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15. Wahlperiode
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   182. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 17. Juni 2005

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um eine Beschlussempfehlung und einen Bericht zum Antrag der Fraktion der FDP ?Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa erhalten“ erweitert werden. Der Zusatzpunkt 11 soll in verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 17 a bis c aufgerufen werden. Von der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

– Drucksachen 15/5556, 15/5602 –

(Erste Beratung 178. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen

– Drucksache 15/5270 –

(Erste Beratung 178. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)

– Drucksache 15/5714 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Reinhard Göhner

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 15/5722 –Berichterstattung:Abgeordnete Volker Kröning Hans-Joachim Fuchtel Anja Hajduk Otto Fricke

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

(Dirk Niebel (FDP): Jetzt kommt der Abgesang dieser Regierung! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Na, na, na, Herr Niebel! Fangen Sie jetzt schon an? Er hat doch noch keinen Ton gesagt!)

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Laumann, Sie halten heute ihre Abschiedsrede. Wir haben sieben Jahren zusammengearbeitet. Wir hatten einen fairen Umgang miteinander; das möchte ich Ihnen bestätigen. Auch Ihre Verlässlichkeit habe ich persönlich sehr geschätzt. Ich weiß trotzdem, dass wir in vielen Punkten in der Sache durchaus unterschiedliche Positionen vertreten haben, auf die ich in meinem Beitrag noch zu sprechen kommen werde.

   Dem Kollegen Laumann muss man bei der Umsetzung der von uns gemeinsam beschlossenen Reformen viel Glück wünschen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt kommt es in Nordrhein-Westfalen darauf an, dass die Arbeitsgemeinschaften wirklich zügig arbeiten, damit in seiner Verantwortung das sichergestellt wird, was hier auch oft kontrovers debattiert worden ist, zum Beispiel dass die Altenpflegeausbildung in den Ländern, die die Verantwortung dafür bekommen haben, geleistet wird und dass die Bildungseinrichtungen nicht nur als Wallfahrtsort genutzt werden, sondern dass gewährleistet wird, dass sie weiter existieren können.

   Sie werden große Verantwortung übernehmen. Aus unserer Sicht kann Ihr Vorhaben, die Höhe der Kohlesubventionen nach und nach zu reduzieren, nicht ohne betriebsbedingte Kündigungen ablaufen. Insofern will ich ganz deutlich sagen: Sie sind in Nordrhein-Westfalen wirklich an exponierter Stelle gefordert, einen Beitrag zu leisten, damit Politik weiterhin verlässlich bleibt. Dafür übernehmen Sie Verantwortung und dafür wünsche ich Ihnen eine gute Hand.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Heute geht es unter anderem um die Bezugszeiten beim Arbeitslosengeld. Bei diesem Sachthema liegen unsere Positionen deutlich auseinander. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist nicht so, dass kürzere Bezugszeiten ihre Wirkung entfalten könnten. Wir wissen auch, dass ältere Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, nur schwer wieder eine Stelle finden. Bessere Beschäftigungschancen sind aber für Sozialdemokraten die Voraussetzung dafür, kürzere Bezugszeiten beim Arbeitslosengeld umzusetzen. Solange diese besseren Chancen nicht gegeben sind, braucht der Reformprozess Vertrauen. Wir müssen das, was wir jetzt vorhaben, möglichst gemeinsam umsetzen.

(Beifall bei der SPD)

   Sie haben im Übrigen dazu das Feuer mit gelegt. Der zukünftige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und auch viele Debattenredner hier sprachen von einer 24-monatigen Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld für Ältere. Das ist in der Bevölkerung gut angekommen. Jetzt haben wir eine Regelung vorgeschlagen, die Sie im Übrigen vor 1998 in das Gesetz hineingeschrieben hatten. Heute sagen Sie dazu – das lese ich über Herrn Pofalla –, das sei unsozial. Wie das zusammenkommt, dass heute unsozial ist, was gestern für Sie eine Wohltat war, müssen Sie den Menschen in diesem Land erklären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wollen, um das deutlich zu sagen, auf diesem Gebiet helfen, damit die Menschen Vertrauen in den notwendigen Reformprozess und darin haben, dass Politik rechtzeitig Veränderungen vornimmt, Übergänge schafft und Brücken baut. Wir wollen die Unterstützung für diesen Reformprozess beibehalten. Deshalb werden wir diesen Weg konsequent gehen.

   Wir müssen uns auch mit dem auseinander setzen, was Sie in Bezug auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vorschlagen. Sie sagen zu allererst, dass das Arbeitslosengeld für alle Arbeitslosen um 25 Prozent in der ersten Bezugsdekade gekürzt werden soll. Dann soll erst nach zehn Jahren ein Anspruch auf ein zwölfmonatiges Arbeitslosengeld bestehen, nach 25 Jahren auf ein 18-monatiges und nach 40 Jahren auf ein 24-monatiges. Der Anspruch auf das Arbeitslosengeld ist schnell aufgebraucht.

(Peter Dreßen (SPD): Was werden dazu wohl die jungen Leute und die Frauen sagen?)

Erst nach zehn Jahren wird wieder ein Anspruch auf ein Arbeitslosengeld von einem Jahr gewährleistet sein. Gerade der Schutz derjenigen, die eine solidarische Versicherung brauchen, wird damit zerstört. Damit helfen Sie nicht denjenigen, die genau diesen Schutz dringend haben müssen; denn auf dem Arbeitsmarkt sind die Geringqualifizierten diejenigen, die häufig einen Arbeitsplatzwechsel vornehmen müssen und für die wir den notwendigen Schutz organisieren müssen. Genau das regeln Sie mit diesem Gesetzentwurf aber nicht.

(Beifall bei der SPD)

   Ihr Vorschlag geht an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Arbeitsplatzwechsel wird auch von Ihnen regelmäßig eingefordert: mehr Flexibilität, mehr befristete Arbeitsverhältnisse und mehr Werkverträge. In diesem Zusammenhang wollen Sie die Arbeitslosenversicherung zu einer Ansparversicherung degradieren. Damit verletzen Sie das Subsidiaritätsprinzip in dieser Gesellschaft und damit verletzen Sie das Solidarprinzip in dieser Gesellschaft,

(Dirk Niebel (FDP): Völliger Unsinn!)

weil nur diejenigen Anspruch auf Leistungen haben sollen, die entsprechend umfangreich eingezahlt haben. Dafür brauchen wir keine gesetzliche Pflichtversicherung. Das kann dann jeder selbst machen. Ihr Motto ist das Matthäusprinzip: ?Denn wer hat, dem wird gegeben“. Das ist ein christliches Prinzip, wie Sie sagen; aber dieses Prinzip werden wir an dieser Stelle nicht mittragen. Wir sind dafür, dass wir eine solidarische Versicherung behalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Uns geht es aber nicht nur darum, dass Schutzmechanismen erhalten bleiben und dass die Reformen tragfähig bleiben. Uns geht es darum, die Beschäftigungschancen Älterer tatsächlich zu verbessern. Da hätten Herr Singhammer und Herr Pofalla, die sich zu diesem Thema sehr häufig geäußert haben, allen Grund, gerade die Unternehmen systematisch aufzufordern, ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. In Deutschland ist nämlich die Beschäftigung Älterer unterentwickelt und Unternehmen haben Negativbeispiele en masse geliefert. Damit hätten sie ein gutes Werk für Deutschland getan.

   Lassen Sie mich etwas dazu sagen, was wir tatsächlich tun. Wir erhöhen die Beschäftigungschancen für Ältere dadurch, dass wir die Weiterbildungskosten zum Beispiel für Arbeitnehmer ab 45 Jahren in Unternehmen bis 200 Beschäftigten noch einmal ausdehnen, indem wir die Entgeltsicherung, also die Zuschüsse für ältere Arbeitnehmer, die eine niedrig entlohnte Tätigkeit aufnehmen, entbürokratisieren und früher ermöglichen. Wir regeln, dass 250 Millionen Euro für 50 regionale Beschäftigungspakte für ältere Langzeitarbeitlose zur Verfügung gestellt werden. Ein Wettbewerb in diesen Regionen soll Best-practice-Beispiele herausarbeiten, damit Chancen auch in einer solchen Übergangsphase für diesen Personenkreis organisiert werden.

   Auch da gibt es ein weiteres Moment, wo wir, wie ich finde, sehr positive Vorschläge erarbeitet haben. Es sollen 50 000 Zusatzjobs für Ältere geschaffen werden, die in gemeinnützigen Einrichtungen in den Regionen tätig werden können. XXXXX

Die 50 000 Zusatzjobs sollen durch die Länder mitfinanziert werden. Dabei ist auch Ihre Mithilfe gefragt, Herr Laumann. Denn wenn wir glaubwürdig längerfristige Projekte organisieren wollen, in denen sich die Länder an notwendigen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beteiligen, dann sind gerade diejenigen gefordert, die in der Vergangenheit von der Gesellschaft Beiträge zur Integration Älterer erwartet haben.

   Mit unseren Reformen haben wir einen schwierigen Weg eingeschlagen. Wir wissen aber, dass die Herausforderungen des weltweiten Wettbewerbs und des demographischen Wandels diese Reformen notwendig machen. Unser Weg ist logisch, weil wir das Vertrauen in die Übergangszeiten stärken.

   Wir stehen für die soziale Marktwirtschaft. Das ist unser Markenzeichen, das uns vor allem in der Frage unterscheidet, wie die Arbeitslosenversicherung justiert werden soll: eben nicht als Sachversicherung bzw. als Prinzip, dass derjenige, der viel einzahlt, viel herausbekommt. Vielmehr muss sich derjenige, der der größten Hilfe und Unterstützung bedarf, auf das Sozialsystem verlassen. Das ist unser Prinzip der sozialen Marktwirtschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Unser Umbauprozess soll den Sozialstaat erhalten. Wir wollen den solidarischen Sozialstaat erhalten. Dabei müssen wir die Menschen mitnehmen. Wir müssen ihr Vertrauen stärken, statt ihnen Angst zu machen. Daher kann ich uns nur gemeinsam auffordern, diesem Thema mehr Bedeutung beizumessen, als es in der Vergangenheit im Parteienstreit der Fall war.

   Ich hoffe, dass Sie Ihren eigenen Antrag, in dem Sie eine Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von 24 Monaten fordern, jetzt nicht einfach über Bord werfen, wie es von einigen angekündigt wurde. Herr Pofalla hat zum Beispiel in der Presse angekündigt, dass dieses Gesetz im Bundesrat gestoppt und der Vermittlungsausschuss angerufen werden soll, um eine solche – aus unserer Sicht sinnvolle – Änderung auszusitzen. Das zeigt, wie taktisch Sie mit diesen Fragen umgehen: Nach außen wird so getan, als wolle man einer besonderen Gruppe eine soziale Leistung zukommen lassen; durch die Hintertür wird das Vorhaben dann aber wieder einkassiert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das geht nicht an und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Heute Morgen besteht genug Gelegenheit, das deutlich zu machen. Ich hoffe, dass Herr Laumann mithilft, dieses Vorgehen im Bundesrat zu stoppen.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir für meine letzte Rede nach 15 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag sehr gewünscht, über ein Zukunftsthema sprechen zu können. Leider ist das bei Ihrem Antrag nicht möglich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Peter Dreßen (SPD))

Sie schlagen eine Reihe von arbeitsmarktpolitischen Regelungen vor, von denen Sie genau wissen, dass sie wirkungslos und in Teilen im höchsten Maße missbrauchsanfällig und in anderen Teilen halbherzig sind.

(Peter Dreßen (SPD): Ich dachte immer, in der letzten Rede muss man bei der Wahrheit bleiben!)

   Ich will vorweg feststellen: Ihr Antrag, der in Ihrer Fraktion so zustande gekommen ist, dass Sie sowohl den Bundesarbeitsminister als auch den Bundesfinanzminister überstimmt haben, ist das Eingeständnis, dass Sie mit der gesamten Hartz-Gesetzgebung gescheitert sind.

