mal gingen zwar die Emotionen hoch, bekamen die Sitzungen chaotische Züge, doch der Wille, den Wählerwillen konsequent bis zur Selbstaufgabe umzusetzen, blieb unübersehbares Kennzeichen aller Sitzungen in der zehnten DDR-Volkskammer. Bergmann-Pohl erinnert sich, wie juristisch kundige PDS-Abgeordnete, die hinterher gegen das Gesetz stimmen würden, trotzdem bei den Formulierungen halfen, um voranzukommen. Neidlos wertet die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) das Wirken der Berliner Kollegen: "Die parlamentarische Leistung der Volkskammer war viel größer als unsere, wenn man bedenkt, dass sie das erste Mal als freies Parlament arbeiten konnte." In Zahlen: 38 Plenarsitzungen, 93 Entschließungen, 164 Gesetze – und das in knapp sechs Monaten.

Damals: Ehemaliges Kino in Sachsen-Anhalt.
Damals: Ehemaliges Kino in Sachsen-Anhalt.

So wurde die Volkskammer zum Durchlauferhitzer der Politik. Inhaltlich wie personell. Inhaltlich spiegelten die engagierten Debatten die Meinungsfindung des Volkes wider und verliehen dem Regierungshandeln die nötige Legitimität – besonders wenn kritisch nachgefragt, unmissverständlich protestiert und daraufhin nachverhandelt wurde (wie etwa bei der Behandlung der Stasi-Unterlagen). Personell wurde die Volkskammer zum Crashkurs in praktiziertem Parlamentarismus, wovon die Abgeordneten später im gesamtdeutschen Parlament oder in den Landtagen der neuen Bundesländer Nutzen zogen.

Heute: Filmpalast in Dresden.
Heute: Filmpalast in Dresden.

In den Monaten, in denen die Bürger auf den Beinen waren, fanden auch ihre Vertreter wenig Schlaf. Aus unzähligen Treffen wurden Nachtsitzungen, die an die physische und psychische Leistungsgrenze herangingen und damit die Mehrheitsverhältnisse in Frage zu stellen drohten. In einer Nacht wurde ein Volkskammer-Mitglied sogar aus der Badewanne zu einer Abstimmung herbeitelefoniert. Und dem Ende der Plenarberatungen folgte mitunter noch eine Sitzung des Präsidiums zur Vorbereitung des "nächsten" Tages. Folge: Um 4.30 Uhr endlich zu Hause, saßen die Parlamentarier doch um sieben Uhr schon wieder an ihren Bänken. Einheit forderte alles.

Alles zunächst von der Volkskammer. "Wir waren diejenigen, die den Prozess in ganz Deutschland bestimmt haben", urteilt Bergmann-Pohl. Parlamentarisch sei der Bundestag anfangs eher in einer Zuschauerrolle gewesen. Doch der Zuschauer half auch. Nicht nur mit der Entsendung von fachkundigen Menschen und nützlichem Material. Auch durch Rat und Anschauungsunterricht aus erster Hand. Viele Abgeordnete aus der DDR habe sie damals empfangen können, erinnert sich Süssmuth. Oft habe man dann bis in die Nacht noch zusammengesessen und die besten nächsten Schritte besprochen. Nicht nur telefonisch riss der Kontakt nicht ab. Gegenseitige Informationsbesuche von parlamentarischen Gremien ergänzten das Regierungshandeln, hinzu kamen gemeinsame Sitzungen, insbesondere der beiden Ausschüsse "Deutsche Einheit", die Bundestag und Volkskammer parallel unter dem Vorsitz der jeweiligen Präsidentin installiert hatten. Denkwürdig wurde auch der Doppelbesuch von zwei deutschen Parlamentspräsidentinnen in Israel: Kontinuität signalisierte die eine, Abkehr von der antiisraelischen, Verantwortung für die Vergangenheit leugnenden DDR-Politik die andere.

