Deutscher Bundestag
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Sonderthema Bundestagsgremien

Große Stunden im Bundestag

Der Ernstfall der Entscheidung

Es gibt Klagen, die sich wiederholen und dabei dennoch nicht wahrer werden. Zu ihnen gehört, dass im Bundestag nicht genügend über die eigentlichen Fragen der Nation debattiert und entschieden werde; dass die aktuellen Debatten in Talk-Shows abwandern, die politischen Entscheidungen statt vom Parlament von informellen Expertenkommissionen und Koalitionsrunden getroffen werden. Dieser weit verbreiteten Betrachtungsweise hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seiner Rede zur Konstituierung des 15. Bundestages nachdrücklich widersprochen: ?Der Bundestag bleibt der eigentliche Ort der demokratischen Auseinandersetzung, hier ist der Ernstfall der Entscheidung.“ Er wolle mithelfen, ?dass der leidenschaftliche, aber faire Streit über die politische Zukunft unseres Landes hier in diesem Saal, im Reichstagsgebäude, im Parlament ausgetragen wird!“.

Ein Blick zurück auf 53 Jahre deutschen Nachkriegs-Parlamentarismus zeigt, wie sehr der Bundestag seiner Aufgabe, Forum der Nation zu sein, immer treu geblieben ist. Das galt für das Zusammentreten des ersten Bundestages im Jahre 1949, als sich Alterspräsident Paul Löbe zur Verantwortung des deutschen Volkes für die nationalsozialistischen Verbrechen bekannte und zugleich die Wiedergewinnung der deutschen Einheit beschwor. Und das galt ebenso für die Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz und den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, die Bundeskanzler Gerhard Schröder im November 2001 mit der Vertrauensfrage und damit seinem eigenen politischen Schicksal verband.

In den so genannten Sternstunden des Parlaments – etwa bei der Wiederbewaffnung oder Deutschlands Stellung zwischen West und Ost – wurden oft existenzielle Fragen beantwortet. Bei den Entscheidungen über Bundeswehreinsätze außerhalb Deutschlands und damit über eine neue Mitverantwortung für die Zivilisation in der Welt ging es sogar buchstäblich um Leben und Tod.

Aber auch in allen Legislaturperioden zuvor erlebte der Bundestag Reden, die die Republik bewegten, und Entscheidungen, die jeden Bürger aufwühlten. Die großen Debatten über Wiederbewaffnung, Notstandsgesetzgebung, Ostverträge, über Verjährung, Abtreibung und Organtransplantation sind markante Beispiele dafür, dass sich der Bundestag als Ort der demokratischen Auseinandersetzung und Entscheidung bewiesen hat.

1972: Brandt und Barzel nach dem gescheiterten Misstrauensvotum

1972: Brandt und Barzel nach dem gescheiterten Misstrauensvotum

Oft war es im Plenum spannender als in jedem Krimi und jeder Talk- Show: etwa beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972, als der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel den sicher scheinenden Sieg knapp verfehlte. Oder zehn Jahre später, 1982, als Helmut Kohl erfolgreich Helmut Schmidt stürzte und dieser der neuen Regierungskoalition entgegenschleuderte: ?Ihre Handlungsweise ist zwar legal, aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung.“

Dann die großen außenpolitischen Debatten und Entscheidungen, in deren Verlauf das Plenum des Bundestages bisweilen einem Hexenkessel glich: etwa 1949 nach Kurt Schumachers Vorwurf an Konrad Adenauer, ein ?Bundeskanzler der Alliierten“ zu sein oder, 1952, nach dem Plädoyer von Franz-Josef Strauß für die Beteiligung Deutschlands an einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, als der Bayer meinte, er möchte nicht gern die Herren Adenauer und Schumacher hinter Stacheldraht im Ural sich darüber unterhalten sehen, was sie in Bonn zu tun versäumt hätten.

1985: Weizäcker spricht zum 1.Mai

1985: Weizäcker spricht zum 1.Mai

Schließlich 1970/72 die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Willy Brandt, Walter Scheel, Rainer Barzel und Karl Theodor zu Guttenberg über die Ostverträge und fast zwei Jahrzehnte später die emotionalen Debatten zur Wiedervereinigung. Unvergessen dabei die abendliche Sitzung am 9. November 1989 im Bonner Wasserwerk, dem damaligen Ausweichparlament, als die Abgeordneten vom Fall der Mauer hörten und bewegt und spontan die Nationalhymne anstimmten. Der wenige Wochen später folgende Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls ?Zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ – wo sonst als im Bundestag wäre der Ort seiner Verkündung und der Debatte gewesen?

1989: Kohl legt sein 10-Punkte-Programm vor

1989: Kohl legt sein 10-Punkte-Programm vor

Auch bei der Hauptstadt-Entscheidung am 20. Juni 1991 schlugen die Wogen hoch. Bonn oder Berlin – selten wurde im Parlament so engagiert und leidenschaftlich gekämpft wie an diesem Tag, an dessen Ende die Bonn-Befürworter ihre angeblich sichere Mehrheit verloren hatten.

1991: Nach dem Beschluss zum Umzug nach Berlin

1991: Nach dem Beschluss zum Umzug nach Berlin

Ein anderer Höhepunkt parlamentarischer Reflexion war die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor dem Bundestag. Weizsäcker benannte dabei die Ursachen und die tiefer liegenden Gründe der Katastrophe, zog sie ans Tageslicht und damit ins Bewusstsein vieler, die vergessen wollten. Weizsäckers Fazit: ?Das Vergessenwollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, fand ein weltweites Echo.

Nicht nur wichtige außenpolitische und nationale Entscheidungen haben den Bundestag geprägt; auch bei Fragen über den Umgang mit Gentechnik, Stammzellenimport oder Organtransplantation hat sich das Parlament als zentraler Ort zukunftsträchtiger gesellschaftspolitischer Entscheidungen erwiesen. Der Bundestag überzeugte durch seinen differenzierten und offenen, zugleich aber auch gründlichen und fachlich substanzreichen Umgang mit diesen schwierigen und ethisch tief gehenden Themen. Viele Abgeordnete argumentierten aus sehr individuellen und persönlichen Erfahrungen heraus und machten so für eine breite Öffentlichkeit Politik verständlich und persönlich.

Über 50 Jahre Parlamentsgeschehen zeigen: Wenn große Debatten geführt und wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, bleibt trotz aller gegenläufigen Tendenzen der Bundestag der Ort der gemeinsamen Verantwortung.

Sönke Petersen

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0209/0211006e
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