(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen (SPD): Dann sind wir aber gemeinsam gescheitert!)

Ich erinnere daran, dass Hartz am 16. August vor drei Jahren gesagt hat, er wolle in drei Jahren die Zahl der Arbeitslosen in diesem Land um 2 Millionen abbauen. Wir hatten damals 4 Millionen Arbeitslose; jetzt sind es 5 Millionen. Sie können niemandem in diesem Land erklären, dass die Zunahme um 3 Millionen gegenüber dem Ziel von Hartz auf statistische Effekte zurückzuführen ist.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das stimmt überhaupt nicht! Warum erzählen Sie immer nur die falschen Zahlen!)

   Ich will nur ein Beispiel nennen. Sie haben den Menschen damals versprochen, dass jährlich 500 000 Menschen mit einer Ich-AG in die Selbstständigkeit geführt werden können. Das steht im Hartz-Bericht.

   Wir haben Sie schon damals im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie Deutschland ein so gewaltiger Ausbau der Mikroökonomie nicht möglich ist. Statt der erwarteten 1,5 Millionen Förderfälle in den drei Jahren waren lediglich 230 000 zu verzeichnen. Wenn die Förderung ausläuft, geben die meisten wieder auf.

   Zudem haben die Ich-AGs auf dem regulären Arbeitsmarkt zu einer riesigen Verdrängung im Handwerk geführt. Das ist das Ergebnis. Sie aber schlagen jetzt die Verlängerung vor.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben vor einigen Wochen vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl eine Heuschreckendiskussion angefangen. Heute schlagen Sie im Deutschen Bundestag für die Großunternehmen mit der Kombination aus der 58er-Regelung und der Verlängerung der bisherigen Laufzeiten des Arbeitslosengeldes eine Vorruhestandsmöglichkeit vor, ohne dass die Wirtschaft einen Cent dafür bezahlen muss. So viel zum Thema Heuschrecken!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Jetzt sage ich Ihnen, wer diese Suppe auslöffeln wird:

(Peter Dreßen (SPD): Wer hat denn diese Regelung erfunden? Wer hat diese Regelung denn gemacht? Das waren wir doch gemeinsam!)

Auslöffeln werden sie der Mittelstand und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den mittelständischen Betrieben. Dabei setzen wir all unsere Hoffnung darin, dass gerade die mittelständischen Betriebe einen entscheidenden Beitrag zu Ausbildung und Beschäftigung leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Singhammer (CDU/CSU): Völlig richtig!)

   Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine andere Diskussion brauchen, um das Vertrauen der Menschen in unser politisches System wiederzugewinnen. Wenn eine Volkspartei Stimmen verliert und eine andere diese bekommt, dann ist das erst einmal nicht schlimm. Schlimm wird das Ganze erst dann, wenn die etablierten Parteien insgesamt an Zustimmung verlieren. Ich glaube, wir werden die Zustimmung der Menschen für unser System nur dann behalten, wenn durch unsere Entscheidungen klar wird, dass Gerechtigkeit Zukunft schafft. Zur Gerechtigkeit gehört zu allererst die Ehrlichkeit. Sie wissen ganz genau, dass das, was Sie heute vorschlagen, nicht gegenfinanziert ist. Sie schlagen also etwas vor, was Sie am Ende nicht bezahlen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin sehr dafür, dass wir den Menschen vor den Wahlen sagen, was wir nach den Wahlen tun werden. Deswegen wird meine Fraktion in der nächsten Sitzungswoche – ich will das jetzt schon hier ankündigen – einen Antrag einbringen, in dem wir detailliert darstellen werden, wie unsere Vorstellungen zur Bezugsdauer von Arbeitslosengeld sind.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stellen Sie ihn doch heute vor!)

Sie werden dann sehen, dass wir eine Verbindung zur Dauer der Beitragszahlung – bei Ihnen ist es die Verbindung zum Alter – herstellen: Wer über eine lange Zeit Beiträge geleistet hat, dem muss länger geholfen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir werden auch eine Lösung vorschlagen müssen, mit der sichergestellt wird, dass die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld kombiniert mit einer 58er-Regelung, wie Sie sie vorschlagen, nicht eine Einladung zum massenhaften Vorruhestand wird. Denn das kann am Ende nicht bezahlt werden. Außerdem werden dadurch diejenigen, denen wir helfen wollen, nicht besser geschützt.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu.

   Mir ist völlig klar, dass wir in diesem Land eine neue Regelung brauchen. Menschen, die über 30, 40 Jahre Steuern und Beiträge gezahlt haben, dürfen nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit nicht genauso behandelt werden wie diejenigen, die weniger geleistet haben. Etwas anderes könnte man den Menschen in unserem Land nicht erklären.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Stellen Sie sich vor, jemand hat lange Zeit Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze gezahlt. Er hat dann auch mit seiner Einkommensteuer den Staat getragen. Aber nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit soll er wie jemand behandelt werden, der nicht so viel geleistet hat?

(Peter Dreßen (SPD): Das ist doch gar nicht wahr!)

Das können Sie niemandem erklären. Sie müssen aber verhindern, dass eine neue Regelung eine Einladung zum Vorruhestand wird. Sie können aus der Arbeitslosenversicherung keine vorgezogene Rentenversicherung machen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Da muss man intelligenter vorgehen, als Sie es getan haben.

   Ich glaube, dass wir einen zweiten Gedanken stärker in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rücken müssen.

(Uwe Beckmeyer (SPD): Wahrhaftigkeit!)

Arbeit für alle ist der Schlüssel für Gerechtigkeit. Deswegen brauchen wir nach meiner Meinung eine Debatte im Bundestag vor allen Dingen darüber, wie wir unsere Wachstumskräfte stärken können: durch eine Vereinfachung des Steuerrechtes, durch Abkopplung eines Teils der sozialen Sicherungssysteme vom Faktor Arbeit, durch eine unideologische Forschungspolitik, durch eine offene Haltung zu neuen Technologien und vor allen Dingen zu einer wachstumsfreundlichen Energiepolitik. Wenn man diese Punkte in den Mittelpunkt der Debatte stellen würde, was wirtschaftspolitisch vernünftig wäre, und wenn man, eingebettet in eine solche Debatte, überlegen würde, was im Arbeitsrecht und was bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes notwendig wäre, dann bekäme die Debatte einen ganz anderen Drive, als sie sie bei der Rechts-Links-Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag oft gehabt hat.

   Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass wir im Bundestag und in unserer Gesellschaft eine Debatte über die Frage brauchen, wie wir in Deutschland eine gerechte Entlohnung behalten und wie wir Lohndumping verhindern. Die Krise der Europäischen Union, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Menschen ihr nicht mehr vertrauen, hat damit zu tun, dass die Menschen die Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt spüren. Wir haben große Fehler gemacht, etwa bei der Dienstleistungsfreiheit. Sie aber haben gar nicht darauf reagiert.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Richtig! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unsinn! Das ist eine glatte Lüge!)

Jetzt haben wir die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Sie haben damals doch verhandelt und diese Probleme nicht gesehen. Jetzt öffnen Sie bitte Europa nicht für weitere Arbeitskräfte, die die Probleme noch verstärken! Nehmen Sie Abstand vom Beitritt der Türkei, damit wieder Vertrauen in die europäischen Institutionen entsteht!

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unglaublich! Hier wird gelogen, dass sich die Balken biegen!)

   Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang ganz klar: Natürlich ist es richtig, in einzelnen Branchen, die sich darauf einigen, das Lohnniveau durch die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen gerechter zu gestalten und die Lohnniveaus für entsandte Arbeitnehmer festzuschreiben. Wer aber in der politischen Debatte zum Beispiel sagt, Gebührenordnungen seien unantastbar, und gleichzeitig der Meinung ist, dass in diesem Bereich nichts geregelt werden darf, der sollte sich die Frage nach Gerechtigkeit einmal selber beantworten.

(Zuruf von der SPD: Wer sagt das denn?)

– Solche Debatten gibt es hier und da.

   Wenn wir den Arbeitsmarkt nach vorne bringen wollen, brauchen wir eine Debatte über die Frage nach der gerechten Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Es ist nicht in Ordnung, dass 26 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, die uns zurzeit wegschmelzen wie Butter in der Sonne, in der Krankenversicherung teilweise bis zu 90 Prozent der Bevölkerung absichern. Ich glaube, dass die Abkoppelung von den Arbeitskosten in diesem Bereich durch eine solidarische Gesundheitsprämie bei Finanzierung eines Sozialausgleichs und Mitversicherung von Kindern über Steuern eine gerechtere Antwort ist als das heutige Verteilungssystem.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die sozialen Sicherungssysteme können einen erheblichen Beitrag für mehr Beschäftigung in unserem Land leisten.

   Ich wünsche mir sehr, dass in unserer Gesellschaft und insbesondere im Deutschen Bundestag darüber geredet wird, wie wir in diesem Land für mehr Gerechtigkeit und soziale Kapitalpartnerschaft sorgen können. Ich halte es für keine gute Entwicklung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland immer weniger an den Erträgen der Wirtschaft auf der Kapitalseite und auf der Wettbewerbsseite beteiligt sind. Wir brauchen – der Deutsche Bundestag hat auf Antrag meiner Fraktion vor vier Wochen darüber debattiert – neue Impulse in der Vermögenspolitik.

   Der Kollege Brandner hat es schon angesprochen: Dies ist heute nach 15 Jahren meine letzte Rede als Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Sicherlich gibt mir die Geschäftsordnung die Möglichkeit, demnächst als Landesminister hier zu reden. Freuen Sie sich also nicht zu früh! Es ist kein Abschied für immer.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Aber es ist schon ein Einschnitt.

   Ich möchte mich heute persönlich bei Ihnen für die 15 Jahre ganz herzlich bedanken, in denen ich hier sein durfte. Es waren mit die spannendsten Jahre meines Lebens. Ich möchte für die Zusammenarbeit im Ausschuss für Arbeit und Soziales in den ersten Jahren und im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in den letzten drei Jahren Dankeschön sagen. Ich habe in den 15 Jahren meiner Zugehörigkeit zum Bundestag an allen Ausschusssitzungen – ich glaube, bis auf vier oder fünf, die in den letzten zwei, drei Wochen stattgefunden haben – teilgenommen.

   Ich bin der Meinung, dass ein Abgeordneter zwei Dinge machen muss: Er muss sich bei der Gesetzgebungsarbeit Mühe geben und quälen; das geht nur im Ausschuss. Außerdem muss er gewissermaßen ein Transportriemen zwischen dem, was wir im Bundestag tun, und seinem Wahlkreis sein. Ein Abgeordnetenverständnis, das dazu führt, dass man nur noch im Wahlkreis herumtingelt, und zwar auch in Sitzungswochen – das habe ich im eigenen Wahlkreis bei der Konkurrenz erlebt –, ist nach meiner Meinung falsch. In Sitzungswochen hat man vielmehr hier seine Arbeit – insbesondere in den Ausschüssen – zu tun.

