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Debatte
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Wortlaut der Reden

Willy Brandt, SPD Dr. Theodor Waigel, CDU/CSU >>

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir brauchen uns keinen Spiegel vorhalten zu lassen, um zu erkennen, daß eine folgenreiche Entscheidung selten so verwirrend und unzulänglich vorbereitet worden ist wie die heutige.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, dem Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)

Ich denke, Frau Präsidentin, man tritt auch unserem Präsidium nicht zu nahe, wenn man es in diesen Wochen hart an der Grenze der Überforderung vermutete.

Wochen-, nein monatelang ist in der Öffentlichkeit Lobbyismus als Gemeingut feilgeboten worden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Dabei hätte doch längst auf dem Tisch liegen können, wie -- über Berlin und Bonn hinaus -- Bundesbehörden und Bundesgerichte vernünftig auf die Länder -- alte und neue -- verteilt werden sollen. Darum war auch gebeten worden.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie des Abg. Jochen Feilcke [CDU/CSU])

Und warum wurde über die finanziellen Aspekte der Hauptstadtfrage nicht objektiver informiert, als ich es jedenfalls wahrgenommen habe. Auch darum wurde vor Monaten gebeten.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Die Öffentlichkeit wurde aufgeschreckt, weithin nicht fair unterrichtet, schon gar nicht im Vergleich zu milliardenschweren Fehleinschätzungen oder Fehlentscheidungen in anderen Bereichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ich weiß auch: Es muß heute entschieden werden. Trotzdem sage ich: Im Grunde fehlen wichtige Voraussetzungen dafür, über einen Gegenstand von diesem Gewicht über den Tag hinaus verantwortlich entscheiden zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es läßt sich daher nicht ausschließen, daß hier heute zu Kurzspringen und geradezu zum Nachsitzen aufgefordert werden könnte. Bei einer deutlichen Zuordnung von Bonn neben, nicht vor Berlin hätte sich das vermeiden lassen.

Wer wollte, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, bestreiten, daß es sich am Rhein gut leben, auch angenehm arbeiten läßt? Aber hier kann es nicht um unser Wohlbefinden und unsere alltäglichen Annehmlichkeiten gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Es geht um eine nationale Weichenstellung.

Also kann es sich auch nicht vorrangig um das handeln, worauf mich beispielsweise mein Verbandsbürgermeister -- er kommt hier ganz aus der Nähe -- hinweist, nämlich daß Kindern zugemutet werde, neue Spielkameraden zu finden, wenn Eltern umziehen. Ich unterschätze auch solche Probleme nicht. Aber ich sage: Ob es einem immer behagt oder nicht -- dieses und anderes gehört zu einer mobilen Gesellschaft. In der Wirtschaft werden Standortbestimmungen unter dem Gesichtspunkt dynamischen Wandels getroffen, im eigenen Land und darüber hinaus.

Unsere Aufgabe ist es, erstens mit dafür zu sorgen, daß Teilung durch Worthalten überwunden wird,

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

zweitens so nahe wie möglich an dem zu bleiben, was der Bundestag seit 1949 -- ich war schon dabei -- beschlossen und versprochen hat, drittens, so zu entscheiden, daß wir die neue Lage Deutschlands ebenso im Auge behalten wie die veränderte europäische Realität. Berlin -- das bedeutet heute zusätzlich zu anderem eine mehr als symbolische Form von Solidarität mit dem Osten unserer größer gewordenen Bundesrepublik.

Beim Thema Europa scheinen einige zu meinen, nationale Hauptstädte werde es bald nicht mehr geben. Ich habe da meine Zweifel, was den Zeitraum angeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie beim Bündnis 90/GRÜNE)

Ich rege Wiedervorlage an, wenn die Briten London, die Spanier Madrid et cetera abgeschafft haben werden.

(Heiterkeit und Beifall bei allen Fraktionen)

In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/

GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP --

Oh-Rufe und Widerspruch bei der CDU/CSU

-- Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt wird es ganz schlimm! -- Zuruf des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl)

-- Sie wollen den Vergleich mit fremder Gewalt nicht akzeptieren?

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Nicht mit Vichy! -- Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nein, nicht mit Vichy!)

-- Da sind die nun mal hingegangen.

