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Jens Liebchen
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Zur Eröffnung der Ausstellung

"Künstler und ihre Werke in den Bauten des Deutschen Bundestages
Fotografien von Jens Liebchen"

im Paul-Löbe-Haus am 22. September 2003

Begrüßung (Präsident, Künstler, Besucher)

Das künstlerische Werk, dem heute unsere Aufmerksamkeit gilt, ist ein fotografisches, mithin eines, das nach wie vor mit dem Vorurteil zu kämpfen hat, nicht im künstlerischen Sinne zu bilden, sondern nur mit technischen Mitteln abzubilden. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß durch ein Foto das anvisierte Objekt eben nicht bloß abgebildet, gleichsam kopiert wird, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren verändert wird, durch die Perspektiv-Wahl, durch das Ambiente, die Kontraste, Licht und Schatten u. v. a. m. Der Fotograf verändert, gestaltet sein Objekt und bildet - sofern dies unter künstlerischen Aspekten geschieht - ein eigenständiges Kunstwerk.

So hat denn Henri Cartier-Bresson als Grundlage für ein gelungenes, gestaltetes Porträt festgestellt: "Psychologisches Gespür, der entscheidende Moment und der richtige Kamerastandort, das sind die wichtigsten Voraussetzungen für ein gutes Porträt." In diesem Sinne sah sich der 1970 in Bonn geborene Jens Liebchen, der sich auf die Dokumentation von Kunstereignissen spezialisiert hat, vor eine besondere Herausforderung gestellt. Die Besonderheit dieser Herausforderung gründet nicht nur in der Eigenheit des Charakters von Künstlern, sondern auch in der Wahl der spezifischen Orte, an denen Künstlerporträts zu fertigen waren: nämlich im Reichstagsgebäude und in den übrigen Parlamentsbauten. So hat Jens Liebchen in den Jahren von 1999 bis 2003 nahezu alle Künstler, die vom Kunstbeirat eingeladen worden waren, Kunstprojekte im Bundestag zu realisieren, vor Ort fotografierend begleitet.

Zwar hat das Genre des Künstlerporträts seine Tradition und bereits eine Reihe von typischen Aufnahmekonfigurationen hervorgebracht, so etwa das Porträt des Künstlers als Charakterstudie, den Künstler mit seinem Werk im Atelier oder das Künstlerporträt als eigenes Kunstwerk in der "Maniera" des Malers oder Bildhauers. Von diesen Traditionen hebt sich das Aufnahmekonzept von Jens Liebchen ab: Er konzentriert sich auf einen spezifischen Moment, auf den Moment nämlich, da der Künstler das Reichstagsgebäude oder einen Parlamentsbau betretend, seinem Werk - sei es vollendet oder noch in statu nascendi - gegenübersteht. Oft ist es Jens Liebchen gelungen, sogar genau den Augenblick einzufangen, in dem Künstlerin oder Künstler erstmals ihre Arbeit in dem Raum erleben, für den ihr Werk entworfen wurde.

Dieser Augenblick eines Wiedersehens und zugleich auch schon eines Abschiednehmens, des sorgfältig oder skeptisch prüfenden Blicks, bevor das Kunstwerk in die dem Künstler so ungewohnte Welt der Politik entlassen wird, ist ein Faszinosum. Ein solches verlangt die Aufnahme im "entscheidenden Moment", wie Henri Cartier-Bresson formuliert hat, ohne Zeit für Inszenierung oder Langzeitbeobachtung, denn der Kairos, der fruchtbare Augenblick, ist so kurz wie er faszinierend ist.

Diesen Kairos, diesen fruchtbaren Augenblick begleitet Jens Liebchen nahezu wie eine Bilderzählung, indem er den Künstler bei der Arbeit an seinem Werk zeigt und schließlich, gleichsam als Finale, die Selbstdarstellung des Künstlers vor seinem Werk. Auf diese Weise entsteht ein spannungsvoller Bogen vom Bild des noch zweifelnden, arbeitenden Künstlers in seiner Unsicherheit, ja Verletzlichkeit bis hin zu dem der stolzen Präsentation des vollendeten Werkes. Diese Aufnahmesituationen gestaltet Jens Liebchen so abwechslungsreich, daß trotz dieses übergreifenden konzeptionellen Ansatzes nie der Eindruck schematischer Wiederholung entsteht.

So ist diese Folge von Fotografien als ein eigenständiges Kunstprojekt - parallel zur architekturbezogenen Kunst - charakteristisch für Jens Liebchen. Er arbeitet gleichsam "in der Schwebe zwischen Dokumentation und Konzept" (Alexander Tolnay) und hinterfragt so den "Mythos vom Künstler". Nicht der Künstler als geniale und dominante Persönlichkeit wird ins Bild gesetzt, sondern sein Werk, installiert im Raum der Politik. Zuweilen wirken die künstlerischen Installationen geradezu übermächtig und drängen den Künstler an den Rand des Bildes mit der stillen Botschaft, daß der Künstler hinter seinem Werk zurücktritt, daß das Werk und nicht sein Schöpfer bleiben wird.

So scheinen Momente der Skepsis oder der Vergänglichkeit in vielen Fotos von Jens Liebchen auf, dies um so akzentuierter, wenn die umgebende Architektur als Repräsentationsarchitektur sich in den Vordergrund drängt. Georg Baselitz beispielsweise, dessen Foto Sie auf der Einladungskarte sehen, wirkt verschwindend klein vor den mächtigen Werksteinquadern der südlichen Eingangshalle des Reichstagsgebäudes und vor seinem unerreichbar hoch über ihm installierten Monumentalgemälde "Friedrichs Melancholie". Vor dem Hintergrund dieser Architektur steht der Maler - aus der Bildmitte gedrängt - vor dem Schattenwurf eines hallenhohen pfeilerartigen Mauervorsprungs. Schwenkte die Kamera ein wenig weiter nach links, blieben nur das großformatige Gemälde und der gewaltige Raum übrig.

Es fällt auf, wie viel Ernsthaftigkeit, ja unübersehbare Melancholie aus diesen Fotos spricht. Seltsam fremd und ernst, selten entspannt bewegen sich die Künstler im Bild - wohl auch im Wissen um die unmittelbar bevorstehende Trennung von ihrem Werk. Sie scheinen sich bewußt, daß ihre Werke in den Parlamentsbauten durch die Kommunikation mit dem politischen Raum einem anderen Anspruch ausgesetzt sind als in Galerien oder Museen. Ihre Werke sind nun Teil einer staatlichen Repräsentation geworden, als welche sie sich behaupten müssen. Werden sie das leisten? Werden sie sich solchem Anspruch gewachsen erweisen?

Aus ihren Porträts sprechen zuweilen Zuversicht und Selbstgewißheit, aber auch Unsicherheit und Selbstzweifel. Es ist Jens Liebchen gelungen, die psychologische Spannung zwischen Verletzbarkeit, grüblerischem Zweifel, verhaltenem Stolz oder ausstrahlendem Selbstvertrauen einzufangen und stets in Beziehung zu den künstlerischen Werken in den Parlamentsbauten zu setzen.

So sind diese Fotos weit mehr als bloße Dokumentation künstlerischer Arbeit, sie stellen ein eigenes Kunstprojekt, eine eigene Reflexion über Kunst und Politik dar - und was kann für uns in diesen Räumen des Deutschen Bundestages anregender und herausfordernder sein? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, ich danke Jens Liebchen für dieses faszinierende Fotoprojekt.

Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/ausst/kunst_ausst/liebchen/rede2
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