   Herr Präsident, ich glaube, die Möglichkeit der nicht öffentlichen Ausschusssitzungen ist unbedingt erforderlich, um über Fraktionsgrenzen hinweg zu Regelungen – zumindest in Detailfragen – zu kommen. Das Parlament sollte sich diese Möglichkeit erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte zum Schluss eine weitere Anmerkung machen. Sie von der SPD haben damals, als Sie die Vorlagen zu Hartz eingebracht haben, gesagt: Das wird eins zu eins umgesetzt. Dabei haben Sie auf kein Ergebnis irgendeiner Anhörung geachtet. Ich kann dazu nur sagen: Das war für mich die bitterste Erfahrung im Ausschuss, weil ich zum ersten Mal erlebt habe, dass der Parlamentarismus bei Ihnen keine Rolle spielt. Nun löffeln Sie die Suppe aus, nicht Herr Hartz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)

Gesetze in Kommissionen zu machen und sie im Parlament nur noch durchzuwinken – alles, was wir machen, erstarrt zum Ritual –, das ist des Deutschen Bundestages nicht würdig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein allerletzter Gedanke: Wir müssen im Deutschen Bundestag zu einer Arbeitsweise finden, bei der wir die Europagesetzgebung mehr im Auge haben. Wir schimpfen immer über die Richtlinien. Die fallen ja auch nicht vom Himmel. So wie wir zurzeit unsere Arbeit organisiert haben, ist es nach meiner Meinung fast nicht möglich, fachlich seriös zu beurteilen, was wir zu den verschiedenen Gebieten in den Ausschüssen beraten und worüber wir dann abstimmen. Der Ältestenrat des neuen Bundestages sollte darüber nachdenken, wie wir insofern bessere Regelungen finden. Wir brauchen auch mehr Mitarbeiter für diese Europafragen, um das Ganze besser beurteilen zu können. Das ist schon wichtig.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Alles, was Ihre Fraktion bisher abgelehnt hat!)

Europa bestimmt immer mehr unser Leben. Wir sollten hier im Deutschen Bundestag die Dinge miteinander sehr konsequent beraten.

   In diesem Sinne wünsche ich dem Deutschen Bundestag eine gute Zeit. Ich hoffe, dass es bald eine Neuwahl gibt und dass nach dieser Neuwahl vor allem eines passiert: dass der Geist der 68er aus diesem Haus auszieht.

   Schönen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU Beifall bei der FDP Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Pfui!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Lieber Kollege Laumann, Ihre Abschiedsworte waren – wie Ihre Worte hier immer – freundlich und zugespitzt zugleich. Ich wünsche Ihnen herzlich alles Gute für Ihre künftige Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Nun erteile ich Kollegin Thea Dückert, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

(Zuruf)

– Entschuldigung. Ich habe die Wortmeldung zu einer Kurzintervention jetzt vergessen. Das holen wir nach. Zunächst redet die Kollegin Dückert.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Laumann, Sie haben zum Schluss sehr harte Worte gefunden. Ich hätte mir gewünscht, dass bei diesen letzten Worten ein wenig mehr Ihres Demokratieverständnisses zum Ausdruck gekommen wäre;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

ich weiß nämlich, dass Sie es durchaus haben. Trotzdem möchte ich mich persönlich recht herzlich für die Zusammenarbeit an vielen Stellen bedanken. Ich wünsche Ihnen persönlich einen guten Weg. Sie haben hier noch einmal ein gutes Beispiel dafür gegeben, warum es wichtig ist, dass wir viel Kraft darauf verwenden, die Politik, die Sie hier vertreten, ganz stark zu bekämpfen und ihr etwas entgegenzusetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es trifft zu, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Land viel zu hoch ist. Es trifft zu, dass deswegen viele unserer notwendigen Reformen noch nicht wirken. Wo wegen fehlender Wirtschaftsdynamik keine Arbeitsplätze entstehen, kann auch nicht vermittelt werden. Aber es trifft ebenso zu, dass viele Teile unserer Arbeitsmarktreformen gerade vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit ihre Wirkung entfalten und fortgeführt werden müssen, damit sie es auch weiterhin tun können.

   Ich nenne ein Beispiel für das, was die Union bekämpft. Die Existenzgründungshilfen haben vielen Menschen aus der Arbeitslosigkeit geholfen, haben sie unterstützt, den Mut zu finden, aus der Arbeitslosigkeit zu gehen und selbstständig zu werden. 278 000 Menschen, die diese Hilfe bekommen haben, sind nach einem Jahr immer noch nicht wieder arbeitslos. Die Union will diese Hilfen streichen. Wir wollen mit dem, was wir heute vorlegen, genau diese Hilfestellung verlängern.

   Unsere Gesetzgebung wirkt zum Beispiel auch beim Zurückdrängen der Schwarzarbeit. Das ist ein großer Erfolg in diesen Zeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Aber die Arbeitslosigkeit ist – ich sagte es schon – nach wie vor zu hoch. Wir können das nicht akzeptieren. Es ist eine sehr schwierige Situation gerade für Ältere. Darum schlagen wir in dem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, einiges dazu vor. Ich will es lediglich kurz erwähnen, weil ich nur wenig Zeit habe.

   Ein Beispiel ist die Entgeltsicherung. Viele Menschen kennen sie gar nicht. Es ist so, dass Langzeitarbeitslose über 50 Jahre, die wieder einen Job finden, aber weniger verdienen als früher, eine Aufstockung auf ihr altes Gehalt bekommen können.

Das ist eine echte, eine würdevolle und eine richtige Hilfestellung, damit diese Menschen den Mut entwickeln, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzugehen. Wir wollen die Geltungsdauer dieser Regelung verlängern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn ältere Menschen eingestellt werden, führt das auch auf Unternehmensseite zu geringeren Abgaben bzw. Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung. Das heißt, wir haben auch den Unternehmen einen Anreiz gegeben. Das ist wichtig, weil sie ja ältere Arbeitnehmer immer wieder frühzeitig ausgrenzen, was wir für unakzeptabel halten. Eine entsprechende Regelung ist also in dem, was wir heute vorgelegt haben, vorgesehen.

   Weil sich in dieser Gesellschaft ständig die Qualifikationsanforderungen ändern, ist ein weiterer Punkt wichtig, den wir heute hier zur Abstimmung stellen: Es geht darum, dass betriebliche Weiterbildung für ältere Arbeitnehmer ab 45 Jahren gefördert wird. Betrieben bis zu 200 Beschäftigten werden Hilfen für Weiterqualifizierung dieser Arbeitnehmer gegeben. Ich glaube, auch das ist wichtig.

   Man muss hier noch einmal deutlich sagen, dass wir ein großes Paket an Hilfestellungen haben. Das wird in der Öffentlichkeit leider häufig nicht transportiert, weil der Fokus auf andere Streits gelenkt wird. Dazu komme ich gleich.

   So wird heute auch die Verlängerung der Übergangsfrist für die Veränderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vorgeschlagen. Wir haben ja vor– das ist Gesetz–, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu verändern und an bestimmten Stellen auch zu reduzieren. Wir wollen nämlich dieser unseligen Frühverrentungspraxis, die seit Ende der 80er-Jahre in Deutschland aufgebaut worden ist und den älteren Arbeitnehmern nicht wohl tut, keinen Vorschub leisten. Sie ist nämlich insofern problematisch, als sie dazu geführt hat, dass viele Betriebe in Deutschland keine Beschäftigten mehr haben, die älter als 50 Jahre sind, indem Ältere einfach aufs Altenteil geschoben werden, ob sie es wollen oder nicht.

(Dirk Niebel (FDP): Dann ist das jetzt die falsche Maßnahme!)

Das, meine Damen und Herren, ist eine falsche Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Dirk Niebel (FDP): Richtig!)

   Deswegen hatten wir einen Gesetzentwurf eingebracht– der ja auch schon verabschiedet wurde–, der dazu führt, dass diese Frühverrentungspraxis zum Beispiel durch Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes unattraktiver wird.

(Dirk Niebel (FDP): Warum kehren Sie dann jetzt um?)

Die Übergangsfrist, bis die Regelungen dieses Gesetzes in Kraft treten, wird nun um zwei Jahre verlängert.

(Dirk Niebel (FDP): Das finden Sie doch auch falsch!)

Warum? Weil wir immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit haben, die bei den Menschen in den Betrieben Angst auslöst. Und da wir diese Angst bei den Menschen in den Betrieben ernst nehmen und wir bei Verabschiedung des Gesetzes nicht erwartet haben, dass die Arbeitslosigkeit immer noch so hoch sein würde, darum verlängern wir die Frist, bis die Regelungen dieses Gesetzes greifen.

   Ich sage aber auch ganz deutlich, es besteht die Gefahr, dass diese Regelung von den Unternehmen missbraucht wird, um weiterhin die Älteren frühzeitig aufs Altenteil zu schicken. Ich kann nur an die Unternehmen und die Gewerkschaft appellieren, dass sie unsere Absicht, den Menschen in den Betrieben ein Stück Sicherheit zu geben, nicht ausnutzen, indem sie den betroffenen Personenkreis frühzeitig ausgliedern. Hier appelliere ich insbesondere an die Unternehmen.

   Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung machen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Aber eine kurze, bitte.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Eine kurze abschließende Bemerkung. – Die Union will das blockieren. Sie begründet das damit, dass gemäß dem Pofalla-Vorschlag Arbeitslosengeld über längere Zeit bezogen werden könne. Indem sie dieses den Menschen suggeriert, verschweigt sie, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für viele andere Menschen radikal verkürzt würde. Das ist ein Sparprogramm zulasten von jungen Menschen und von solchen, deren Erwerbsbiografien durch Unterbrechungen gekennzeichnet sind.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist aber jetzt schon eine längere Äußerung!)

Das betrifft insbesondere Frauen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das ist der letzte Satz. – Nach dem Unionsmodell müssen Menschen ab 55 Jahren, um so, wie wir das vorhaben, 18 Monate Arbeitslosengeld zu bekommen, nicht drei Jahre vorher gearbeitet haben, sondern insgesamt 25 Jahre. Erklären Sie einmal den Menschen, was daran gerecht ist! Das ist ungerecht, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Nun erteile ich Kollegen Peter Dreßen das Wort zu einer Kurzintervention.

Peter Dreßen (SPD):

Ich möchte auf den Kollegen Laumann doch noch zwei, drei Sätze erwidern. Mich hat furchtbar enttäuscht, Herr Laumann,

(Dirk Niebel (FDP): Dann hat er ja alles richtig gemacht!)

dass Sie es bei Ihrer Abschiedsrede nicht unterlassen konnten, dem Parlament ein paar Unwahrheiten mitzuteilen. Sie haben erklärt, dass die 58er-Regelung unerträglich sei. Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Regelung eigentlich Ihr Parteifreund Norbert Blüm mit uns gemeinsam Mitte der 90er-Jahre beschlossen hat, um ältere Arbeitnehmer vor dem sozialen Abstieg zu bewahren und verschiedene Dinge zu verhindern, und dass wir gemeinsam dafür gekämpft haben, dass diese 58er-Regelung in Gang kommt. Ich gebe zu: Wir haben damals den Fehler gemacht, das einseitig zulasten der Sozialkassen zu regeln. Aber das haben Sie, wie gesagt, mitzuverantworten. Sie waren damals an der Regierung und haben das so beschlossen.

   Ältere Arbeitnehmer haben leider Gottes – ich bedauere das – heute nach wie vor Probleme, in Arbeit zu kommen. Es gibt zwar Gott sei Dank ein paar Firmen, die sich umbesinnen; aber bis das greift, sollte diese alte Regelung – wir haben sie ja auf zwei Jahre, bis 2008, befristet – gelten. Deswegen finde ich es arg traurig, wie Sie das hier dargestellt haben.

   Mit dem zweiten Punkt, Herr Laumann, beziehe ich mich auf den Pofalla-Vorschlag, von dem auch Sie gesprochen haben: Sie sollten sich einmal überlegen, was es eigentlich für einen Familienvater im Alter von 25 oder 28 Jahren bedeutet, wenn er überhaupt kein Arbeitslosengeld bekommt, oder was es für Frauen bedeutet, wenn sie durch Kindererziehungszeiten geringere Versicherungszeiten haben. Sie haben gesagt – das hat mich furchtbar geärgert –, dass jemand, der noch nie eingezahlt hat, genauso viel bekommt wie jemand, der 40 Jahre lang eingezahlt hat. Sie wissen, dass das schlichtweg unwahr ist!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um überhaupt etwas zu bekommen, muss man mindestens zwölf Versicherungsmonate haben. Sagen Sie also nicht solche Unwahrheiten! Das hat mich wirklich traurig gemacht. Ich hoffe, dass Sie in Ihrem neuen Amt ein bisschen ehrlicher mit den Dingen umgehen; denn es kann ja wohl nicht sein, dass Sie nach dem Motto leben: Wessen Brot ich ess’, dessen Gewissen ich übernehm’.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Laumann, bitte.