"Wir saßen im Zug, aber wir wussten nicht, wie schnell er uns ans Ziel bringen würde", beschreibt Bergmann-Pohl die Zeit-Empfindungen jener Monate. Noch nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 das Zehn-Punkte-Programm zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas dem Bundestag vorgelegt hatte, spottete der DDR-Regierungschef Hans Modrow, er könne doch wohl noch nicht "die Probleme des Jahres 2005" anpacken. Doch aus den vermeintlichen 16 Jahren bis zur Einheit wurden neun Monate. Süssmuth bringt ihre Eindrücke auf eine einfache Formel: "Getrieben vom Volk, drängte die Volkskammer." Besonders die Sitzung am 17. Juni 1990 ist ihr in Erinnerung geblieben. Zum ersten Mal gedachten Volkskammer und Bundestag gemeinsam des Aufstandes von 17. Juni 1953 in Berlin. Abgeordnete des Deutschen Bundestages hatten in Berlin auf der Empore Platz genommen und erlebt, wie die DDR-Parlamentarier beinahe den Sofort-Beitritt beschlossen hätten. Auf dem Weg zur Sitzung hatten besorgte Landwirte mit Eiern geworfen: Die Stimmung war nervös knapp zwei Wochen vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Täglich kehrten dem Staat zwischen 2.000 und 4.000 seiner Bürger den Rücken – "die Jungen, die Dynamischen, die gut Ausgebildeten", wie der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière formuliert. So gab es nur eine Antwort: Einheit, und zwar schnell.

Damals: Hauptbahnhof in Leipzig.
Damals: Hauptbahnhof in Leipzig.

Doch ohne die Zustimmung der großen Vier ging das nicht. London, Moskau, Paris und Washington hatten nach dem Krieg einen Teil der Souveränität für Deutschland "als Ganzes" betreffende Fragen behalten. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der beiden deutschen Staaten mit den vier früheren Besatzungsmächten mussten daher erfolgreich sein, bevor die Wiedervereinigung gelingen konnte. Deshalb hielt sich die Volkskammer am 17. Juni noch einmal zurück. Einen letzten Stein räumten Volkskammer und Bundestag am 21. Juni aus dem Weg: In einer Entschließung bekräftigten die Parlamente die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze, die in einem völkerrechtlichen Vertrag festgeschrieben werden sollte.

Heute: Hauptbahnhof in Dresden.
Heute: Hauptbahnhof in Dresden.

Welche Umwälzungen auf Deutschland als Ganzes zukommen würden, war auch im Bundestag anhand vieler Details schon sehr früh deutlich geworden. So besprach der Verkehrsausschuss bereits am 6. Dezember 1989 eine Überprüfung der Investitionsprogramme – die Umsteuerung vom Schwerpunkt des Nord-Süd-Verkehrs auf den West-Ost-Verkehr. Am selben Tag stimmte der Sportausschuss für Olympische Spiele in West- und Ost-Berlin. Eine Woche später ging es im Post-Ausschuss um mögliche Sofortmaßnahmen zur Sanierung des "verrotteten" DDR-Telefonnetzes. Am 24. Januar 1990 sah der Städtebau-Ausschuss die Stadterneuerung in der DDR als "nationale Aufgabe" an. Am 14. Februar 1990 gab Finanzminister Theo Waigel (CSU) im Finanzausschuss die Einschätzung wieder, wonach es 24 Jahre dauern könne, bis die DDR das Wohlstandsniveau der Bundesrepublik erreicht habe. Und einen Monat später besprach dasselbe Gremium mögliche Vorkehrungen gegen Finanzspekulationen bei einer Währungsumstellung. Und das alles schon vor den ersten freien Wahlen in der DDR.

Höchst umstritten waren bis zuletzt im Ausschuss Deutsche Einheit die Hauptstadtfrage, der Verbleib der Stasi-Akten und die Neuregelung des § 218. Aber auch nach der Wiedervereinigung blieb parlamentarisch viel zu tun. Der Umgang mit den Stasi-Akten wurde nach vollzogener staatlicher Einheit umgehend im Sinne der Volkskammer beschlossen. Dass Berlin Hauptstadt wird, war am 20. Juni 1991 entschieden worden. Lange beschäftigte den Bundestag die Neuregelung des § 218. Hatte hier anfangs die je verschiedene Rechtslage provisorisch Bestand, dauerte es einschließlich Verfassungsgerichtsurteil von 1990 bis 1996 bis zur Klärung.

Insgesamt wurde das im Einheitsvertrag geschnürte Paket immer wieder geöffnet, um getroffene Rechtsetzungen der Realität anzupassen.

Sechs Jahre für ein Gesetz. Die Volkskammer hatte sechs Monate für einen ganzen Rechtsstaat. Zeit ist eben nicht immer nur in Sekunden, Minuten und Monaten zu messen. Und zehn Jahre Wiedervereinigung können inzwischen 45 Jahre Teilung überlagern. Gregor Mayntz

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0008/0008006
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