Die Sonne würde sich nicht danach richten, sollte hier beschlossen werden, sie habe sich künftig um die Erde zu drehen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Deutschlands Stellung in dem sich ökonomisch und politisch ausdehnenden Europa wird nicht daran gemessen werden, wie kilometernah unsere Hauptstadt bei Brüssel liegt. Deutschland bleibt nicht der Osten vom Westen, sondern es wird zur neuen Mitte Europas. Berlin liegt da gut, auf beide Schienen bezogen: Nord-Süd und West-Ost. Deutschland braucht keine Hauptstadt eigens für Cocktailempfänge.

(Oh-Rufe bei der CDU/CSU -- Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt sollten Sie besser aufhören!)

Berlin, in schweren Jahren Vorposten der Freiheit, hat es auch nicht verdient, mit einem Ehrentitel ohne sachlichen Inhalt abgespeist zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie beim Bündnis 90/GRÜNE)

Man darf bezweifeln, ob die Kollegen aus dem anderen Teil Deutschlands richtig gewußt haben, was ihnen im vorigen Jahr mit dem Einigungsvertrag zugemutet wurde. Ich habe auch nicht gleich bemerkt, daß es um nicht weniger ging, als die Hauptstadtbeschlüsse des Bundestages seit 1949 auszuhebeln. Statt dessen hätte man sagen können: Berlin übernimmt nach und nach die ihm vorbehaltene Rolle der Hauptstadt Deutschlands -- weshalb war sonst bis 1989 vom Provisorium die Rede? --, Bonn behält wichtige Behörden und erhält neue Aufgaben hinzu. Es ist immer noch möglich, sich entsprechend zu entscheiden, und zwar so, daß die Lebensqualität der Bonner Region ebenso gewahrt bleibt wie die der beim Bund Beschäftigten.

Wenn ich dies sage, so bin ich sicher, über Parteigrenzen hinweg für den größten Teil derer mitsprechen zu können, die diese Bundesrepublik wesentlich haben formen geholfen. Die nicht mehr unter uns sind, brauchen sich nicht mehr anzuhören, die Zeit der Alten sei vorbei. Die dessen aber so sicher sind oder scheinen, werden noch erfahren, daß die Geschichte diejenigen einzuholen pflegt, die ihr zu entkommen trachten.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Man verschone uns, will ich sagen, mit dem unsinnigen Gerede -- gestern abend war davon wieder einiges auf unappetitliche Weise über das Fernsehen vermittelt worden --, durch das Berlin mehr als andere deutsche Städte zum Hort verbrecherischen Nazismus und gefährlichen Nationalismus gestempelt werden soll oder als Stadt und Bevölkerung für die im Ostteil der Stadt angesiedelte Führung der SED und ihrer Blockpartner verantwortlich sein soll. So daherzureden ist nicht würdig.

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutsche Städte und Regionen, übrigens auch Universitäten, sollten sich miteinander der kollektiven Peinlichkeit enthalten, die es bedeutet, wenn ihre Herolde einander den unterschiedlichen Grad von Verstrickung in totalitäre Herrschaft vorwerfen.

Schließlich, ich denke, das Preußische taugt immer noch zu mehr als einer bloßen Karikatur.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und Föderalismus, moderne Bundesstaatlichkeit kann gewiß nicht nur vom linken Rheinufer aus vernünftig wahrgenommen werden. Verehrter Herr Kollege Baum, wenn schon Föderalismus, darf nicht dann auch wiegen, daß sich von 16 Landtagen 12 für Berlin ausgesprochen haben?

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für mich gehört zu den unauslöschlichen Daten meines Lebens das, was wenige Jahre nach dem Krieg im deutschen Westen an neuer freiheitlicher Staatlichkeit errichtet worden ist. Bonns Verdienste sind nicht nur unbestritten, sondern haben geschichtlichen Rang.

Doch die freiheitliche Selbstbehauptung West-Berlins ging dem noch voraus. Die Wiege der deutsch-westlichen Freundschaft stand an der Spree. Die Volkserhebung vom Juni 1953 in Ost-Berlin und dem, was wir damals die Zone nannten, stand nicht am Ende, sondern am Anfang jenes Kettenrasselns, aus dem jetzt die Chance der gesamteuropäischen Einheit in Freiheit wurde.

Auch hierauf gilt es angemessen zu antworten, wenn wir heute darüber entscheiden, ob Berlin deutsche Hauptstadt werden soll -- Deutschlands wegen, mehr als bloß nach dem Namen.

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Bundesminister Theo Waigel.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_009
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