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Lieber Kollege Dreßen, Sie sind ja nun auch schon eine lange Zeit – seit 1990, glaube ich – im Ausschuss. Ich denke, dass Sie doch richtig zuhören können. Ich habe gesagt, dass ich es nicht für richtig halte, dass – das kann man auch nicht vermitteln – jemand, der lange Zeit Beiträge gezahlt hat – mancher Leistungsträger in der Privatwirtschaft bis zur Beitragsbemessungsgrenze –, der über Jahrzehnte erheblich Einkommensteuer gezahlt hat,

(Peter Dreßen (SPD): Genau das ändern wir doch jetzt!)

nach zwölf Monaten Arbeitslosengeldbezug – das haben Sie überhört – so behandelt wird wie jemand, der nie gearbeitet hat.

(Peter Dreßen (SPD): Nein! Das haben Sie nicht gesagt!)

– Gut, dann wollte ich das eben so sagen.

(Lachen bei der SPD)

– Das werden wir ja im Protokoll nachlesen können. – Das ist eines der wesentlichen Akzeptanzprobleme, die wir haben.

   Jetzt zum Vorruhestand. Damals, in den 90er-Jahren – ich war ja schon dabei –, haben wir alle, auch Sie, geglaubt, dass bei dieser riesigen Umstrukturierung von der Industriegesellschaft ein Stück weg hin zur Wissensgesellschaft, im Übrigen gleichzeitig mit der Aufgabe der Wiedervereinigung – was unsere sozialen Sicherungssysteme bis jetzt alles gehalten haben, ist schon eine Riesenleistung –, die Jüngeren in Arbeit kommen, wenn die Älteren weggehen. Wir haben festgestellt: Die Älteren sind weggegangen und die Jüngeren sind nicht in Arbeit gekommen. Wir haben das Geld der Arbeitnehmer gebraucht, um das zu finanzieren.

   Da wir diese Erfahrung – da nicken Sie auch – gemacht haben, passt die Kombination aus einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der 58er-Regelung nicht in die Landschaft, weil sie wie eine Einladung wirkt, 32 Monate eher in Rente zu gehen. Wenn Sie sich die Rentenkassen und die Kassen der Arbeitslosenversicherung anschauen, dann sehen Sie, dass die dafür benötigten 5 Milliarden Euro nicht vorhanden sind.

(Zuruf von der SPD: Schrei doch nicht so!)

Deswegen brauchen wir ein intelligenteres Modell und das wird meine Fraktion nächste Woche hier im Deutschen Bundestag vorstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther (Plauen) (FDP))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion.

Dirk Niebel (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 17. Juni war früher der Tag der Deutschen Einheit. Die Union und wir haben gestern 60-jähriges Parteijubiläum gehabt. Dabei ist ein Zitat immer wieder erwähnt worden, das auch heute in diese Debatte durchaus eingeführt werden kann. Im Zuge der Wiedervereinigung hat Hans-Dietrich Genscher gesagt:

Nichts wird mehr so sein, wie es war. Nicht im Osten, aber auch nicht im Westen.

Der zweite Teil dieses Satzes ist oftmals vergessen worden. Angesichts der Situation, in der sich unser Land nach Ihrer siebenjährigen Regierungszeit befindet, darf es nicht so weitergehen wie bisher. Wir müssen Veränderungen herbeiführen. Die heutige Debatte wirft ein grelles Licht auf das ganze Elend von RotGrün in Deutschland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ihr Bundeskanzler will vor die Wählerinnen und Wähler treten, um sich von ihnen bestätigen zu lassen, dass sein Kurs der Agenda 2010 richtig ist. Die Fraktionen, die diese Regierung angeblich tragen, handeln gegenteilig, indem sie – noch bevor es greift – genau das rückgängig zu machen versuchen, was sie mit der Agenda 2010 gesetzlich verankert haben. Der eine blinkt rechts und die anderen fahren links; so sieht die politische Geisterfahrerei dieser Bundesregierung aus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Arbeitslosenversicherung war niemals ein Kapitaldeckungssystem; vielmehr war sie immer – so ist ihre Tradition – eine Risikoversicherung: Die Versichertengemeinschaft sollte für einen klar definierten Suchzeitraum den Erhalt des Lebensstandards absichern. Man kann emotional nachvollziehen, dass jemand das eine als gerecht und das andere als ungerecht empfindet. Aber es geht tatsächlich darum, dass Fehlanreize gesetzt werden, wenn man bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen kann, dessen Höhe sich nach dem letzten Nettoeinkommen berechnet. Nach zwölf oder 13 Monaten der Arbeitslosigkeit wird man nie wieder das letzte Nettoeinkommen beziehen können. Mit fortschreitender Arbeitslosigkeit wird die Wahrscheinlichkeit, jemals wieder einen Arbeitsplatz zu bekommen, immer geringer. Die von Ihnen vorgeschlagene Verlängerung der 58er-Regelung ist ein klassisches Frühverrentungsprogramm auf Kosten des deutschen Mittelstandes.

   Andere Länder, in denen die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmern höher ist, haben eine deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit als die Bundesrepublik. Das heißt, sämtliche Frühverrentungsprogramme, die auch andere Regierungen installiert haben, haben genau das Gegenteil dessen erreicht, was man bezwecken wollte.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Elke Wülfing (CDU/CSU))

   Ihr eigener Wirtschafts- und Arbeitsminister, Herr Clement, hat völlig zu Recht gesagt, dass die Bundesrepublik im OECDVergleich die meisten Mittel in eine aktive Arbeitsmarktpolitik investiert und dennoch am ineffizientesten ist. Daher stellt sich wirklich die Frage, weshalb Sie mit der Verabschiedung der heute debattierten Vorlage die Geltungsdauer dieser ineffizienten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien, von denen Ihr eigener Minister nicht überzeugt ist, verlängern wollen.

   Sie haben festgestellt, dass Ihre Vorschläge zum Verbot befristeter Beschäftigung Beschäftigung insgesamt verhindern. Aber Sie sind den Weg nicht bis zum Ende gegangen. Sie wollen, dass zwischen zwei befristeten Beschäftigungsverhältnissen eine Wartezeit von zwei Jahren liegen muss. Die Konsequenz daraus wäre beispielsweise, dass ein junger Mensch, der dank eines der von Ihnen aufgelegten Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein Praktikum in einem Betrieb macht, nach einem entsprechenden Auftragseingang in diesem Betrieb nicht befristet eingestellt werden kann, damit dieser Auftrag abgewickelt wird, weil es keine Wartezeit von zwei Jahren gab.

(Beifall bei der FDP)

   Unser Vorschlag ist besser: Um befristete Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen und Kettenarbeitsverhältnisse zu verhindern, sollte es eine Phase von drei Monaten der Nichtbeschäftigung zwischen zwei befristeten Beschäftigungsverhältnissen geben. Dadurch wären alle positiven Effekte bewahrt und alle negativen ausgeschlossen.

   Herr Präsident, erlauben Sie mir mit Blick auf die Uhr noch einen Satz zum Kollegen KarlJosef Laumann. KarlJosef, wir haben jetzt sieben Jahre zusammengearbeitet. Das war nicht immer leicht für uns. Wir haben uns hier und da zusammenraufen müssen. Aber auch du weißt, was in der Tierwelt gilt: Wer sich klein macht, wird gebissen. Ich hoffe, du hast viel Freude in einer gelbschwarzen Regierung in NordrheinWestfalen. Wir freuen uns, wenn wir hier gleichziehen können.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden wieder einmal über Hartz IV. Diesmal sollen ältere Arbeitslose Arbeitslosengeld I doch wieder länger beziehen können, als ihnen ursprünglich zugestanden wurde. Die PDS im Bundestag wird mit Ja stimmen, weil wir allem zustimmen, was Hartz IV entgiftet – sei es auch noch so wenig.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Genauer betrachtet wird allerdings klar: Sie wollen das beschlossene Unrecht gegenüber älteren Erwerbslosen nicht wirklich korrigieren. Sie wollen das beschlossene Unrecht lediglich für zwei Jahre aussetzen, um dann zum HartzOriginal zurückzukehren. Dafür wiederum bekommen Sie das Ja der PDS nicht.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Bemerkenswert ist übrigens auch die Begründung: Ältere Erwerbslose fänden derzeit keine neue Arbeit, weil Hartz IV noch nicht greife. Ich würde gern einmal den Sozialdemokraten kennen lernen, der das wirklich glaubt.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Denn landauf, landab wissen es alle: Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze, nicht für Jugendliche und auch nicht für Ältere, jetzt nicht und auch nicht in zwei Jahren. Deshalb muss die Bestrafung älterer Arbeitsloser generell beendet werden.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Noch entlarvender sind die Mahnungen aus den Reihen der CDU/CSU, der rot-grüne Vorstoß nehme Druck von den älteren Arbeitslosen, sich um Arbeit zu kümmern, außerdem koste er 5 Milliarden Euro. Das zeigt im Umkehrschluss, wie viel den älteren Arbeitslosen mit Hartz IV genommen wurde. Es zeigt darüber hinaus, welches Bild bei der CDU/CSU weiter gruselt, nämlich das von den faulen und teuren Arbeitslosen, allemal den älteren. Ich finde, Sie sollten sich schämen!

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Aber auch mit der Minikorrektur, die wir heute im Bundestag vornehmen und die anschließend im Bundesrat von den unionsregierten Ländern kassiert werden wird, bleibt Hart IV ein unsoziales und ungerechtes Gesetz. Die PDS fordert weiterhin: Heben Sie die Arbeitslosengeld-II-Sätze in Ost und West einheitlich auf 420 Euro an. Wir fordern Sie auf, all das, was Altersarmut begünstigt und Kinder benachteiligt, zu streichen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Eigenartigerweise höre ich Ähnliches zuweilen sogar bei der SPD, etwa vom Bundestagspräsidenten. Ich kann Rot-Grün daher nur dringend empfehlen: Ändern Sie Hartz IV jetzt und korrigieren Sie gründlich. Das wäre ehrlich; denn noch haben Sie die Mehrheit im Bundestag. Die beiden PDS-Stimmen hätten Sie dafür selbstverständlich.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Jetzt erteile ich noch einmal dem Kollegen Klaus Brandner das Wort.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Arbeitsmarktprozess ist ohne Frage der größte Reformprozess, den wir in diesem Land angegangen sind. Ausgangspunkt war, dass die Hartz-Kommission ein Konzept vorgelegt hatte, zu dem alle gesellschaftlichen Gruppen – Wirtschaft, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik – gemeinsam einen Vorschlag erarbeitet haben. Dieser Vorschlag wurde von der Union aufgegriffen, obwohl sie der Regierung die Umsetzung nicht zugetraut hat. Der Kanzler hat jedoch gesagt, wir haben so viel im Kreuz, wir trauen uns das zu. Das war kein Diktat an das Parlament.

   Ich habe noch nie erlebt, dass ein Vermittlungsausschuss und seine Arbeitsgruppen so viele Veränderungen vorgenommen und so umfangreiche Debatten geführt haben wie in diesem Prozess. Deshalb ist es eine Frechheit, hier zu behaupten, man habe den Parlamentarismus beleidigt, indem man nicht die Punkte aufgenommen hat, die in diesem Haus debattiert wurden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich könnte massenhaft Änderungen aufzählen, angefangen von der Zumutbarkeit über die Fragen der Vermögensanrechnung und der Bezugsdauer bis hin zu Zeitarbeit und Ähnlichem. Aus Zeitgründen will ich es aber nicht tun, stattdessen will ich richtig stellen, dass die Höhe der Leistungen für diejenigen, die lange gearbeitet und nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldbezugs in das Arbeitslosengeld II fallen, aufgrund des Einsatzes von Rot-Grün nicht automatisch auf das Sozialhilfeniveau fällt. Wir haben eine Stufenform vorgesehen, die die Union bekämpft hat und bis zum heutigen Tage bekämpft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es eine Sauerei, hier davon zu sprechen, das sei unsozial.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel (FDP): Sauerei? Was ist das für eine Terminologie!)

– Das ist eine Sauerei, Herr Niebel.

   Wer über die Leistungshöhe, die die Union vorgeschlagen hat, debattieren will, der muss wissen, dass in ihrem Antrag – der nie verändert worden ist – steht: Wenn es nach der Union ginge, dann sollten Menschen, die langzeitarbeitslos sind, ein Arbeitslosengeld II auf dem Niveau der Sozialhilfe bekommen, und das auch nur, wenn sie tatsächlich arbeiten oder wenn sie gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten. Wer das nicht tut, soll eine 30-prozentige Kürzung hinnehmen. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer hier von Leistungsberaubung spricht, beflunkert das Volk.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte nun einen Satz zu der 58er-Regelung sagen. Dazu sind die Stichworte Frühverrentung und Missbrauch durch Großbetriebe gefallen. Lassen Sie uns doch daran arbeiten, den Missbrauch einzugrenzen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben eine gesetzliche Regelung, die den Erstattungsanspruch regelt. Wir haben diese Regelung verschärft. Über 4 Milliarden Euro sind seit 1998 aufgrund dieser Erstattungsregelung eingeflossen. Wenn Sie wollen, können wir sofort darüber debattieren, wie wir das noch weiter verschärfen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Frühverrentung anzuführen ist Quatsch; denn die Frühverrentung ist nicht mehr attraktiv. Wir haben mit Ihrer Zustimmung das Renteneintrittsalter angehoben. Daneben gibt es ratierliche Abschläge, sodass es zwar prinzipiell möglich ist, in die Frühverrentung zu gehen, die materiellen Belastungen jedoch so hoch sind, dass es unattraktiv ist. Auch das müssen Sie deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich zum Schluss feststellen: Sie haben gesagt, man müsse deregulieren und mehr Drive in die Arbeitsmarktpolitik bekommen. Mir fällt dabei ein, dass sich die Menschen jetzt auf die Betriebsratswahlen vorbereiten. Dies betrifft die Ebene, wie man in diesem Land auf einer gesetzlichen Basis gestalten kann. Sie bereiten schon jetzt vor – das haben Sie angekündigt –, das Betriebsverfassungsgesetz sofort zu ändern. Das hieße: weniger Betriebsräte, weniger Freistellungen

(Dirk Niebel (FDP): Vor allem weniger Kosten für die Betriebe!)

und weniger Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen! Sie rufen nach Demokratie und beseitigen Demokratie im Arbeitsprozess. Das ist die Wahrheit und das müssen die Menschen in diesem Lande wissen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wer Gestaltung will, muss den Menschen dazu eine rechtliche Grundlage belassen. Wir haben in das Betriebsverfassungsgesetz hineingeschrieben, dass die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und die Gestaltung im Rahmen der Beschäftigungssicherung eine Aufgabe ist, für deren Bewältigung die Arbeitnehmer genauso qualifiziert sind wie die Manager. Deshalb wollen wir Teilhabe organisieren. Sie wollen sie entziehen. Das müssen die Menschen in diesem Lande wissen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze auf den Drucksachen 15/5556 und 15/5602. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5714, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

   Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung.

   Dazu liegen mir von den Kolleginnen Birgitt Bender und Anja Hajduk zwei Erklärungen zu Protokoll vor.

   Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen.

   Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen auf Drucksache 15/5270. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5714, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Kollegin Pau abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c sowie Zusatzpunkt 11 auf:

17. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marie-Luise Dött, Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für ein umwelt-, innovations- und mittelstandsfreundliches REACH

– Drucksache 15/5454 –

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Alternativen zu Tierversuchen – REACH nutzen

– Drucksache 15/5686 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

REACH als Chance für einen Paradigmenwechsel nutzen – Alternativmethoden statt Tierversuche

– Drucksachen 15/4656, 15/5720 –

Berichterstattung:Abgeordnete Heinz Schmitt (Landau)Dr. Maria Flachsbarth Dr. Antje Vogel-Sperl Birgit Homburger

ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa erhalten

– Drucksachen 15/5274, 15/5747 –

Berichterstattung:Abgeordnete Heinz Schmitt (Landau)Dr. Maria Flachsbarth Dr. Antje Vogel-Sperl Birgit Homburger

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Landau) (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erneut – wie schon oft in den letzten drei Jahren – befassen wir uns heute mit der Neugestaltung der europäischen Chemiepolitik, mit dem so genannten REACH-System. Seit drei Jahren erfreuen Sie von der Opposition uns mit immer neuen Anträgen zu diesem Thema. Aber bei Ihren Anträgen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, hat man nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas weiterentwickelt oder bewegt hat. Sie treten seit Monaten auf der Stelle und versuchen, das System von REACH insgesamt noch einmal zur Diskussion zu stellen.

   Wir waren ja vor wenigen Wochen, Frau Flachsbarth und Frau Homburger, auf gutem Wege, einen gemeinsamen Antrag zu REACH zu formulieren und einzubringen. Wir hatten ihn schon zu Papier gebracht. Aus unerklärlichen Gründen haben Sie diesen Antrag dann zurückgezogen. Die Gründe liegen im Diffusen. Es handelte sich aber um eine gute Zusammenarbeit. Wir haben vor allen Dingen die Chancen betont. Wir haben uns überlegt, wie wir REACH positiv weiterentwickeln können.

Schade, leider war es nicht zu realisieren.

   Manchmal hat man, wenn man Ihre Anträge liest, das Gefühl – so kommt es mir vor –, als wollten Sie Zeit schinden und die Realisierung von REACH aus unerklärlichen Gründen hinauszögern. Manchmal kann man in Ihren Anträgen auch Originalformulierungen der chemischen Industrie nachlesen. Teilweise ist das, was Sie gebetsmühlenartig wiederholen, Schnee von gestern und durch die aktuelle Entwicklung überholt, teilweise ist es einfach unschlüssig.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das haben Sie schon vor einem Jahr gesagt!)

   In Ihren Anträgen wiederholen Sie Ihre alte Leier, REACH würde den Industriestandort Deutschland überfordern. Dem widerspricht die von der Industrie in Auftrag gegebene Studie von KPMG, die zu dem eindeutigen Ergebnis kommt: REACH wird keine nachteiligen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze haben; das gilt auch für den Produktionsstandort Deutschland und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Durch REACH wird es also nicht zu den Horrorszenarien kommen, die Sie in Ihren Anträgen beschreiben, in denen von einer Deindustrialisierung Deutschlands, dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Überforderung der mittelständischen Industrie die Rede ist. All die Befürchtungen, die Sie in Ihrer alten Leier ständig wiederholen, haben gar keine Substanz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun zu den zentralen Forderungen Ihrer Anträge, die Sie plötzlich auf den Tisch legen: Sie fordern, von der mengenorientierten Bewertung von Stoffen zu einem risikoorientierten System überzugehen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ja, sicher!)

Diese Forderung ist an mehreren Stellen widersprüchlich; denn die zentralen Ziele werden mit dem risikoorientierten Ansatz nicht erreicht: Es werden zum Beispiel keine Prüfkosten eingespart, der bürokratische Aufwand ist weiterhin hoch und der Mittelstand wird stärker belastet.

   Ein solcher Ansatz würde zu keiner Lösung führen. Es gibt darin Unschlüssigkeiten. Wenn Sie sich nur am Risiko eines Stoffes orientieren, müssen zum Beispiel alle Stoffe mit einer Produktion von weniger als einer Jahrestonne auch untersucht werden. Wenn Sie die Expositionskriterien ansetzen – das ist ein wichtiger Punkt –, dann gäbe es wesentlich mehr Stoffe, als nach der Mengenregelung zufolge nur angemeldet werden müssen. Deshalb habe ich mit Ihrer Argumentation meine Mühe.

   Der Beantwortung der Frage, ob ein Stoff überhaupt einer Bewertung zu unterziehen ist, muss eine Untersuchung vorausgehen. Sie werden mir zustimmen, dass diese Forderungen widersprüchlich sind, weil man dafür prinzipiell alle Stoffe erst einmal untersuchen müsste. Sinn und Zweck der neuen europäischen Chemikalienpolitik ist es, das Risiko zigtausender chemischer Stoffe erst einmal in Erfahrung zu bringen; denn sonst bräuchten wir das neue System nicht.

   Auf Grundlage der paar Daten, die Sie von der Opposition zugestehen, ist keine echte Risikobewertung durchzuführen. Deshalb muss Schluss sein mit dem Versuch, die weitere Bereitstellung von Stoffdaten zu umgehen, zumal wenn man weiß, dass der Industrie bereits ein Großteil der geforderten Daten zur Verfügung steht. Wir brauchen für alle Stoffe eine vernünftige Datenbasis, um sie auf ihr Risiko überprüfen zu können. Genau das würden wir durch REACH erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, REACH wird in den nächsten 15 Jahren zu mehr Transparenz, mehr Datensicherheit und mehr Verbraucherschutz beitragen. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen: Lassen Sie uns gemeinsam an REACH arbeiten. Wir wissen, dass die Kosten dieses Systems bei weitem nicht so hoch sein werden, wie sie oft dargestellt werden. Mittlerweile geht man von einem Betrag zwischen 3 und 5 Milliarden Euro aus. Gemessen an den Jahresumsätzen der gesamten Branche ist diese Summe eigentlich vernachlässigbar, vor allen Dingen, da sich diese Kosten über einen Zeitraum von 15 Jahren erstrecken werden. Daher besteht keine Notwendigkeit, ständig gegen REACH zu polemisieren.

   Lassen Sie uns in den nächsten Monaten gemeinsam daran arbeiten, das System REACH auf europäischer Ebene zu realisieren. Lassen Sie uns auf diesem Gebiet zusammenarbeiten. Der Industriestandort Deutschland und die Menschen brauchen REACH. Wie die Untersuchungen und Einschätzungen belegen, sind wir, wie ich glaube, auf einem guten Weg. REACH muss kommen und REACH wird kommen.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Marie-Luise Dött, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Marie-Luise Dött (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einmal deutlich machen, worum es beim Thema REACH eigentlich geht: Wir reden über einen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission, den die damalige Umweltkommissarin Margot Wallström geschrieben hat. Frau Wallström kommt aus Schweden, einem Land, in dem die chemische Industrie quasi nicht existent ist. Es ist also nur folgerichtig, dass der Regelungsentwurf vorwiegend ideologisch geprägt ist und keinen Blick für die wirtschaftlichen Probleme hat, die er aufwirft. Fakt ist, dass REACH so, wie es derzeit formuliert ist, dem Mittelstand schadet; damit meine ich nicht nur die Unternehmen der Chemie, damit meine ich kleine und mittlere Unternehmen aller Branchen, von der Bio-Autowaschanlage bis zum Hersteller von Duftölen. Jede Branche, die Produkte verwendet, in denen chemische Stoffe enthalten sind, ist potenziell von REACH betroffen. Überspitzt formuliert trifft REACH jeden Unternehmer, der einen Farbtopf in die Hand nimmt.

   Wie hart der Mittelstand betroffen ist, zeigt uns die KPMG-Studie der Kommission, die ja auch von Umweltminister Trittin gerne zitiert wird. Ergebnis der Studie ist, dass 20 Prozent der kleinvolumigen Stoffe, mit denen der Mittelstand hauptsächlich arbeitet, vom Markt verschwinden werden. Das hat Reformulierungs- und Anpassungskosten zur Folge, die bis zu 20 Prozent eines Jahresumsatzes betragen können. Hinzu kommen weitere Kosten in Höhe von 20 Prozent des Umsatzes allein für die direkte Registrierung. Das macht insgesamt 40 Prozent des Umsatzes, nicht des Gewinns, meine Damen und Herren! Was meinen Sie wohl, wie viele unserer kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland eine 40-prozentige Umsatzeinbuße so einfach wegstecken können? REACH setzt meines Erachtens genau die falschen Vorzeichen: Es verlangt dem Mittelstand ab, was eh schon Mangelware ist, nämlich Zeit und Geld, und das für endlose bürokratische Vorgänge.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Besser wäre es doch, das Potenzial zu fördern, das in deutschen mittelständischen Betrieben mehr als genug vorhanden ist, nämlich Innovationsvermögen und der feste Wille, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. REACH in seiner jetzigen Form aber ist ein Innovationshemmschuh; auch zu diesem Ergebnis kommt die KPMG-Studie. Die Forschungs- und Entwicklungsbudgets werden unverändert bleiben, während gleichzeitig Forschungsressourcen in beträchtlichem Umfang durch die Anpassung an REACH gebunden werden.

   Der Entwurf, den Frau Wallström vorgelegt hat, ist also dramatisch verbesserungswürdig. Das sehen nicht nur wir von der CDU/CSU so, sondern wir befinden uns da in bester Gesellschaft zum Beispiel mit dem Industriekommissar Verheugen. Herr Verheugen hat während der Anhörung im Europäischen Parlament ausdrücklich gesagt, dass er beabsichtigt, den Entwurf grundlegend zu überarbeiten. Wie notwendig solch ein Schritt ist, macht auch die derzeit stattfindende erste Lesung im Europäischen Parlament mehr als deutlich: 1 183 Änderungsanträge sind allein im federführenden Umweltausschuss eingegangen. Zusammen mit denen der mitberatenden Ausschüsse werden es an die 4 000 Änderungsvorschläge.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das muss man sich einmal vorstellen!)

Nahezu jeden Artikel des Entwurfs wollen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments verbessern – zu Recht, meine Damen und Herren. Allenthalben besteht also Einigkeit, dass der Verordnungsentwurf so überarbeitet werden muss, dass er keine Gefahr für Mittelstand und Arbeitsplätze darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Ort, um diese Interessen Deutschlands im weiteren Gesetzgebungsprozess zu vertreten, ist der Wettbewerbsfähigkeitsrat. In diesem sitzen die Wirtschaftsminister der Mitgliedstaaten zusammen und beraten über das Dossier.

Nun könnte man meinen, für Herrn Clement wäre es ein Leichtes, dort die deutschen Wirtschaftsinteressen zu vertreten. Leider nimmt Herr Clement diesen Platz aber nicht ein. Deutschland leistet es sich als einziges Land, den Umweltminister anstatt den Wirtschaftsminister zu REACH in den Rat zu entsenden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er ist kompetent!)

   Von Herrn Trittin war bislang aber noch kein einziger Vorschlag zu vernehmen, wie er die wirtschaftlichen Belastungen des Mittelstands durch REACH schmälern möchte.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Davon versteht er ja auch nichts!)

Die sinnvollen Vorschläge, die von Dritten an ihn herangetragen wurden und die von den kleinen und mittleren Unternehmen des Landes mitgetragen werden, hat er kategorisch abgelehnt.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): So ist der!)

Selbst die Punkte, die das Umweltministerium in seiner gemeinsamen Positionierung mit den Gewerkschaften und der Chemieindustrie als notwendige Handlungsfelder festgehalten hat, sind noch nicht in den Rat eingebracht worden. Als Beispiel möchte ich hier nur die Einführung von Verwendungs- und Expositionskategorien nennen.

   Die Bundesregierung tut also nichts, um dem Mittelstand im Falle REACH zu helfen. Inzwischen sind die kleinen und mittleren Unternehmen sogar schon so weit, dass sie auf die Straße gehen, um den Umweltminister zu einem Einlenken zu bewegen,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Zu Recht!)

nämlich die KPMG-Studie ernst zu nehmen und auf die darin enthaltenen Vorschläge einzugehen. Leider treffen Sie damit bei Herrn Trittin nicht auf offene Ohren.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hört! Hört! So ist der Mensch! – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Völlig unverständlich!)

   Wir werden es besser machen:

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Erstens. Wir werden unter anderen Vorzeichen in die Ratsarbeitsgruppe gehen. Die deutsche Stimme hat hier Gewicht. Wir werden die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, auch nutzen.

   Zweitens. Wir werden mehr Umweltschutz und mehr Gesundheitsschutz bei REACH fordern; denn auch hinter diesem Argument kann sich Rot-Grün nicht verstecken. Das derzeitig vorgeschlagene System knüpft die Stoffbewertung nicht an die Gefährlichkeit eines Stoffes, sondern allein an Mengen. Kleine Mengen eines gefährlichen Stoffes können aber ungleich risikoreicher sein als hohe Tonnagen einer ungefährlichen Chemikalie. Nehmen Sie zum Beispiel Zyankali. Deswegen wird sich die CDU/CSU dafür einsetzen, dass das Bewertungssystem an solche Aspekte anknüpft, die für den Umwelt- und Gesundheitsschutz ausschlaggebend sind, nämlich an das Risiko und an das Ausgesetztsein des Menschen gegenüber diesem Risiko.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger (FDP))

   Drittens. Wir werden darauf beharren, dass der Mittelstand durch REACH nicht stranguliert wird. Dafür müssen die Registrierungskosten für kleinvolumige Stoffe eingedämmt werden. Derzeit liegen sie in der Größenordnung der Entwicklungskosten und stehen damit in keinem angemessenen Verhältnis zum Umsatz. Die Registrierung muss also unbürokratischer, flexibler und kostengünstiger werden. Unser Vorschlag ist hier, die Einführung von Verwendungs- und Expositionskategorien endlich engagiert voranzutreiben und sich für eine Stärkung der Rolle der europäischen Chemikalienagentur einzusetzen.

   Viertens. Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Innovationsstandort Deutschland nicht unter REACH leidet. Dabei ist die Zeit, die ein Stoff oder Produkt bis zur Markteinführung benötigt, entscheidend. Wir wollen vermeiden, dass deutsche Hersteller ihre Produkte erst dann auf den Markt bringen können, wenn sich die chinesischen Konkurrenten schon monatelang im Markt etabliert haben. Ansatzpunkt ist auch hier wieder das Registrierungsverfahren. Je unkomplizierter und schneller die Registrierung ist, desto geringer ist der Innovationsvorsprung der internationalen Mitbewerber.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger (FDP))

   Fünftens. Wir werden verhindern, dass REACH zu einem Jobkiller wird. Wenn REACH nicht entscheidend verändert wird, besteht die Gefahr, dass sich dies negativ auf die Arbeitsmarktsituation auswirkt. Mit den Vorschlägen, die wir in unserem Antrag gemacht haben, wollen wir genau das verhindern.

   Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag ?Für ein umwelt-, innovations- und mittelstandfreundliches REACH“ zeigen wir einen Rahmen auf, wie der Verordnungsvorschlag in den entscheidenden Weichenstellungen sinnvoll verbessert werden kann.

Dabei verlieren wir keine der Zielsetzungen aus den Augen, sondern bringen Umwelt- und Gesundheitsschutz, Innovationspolitik sowie Wirtschafts- und Mittelstandsaspekte in ein ausgewogenes Verhältnis.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hartmut Schauerte (CDU/CSU): So macht man das!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Antje Vogel-Sperl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vogel-Sperl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich einige Fakten klarstellen: Einigkeit besteht zum einen in der Notwendigkeit der Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts und zum anderen in der Zielsetzung. Wenn es aber um die konkrete Ausgestaltung geht, stellen wir fest, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, erstens die Chancen von REACH völlig ausblenden

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Wie immer!)

und zweitens immer wieder versuchen, den grundsätzlichen Ansatz von REACH, die Kombination aus mengen- und risikobezogenem Ansatz, in einen expositionsbezogenen Ansatz umzukehren.

   Das hört sich zunächst einmal gut an.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ist auch richtig!)

Bei genauer Prüfung stellt man aber fest, dass dies nicht zielführend ist. Ich sage Ihnen auch, warum:

   Erstens. Die jeweilige Exposition ist für die Hersteller einer Chemikalie nur schwer zu ermitteln.

   Zweitens. Die konkrete Exposition kennt in der Regel meist nur der nachgeschaltete Anwender.

   Drittens ist eine Exposition jederzeit veränderlich.

   Ihre Vorschläge laufen darauf hinaus, die chemische Industrie auf Kosten nachgeschalteter Industriezweige zu entlasten

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist doch falsch!)

und auf Kosten des Umwelt- und Verbraucherschutzes notwendige Prüfungen zu Langzeitgefahren einzusparen. Genau deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Was die Kosten betrifft, gibt es bemerkenswerte Ergebnisse der aktuellen KPMG-Studie, einer Studie, die von der Industrie in Auftrag gegeben wurde: moderate Kosten für die Wirtschaft, eben kein – wie vielfach proklamiert – Stoffsterben, kein Wegbrechen ganzer Wertschöpfungsketten und vor allem ein allgemein anerkannter geschäftlicher Nutzen. Das heißt nichts anderes, als dass die EU hinsichtlich neuer Standards in der Tat zum Vorreiter auf dem Weltmarkt wird. Die anderen Staaten werden nachziehen müssen; denn die EU ist der größte Binnenmarkt. Nicht zuletzt deshalb lehnen die USA REACH so vehement ab.

   Ausdrücklich weise ich darauf hin, dass wir im Gegensatz zu Ihnen bereits im Jahr 2004 in unserem Antrag das Prinzip ?ein Stoff – ein Dossier“ aufgeführt haben, um Kosten zu senken sowie Bürokratie und unnötige Tierversuche zu vermeiden.

   Damit bin ich beim Thema Tierschutz.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Sehr gut!)

Tatsache ist, dass wir auch hier bereits in unserem Antrag aus dem Jahr 2004 verbindliche Regelungen gefordert haben: erstens zur Verhinderung doppelter Wirbeltierversuche, zweitens für eine gemeinsame Nutzung von Daten und drittens für die Anwendung alternativer tierversuchsfreier Testmethoden einschließlich der benötigten Forschungsmittel.

   Es ist sehr zu bedauern, dass sich insbesondere die Union nun entschieden hat, von einem interfraktionellen Antrag Abstand zu nehmen;

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frau Vogel-Sperl, Sie haben zwei Jahre gebraucht, bis Sie die Problematik erkannt haben!)

denn ein fraktionsübergreifender Antrag hätte diesem Thema in Brüssel größtmögliches Gewicht verliehen. Bedauerlich ist der Rückzug auch deshalb, weil der Antrag bereits abgestimmt war. Das zeigt: Wenn es an das konkrete Handeln geht, ziehen Sie sich aus machtpolitischen Gründen zurück. Ihnen ist Wahlkampf wichtiger als Tierschutz. Das zeigt aber auch, wem der Tierschutz tatsächlich am Herzen liegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ich bitte Sie! Was hat Tierschutz mit Machtpolitik zu tun?)

   Wir bringen diesen Antrag nun als Koalitionsantrag ein. Hier und heute müssen Sie Farbe bekennen, ob es Ihnen mit dem Tierschutz wirklich ernst ist

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frau Vogel-Sperl, darüber sprechen wir schon seit drei Jahren!)

oder ob der Tierschutz von Ihnen nur als Vorwand genutzt wird, um vor allem die großen Hersteller von Chemikalien zu entlasten.

   Noch einige Bemerkungen zum Schluss: Hören Sie auf, unseren Standort schlecht zu reden. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

Im Gegensatz zu Ihnen gehören für uns Grüne Ökologie und Ökonomie untrennbar zusammen. Wir sind der festen Überzeugung, dass ökologische Innovationen Wettbewerbsvorteile schaffen, und dafür sind entsprechende Rahmenbedingungen, wie REACH, notwendig. Im Gegensatz zu Ihnen setzen wir auf die Entwicklung neuer Stoffe anstatt auf die Anwendung alter.

   Ihre alten Antworten – die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke usw. – bringen Deutschland nicht weiter, sondern bedeuten einen Rückschritt. Auf die eigentlichen Fragen, wie wir uns im globalen Wettbewerb behaupten können und wie wir unsere Abhängigkeit von fossilen Ressourcen reduzieren können, haben Sie keine Antwort. Wir Grüne setzen auf eine Umstellung der Rohstoffbasis auf nachwachsende Rohstoffe mit der Bioraffinerie-Technologie und der Weißen Biotechnologie gerade in der Chemieindustrie und bei den Kraftstoffen. Dabei wird uns REACH helfen; denn REACH setzt Innovations- und Substitutionsanreize.

Weil wir kein Niedriglohnland sind, müssen wir bei der Entwicklung neuer Technologien die Nase vorne haben.

   Aus all dem folgt ganz klar: REACH ist gut und wir brauchen REACH.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.

Birgit Homburger (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum wiederholten Male die REACH-Verordnung zur Neuordnung der europäischen Chemikalienpolitik. Ich sage noch einmal, was damit erreicht werden soll: Ziel soll sein, die Sicherheit für Mensch und Umwelt im Umgang mit Chemikalien zu erhöhen, gleichzeitig allerdings die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie zu erhalten. Das steht in dieser Verordnung. Ich sage Ihnen klar und deutlich: Das wird mit dem, was bisher vorliegt, nicht erreicht. Im Gegenteil, wir gefährden massiv Arbeitsplätze, vor allen Dingen in der deutschen chemischen Industrie.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben seit vier Jahren darauf hingewiesen, dass diese Ziele nicht erreicht werden und dass die Regelungen, so wie sie jetzt ausgestaltet sind, zu mehr Bürokratie führen. REACH führt zu massiver bürokratischer Belastung. Wir müssen uns einfach darüber im Klaren sein, dass Deutschland der größte Chemiestandort in der Europäischen Union ist. 500 000 Arbeitsplätze nicht nur in der chemischen Industrie, sondern auch in allen Industriezweigen, die Chemikalien und chemische Produkte herstellen, importieren oder verarbeiten, hängen daran. Das heißt, von den Regelungen sind sehr viele kleine und mittlere Betriebe und vor allen Dingen sehr viele Arbeitsplätze betroffen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie berufen sich auf die KPMG-Studie. Es gibt inzwischen eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, in der auch die bereits auf europäischer Ebene erfolgten Veränderungen berücksichtigt werden. Diese Studie kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Ich kann Ihnen nur sehr deutlich sagen: Wir müssen den jetzt gewählten Ansatz verändern und zu einer Risikobewertung kommen. Das fordern wir seit Vorlage des Weißbuches vor vier Jahren, Herr Schmitt. Was in den Anträgen steht, ist ja nichts Neues; darüber sprechen wir schon länger. Aber bisher hatten wir damit bei Ihnen keinen Erfolg.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es geht doch beim Umgang mit Chemikalien darum, die Risiken bei der Herstellung, der Verarbeitung und der Anwendung zu minimieren; darüber haben wir diskutiert. Das Beispiel Lampenöl ist von der Kollegin Dött gerade genannt worden. Ein anderes Beispiel ist der Toilettenreiniger. Diese Substanzen sind nicht dafür geeignet, in die Hände von Kindern zu gelangen und getrunken zu werden – das wissen wir alle –; denn sie sind ätzend. Es hilft uns aber nicht weiter, wenn wir das weiter untersuchen. Vielmehr müssen wir für eine entsprechende Sicherheit sorgen. Wir müssen endlich erreichen, dass es zu mehr Sicherheit kommt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie stellen in Ihrem Verordnungsentwurf nach wie vor auf Mengenschwellen ab. Die Produktionsmenge von einer Jahrestonne sagt aber überhaupt nichts über die Gefährlichkeit oder die Beherrschbarkeit eines Stoffes aus.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Genau richtig!)

Deswegen ist es wichtig, dass wir hier auf die Risiken abstellen und die Informations- und Prüfanforderungen entsprechend auf Exposition und Risiken ausrichten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wir wollen auch im Tierschutz ein hohes Schutzniveau; das haben wir sehr deutlich gemacht. Herr Kollege Schmitt, Sie haben heute Morgen gesagt, die Daten lägen überwiegend vor. Das ist zwar richtig, aber mit dieser Verordnung wird es zu einem Mehr an Tierversuchen kommen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Absolut richtig!)

Genau das wird das Ergebnis sein. Das wollen wir nicht. Deswegen wollten wir einen gemeinsamen Antrag vorlegen. Aber die Sache ist doch, dass wir auch einmal mit neuen Ansätzen arbeiten müssen; das haben wir in unseren Anträgen immer wieder vorgeschlagen. Beispielsweise müssen wir die Informationen über Chemikalien, die wir heute schon haben – aus Sicherheitsdatenblättern, aus arbeitsmedizinischen Datenblättern, aufgrund toxikologischer und pharmakologischer Erkenntnisse und in Form von Ergebnissen aus Altstudien –, verwerten. So werden wir dazu beitragen, auf der einen Seite die Sicherheit zu erhöhen und auf der anderen Seite die Zahl der Tierversuche zu minimieren. Dieses Ziel verfolgen wir.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es nützt uns überhaupt nichts, wenn der chemischen Industrie in Europa massive bürokratische Belastungen aufgebürdet werden, die eben nicht zu einem höheren Umwelt- und Gesundheitsschutz führen.

Wenn die Arbeitsplätze anschließend ins Ausland verlagert werden, wo die Anforderungen deutlich unter dem Niveau liegen, das wir hier in Europa haben, dann haben wir dem Umwelt- und Gesundheitsschutz und im Übrigen auch den Arbeitsplätzen in Europa einen Bärendienst erwiesen. Genau das passiert mit der REACH-Verordnung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich möchte abschließend sagen: Wir können mit den Anträgen, die wir gestellt haben, nur zu einer Versachlichung der Diskussion und nur zu einer Weiterentwicklung im Bereich der REACH-Verordnung beitragen. Das haben wir in den letzten Jahren auch erreicht. Wir können REACH allerdings nicht hinauszögern. Ich sage Ihnen aber eines: Wenn wir nach dem 18. September 2005 die Möglichkeit dazu haben – und wir werden die Möglichkeit dazu haben –,

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Sie nicht, keine Sorge!)

dann werden wir dafür sorgen, dass es eine Lösung gibt, mit der die Arbeitsplätze in diesem Lande erhalten bleiben und gleichzeitig der Umwelt- und Gesundheitsschutz vorangetrieben wird.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Debatten dieser Tage hier im Hause aufmerksam lauscht, dann erfährt man Erstaunliches. Gestern beispielsweise habe ich hier Frau Merkel erlebt, die uns zu erklären versuchte, dass die europäische Verfassung in Frankreich deswegen abgelehnt worden sei, weil Deutschland zu sehr auf eine deutsch-französische Dominanz in Europa setze.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben es wieder nicht verstanden!)

Wahrlich eine erhellende Bemerkung!

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie haben es nicht kapiert!)

In der Fortsetzung der Debatte, wie man das überwinden kann, wie man also die proeuropäische Stimmung in Europa wieder herstellen kann, hat sie uns ein einziges Argument genannt, nämlich, man müsse dafür sorgen, dass zur europäischen Chemikalienpolitik nicht wieder 4 000 Änderungsanträge auf den Tisch kommen, das sei der eigentliche Kern.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Sie haben nicht zugehört!)

   Man kann sich über Europapolitik oder Umweltpolitik streiten, aber es ist ein dermaßen erbärmliches Niveau, auf dem Sie an seriöse Probleme des Kontinents herangehen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen gerade Sie erzählen!)

dass ich nur sagen kann: Es ist gut, dass Sie dieses Land nicht regieren, und wir werden alles tun, damit es nicht dazu kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie, Frau Dött, haben sich hier hingestellt und gesagt, REACH sei eine Erfindung, die sozusagen aus der Kälte Skandinaviens komme, Margot Wallström habe sie erfunden.

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Hat sie es geschrieben oder nicht?)

Sie irren sich, gnädige Frau. Wenn Sie erfahren wollen, wann die Debatte über REACH angefangen hat, dann müssen Sie in die Zeit vor 1998 schauen, zum Beispiel in das Jahr 1997.

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Bis 68!)

– Nein, 1997, gnädige Frau. – Damals fand sich in der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Aufsatz mit der Überschrift: ?Zum Handeln verpflichtet“. In diesem Aufsatz geht es um die Spannung des Verhältnisses zwischen Gefahrenabwehr im Rahmen des Umweltschutzes und der Notwendigkeit, nicht nur Gefahrenabwehr zu betreiben, sondern vorbeugend tätig zu werden, also bevor Schäden auftreten. In dem Beitrag wird zum Beispiel geschildert, wie es in allen industrialisierten Ländern zu einem massiven Anstieg von Prostatakarzinomen, von Brustkrebs und Hodenkrebs gekommen ist. Es wird der Zusammenhang zu der Frage hergestellt, ob das vielleicht damit zu tun hat, dass bestimmte hormonell wirkende und erbgutverändernde Chemikalien verstärkt in die Umwelt kommen. Dann kommt die Autorin dieses Aufsatzes zu der Auffassung, dass man nicht abwarten kann, bis man einen kausalen Zusammenhang zu diesen Krankheiten gefunden hat, und schreibt:

Sollte sich die Hypothese einer Schädigung von Mensch und Umwelt durch Umwelthormone in der Forschung erhärten,

– nicht: nachweisen –

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Mit Ängsten lässt sich gut Politik machen!)
wird die Bundesregierung entsprechend dem Vorsorgeprinzip handeln.
(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Wie handeln Sie jetzt?)

   Dieser Aufsatz stammt von Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Frau Merkel hat Recht gehabt. Damals hatte sie Recht, nicht gestern mit ihrer Polemik gegen REACH. Denn das ist der Grundansatz gewesen, weswegen wir in Kontinuität dieses Verständnisses

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Sie machen aus allem, was Sie anfassen, Mist!)

von Vorsorgepolitik 1999 auf dem Umweltrat hier in der Bundesrepublik Deutschland unter deutscher Präsidentschaft den Anstoß für REACH gegeben haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir sind der Auffassung, dass wir Schluss damit machen müssen, in der Chemiepolitik bei Problemen für die Gesundheit immer erst dann anzusetzen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen und die entsprechenden Nachweise erbracht worden sind. Der Kern von REACH besteht in der Vorsorge und der Umkehr der Beweislast. Genau das, was Frau Merkel 1997 gefordert hat, nimmt sie heute als Grund dafür, warum die Europäer die Verfassung ablehnen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Niemals!)

Absurder geht es nicht!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Primitiver geht es nicht mehr! Das ist wahr!)

   Erlauben Sie mir eine weitere Bemerkung. Sie haben viel über den Mittelstand gesprochen. Reden Sie einmal mit Mittelständlern

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Das sollten Sie mal tun! Ich bin selber einer!)

darüber, was passiert, wenn sie wie ein großes mittelständisches deutsches Chemieunternehmen, das in Ludwigshafen ansässig ist, den risikoorientierten Ansatz übernehmen. Die Kosten, die ihnen für ihre kleinen Mengen an Chemikalien entstehen, werden astronomisch hoch sein. Wer für den Mittelstand ist, muss sich wie die Bundesregierung für eine Politik nach dem Motto ?ein Stoff – eine Registrierung“ einsetzen; denn sie führt nicht nur zu einer drastischen Verringerung von Tierversuchen, sondern erlaubt auch Mittelständlern, entsprechend zu handeln.

(Birgit Homburger (FDP): Das tun Sie aber nicht! Das ist doch das Problem!)

Wer für den Mittelstand ist, muss sich auch für standardisierte Verwendungskategorien einsetzen. All dies sind Vorschläge der Bundesregierung in dieser Debatte.

   Ich bin sehr dafür, in der Umweltpolitik immer auch die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen. Dafür gibt es die so genannten Impact Assessments. Aber man muss deren Ergebnisse auch zur Kenntnis nehmen. Es sind schließlich mittlerweile 35 Impact Assessments durchgeführt worden. Nach diesen Assessments hat ein Workshop unter niederländischer Präsidentschaft – wohlgemerkt: dort regieren keine Grünen – stattgefunden. Das Ergebnis der gesamten Folgenabschätzung war: Der volkswirtschaftliche Nutzen von REACH überwiegt bei weitem die volkswirtschaftlichen Kosten. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Er hat seine Redezeit verdoppelt! Vier Minuten hat er, acht Minuten redet er!)

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Weil Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollten, wurde noch eine weitere Studie in Auftrag gegeben. Von der Wirtschaft beauftragt, hat die KPMG alle Vorurteile, dass Stoffe wegfallen würden, überprüft. Auch dieses Gutachten kommt zu dem Ergebnis, das Sie nicht akzeptieren wollen und das selbst der Wettbewerbskommissar, Herr Verheugen, mit den Worten kommentiert hat: Die Behauptung, dass REACH die Industrie ruiniert, ist damit endgültig vom Tisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Das ist der Hintergrund, warum der Vorsitzende des Wettbewerbsrats, dem übrigens auch die dänische Umweltministerin angehört, in der letzten Sitzung zu demselben Ergebnis gekommen ist wie ich.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Wir nehmen keine weiteren Folgenabschätzungen vor; wir kommen in Sachen REACH zu Entscheidungen. Machen Sie Schluss mit Ihrer Obstruktionspolitik in dieser Frage!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister, es ist leider im höchsten Maße bedauerlich, dass Sie eine Äußerung unserer Fraktionsvorsitzenden, Frau Dr. Merkel, in einer Art und Weise zitiert haben, die völlig falsch wiedergibt, was unsere Fraktionsvorsitzende gestern in der Plenarsitzung gesagt hat.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Nein! Das stimmt nicht!)

   Mir liegt das Protokoll vor. Sie hat zu der Frage der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa erklärt:

Die Menschen machen sich Sorgen, wenn Sie sich mit einer Chemikalienrichtlinie auseinander setzen, zu der allein 4 000 Änderungsanträge vorliegen.

Wie können Sie sich darauf berufen, dass das eine Polemik sei, die sich gegen eine sinnvolle Chemikalienpolitik richte? Frau Merkel hat darauf hingewiesen, dass in Deutschland ein Vorschlag der Europäischen Kommission auf der Tagesordnung steht – mit Ihrer Unterstützung, Herr Minister Trittin –, der große Besorgnis bei Arbeitnehmern, Behörden und den Menschen hervorruft, deren wirtschaftliche Existenz von diesem Bereich abhängt, und was zeigt, dass manchmal über die Interessen der Menschen hinweggegangen wird.

   Frau Merkel hat an keiner Stelle gesagt, dass die Chemikalienpolitik unnötig und überflüssig sei. Sie hat aber dafür plädiert – das war ihr Petitum –, eine Chemikalienpolitik zu machen, die Ökonomie und Ökologie zusammenführt. Wir halten es deshalb für absolut unerträglich, dass Sie diese Äußerung unserer Fraktionsvorsitzenden als Polemik gegen eine sinnvolle Umweltpolitik bezeichnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Na, na!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Trittin, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, wir diskutieren hier zu Recht des Öfteren – und heute wieder einmal – über ein zentrales umwelt- und wirtschaftspolitisches Thema, nämlich REACH. Dass Sie versuchen, die Angst der Menschen als Argument in diese Diskussion einzuführen, Herr Minister, ist absolut unangemessen. Es gilt, immer wieder eines zu betonen: In diesem Hause gibt es den fraktionsübergreifenden Konsens, die Sicherheit für Mensch und Umwelt beim Umgang mit Chemikalien zu erhöhen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Minister, es geht hier überhaupt nicht um die Frage des Ob, sondern um die Frage des Wie. Nachdem meine Vorrednerin zu Recht auf die wirtschaftspolitischen Auswirkungen eingegangen ist, möchte ich betonen: Es kann nicht sein, dass wir unsere Chemiewirtschaft einem Experiment unterziehen, im Verlaufe dessen Tausende von Arbeitsplätzen zur Disposition stehen könnten.

   Ich möchte mich in meiner Rede nun vor allen Dingen der tierschutzpolitischen Relevanz dieser Frage zuwenden; denn auch hier gibt es noch Bereiche, die völlig ungeklärt sind.

   Die tierschutzpolitische Problematik ist hinlänglich bekannt und ist inzwischen auch von Ihnen erkannt worden. REACH in der derzeitigen Form würde zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Tierversuche führen. In den Einschätzungen ist von über 10 Millionen zusätzlichen Tierversuchen die Rede. In unserem Antrag haben wir deshalb detaillierte Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir die Zahl der durchzuführenden Tierversuche auf ein unabdingbares Mindestmaß begrenzen können. REACH könnte bei sachgemäßer Ausgestaltung sogar einen Paradigmenwechsel bei der Verwendung von Methoden als Alternative zum Tierversuch einleiten, wenn Tierversuche nicht mehr wie bislang automatisch den letzten Ausschlag bei der Risikobewertung eines Stoffes gäben, sondern wenn diese ausschlaggebenden Untersuchungen im Rahmen von Alternativmethoden durchgeführt werden könnten. REACH muss daher als Chance, aber zugleich auch als Verpflichtung zu einem umfassenden Einsatz von Alternativmethoden gelten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Leider weist der derzeitige Kommissionsentwurf hierbei noch schwere Mängel auf. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Zellkulturverfahren zur Ermittlung erbgutverändernder Wirkung lassen sich zwar heute schon in REACH finden. Ihre Bedeutung für die Einstufung eines Stoffes ist aber nach wie vor viel zu gering. So müssen erbgutverändernde Wirkungen zunächst einmal im Zellkulturverfahren überprüft werden. Wenn Veränderungen gefunden werden, das heißt, wenn dabei herauskommt, dass ein Stoff vermutlich krebserregend ist, dann muss das im Rahmen von Tierversuchen noch einmal überprüft werden. Wenn dabei herauskommt, dass das Tier keine Veränderungen aufweist, dann heißt das, dass der Stoff ungefährlich ist. Das ist doch völlig absurd; denn dann nimmt man die Ergebnisse des Zellkulturverfahrens überhaupt nicht zur Kenntnis. Das zeigt zugleich, dass Tierversuche noch immer der ?Goldstandard“ sind.

   In unserem Antrag haben wir daher dezidierte Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir das Ziel erreichen können, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Wir gehen hierbei wesentlich weiter als die Regierungsfraktionen in ihrem Antrag. Insbesondere fordern wir eine intelligentere Auswahl von Prüfungsanforderungen durch die Schaffung eines vorrangig risiko- und expositionsbezogenen Prüfungsansatzes. Das bedeutet, tatsächlich nur dann Stoffe zu untersuchen, wenn ein Risiko besteht und wenn der Kontakt mit bestimmten Stoffen erfolgt, also Brain versus Checklist. Sie lehnen diesen Ansatz noch immer ab. Ich muss ehrlich sagen: Das ist erstaunlich. Schließlich loben Sie im letzten Absatz auf der ersten Seite Ihres Antrags die Studie ?Animal testing and alternative approaches“ des Bundesinstituts für Risikobewertung, BfR, in den höchsten Tönen. Wie die beteiligten Kollegen sicherlich wissen und beim Lesen gemerkt haben, wird gerade in dieser Studie ein expositionsbasierter Ansatz gefordert.

   Das BfR hat darüber hinaus ein Positionspapier vorgelegt, das den Ansatz der risiko- und expositionsbezogenen Prüfung konkretisiert. Es stellt hierbei zu Recht fest, dass auch geringe Mengen an Stoffen, verarbeitet in verbrauchernahen Produkten wie zum Beispiel in Kinderspielzeug, zu erheblichen gesundheitlichen Risiken führen und dass der derzeitige Mengenansatz von REACH somit zwar zu mehr Tierversuchen und zu höheren Kosten führt, nicht aber zu einem Mehr an Sicherheit.

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Genau!)

Es stellt außerdem zutreffend fest, dass – egal welchen Ansatz man wählt – ein Nullrisiko beim Umgang mit Chemikalien niemals zu erreichen ist. Das stimmt, Herr Minister, auch wenn Sie den Menschen etwas anderes vorgaukeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wie sieht nun das Konzept des BfR aus? Für Chemikalien in verbrauchernahen Produkten soll ein Mindestdatensatz unabhängig von der Herstellungsmenge erforderlich sein. Ziel ist hierbei, alle Basisinformationen mithilfe tierversuchsfreier Methoden zu gewinnen. Für die weitere Bewertung eines Stoffes ist neben der inhärenten Toxizität die Exposition entscheidend. Hierzu werden Expositionskategorien gebildet. Das BfR beschreibt dabei für die weitere Stoffbewertung Alternativmethoden, mit denen sich auch jenseits des Basisdatensatzes viele Tierversuche vermeiden lassen. Darauf will ich jetzt im Einzelnen nicht eingehen. Der Ansatz des BfR zeigt jedoch, dass ein Paradigmenwechsel möglich ist, wenn man es politisch tatsächlich will.

   Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zu dem eingebrachten Antrag der Regierungsfraktionen sagen. Die Wandlung von Bündnis 90/Die Grünen und SPD ist hier in der Tat gewaltig. Nur zur Erinnerung: Wir haben in dieser Legislaturperiode – über lange Zeit als einzige Fraktion – mehrere vergebliche Versuche unternommen, den Tierschutz im Rahmen der europäischen Chemikalienpolitik zu verbessern. Wir haben schon in unserem Antrag vom November 2003 mehr Forschungsgelder für Alternativmethoden, eine gemeinsame Nutzung von Datenmaterial nach dem Beispiel des § 20 a des deutschen Chemikaliengesetzes sowie die Ausrichtung an Risiko und Exposition gefordert.

Der wurde von der Mehrheit dieses Hauses abgelehnt.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Zu Recht!)

   Doch die bereits zitierte Expertenanhörung im November letzten Jahres hat die Ansicht von CDU und CSU bestätigt, dass es im Zusammenhang mit REACH und Tierversuchen doch noch nicht optimal läuft. Deshalb haben wir im Januar dieses Jahres einen neuen Antrag vorgelegt, den wir heute in zweiter Beratung debattieren. Obwohl Sie ihm in der ersten Beratung ablehnend gegenüberstanden und ihn als überflüssig betrachteten, wurde schließlich doch vorgeschlagen, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu erarbeiten. Aufgrund der vom Bundeskanzler nun angestrebten Verkürzung der Wahlperiode fehlt einfach die Zeit, einen solchen Antrag fraktionsübergreifend und auch innerhalb der Fraktionen ausführlich zu beraten. Wir bedauern das ausdrücklich.

   Dass Sie nunmehr einen eigenen Antrag einbringen, ist ohne Zweifel prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung, doch es fehlt der explizite und zentrale Hinweis auf Risiko und Exposition. Ich habe im Rahmen dieser Rede dargelegt, warum dieser Ansatz so zentral ist und dass auch das Bundesinstitut für Risikobewertung, ohne Zweifel einer der hervorragenden Experten bei diesem Thema, inhaltlich völlig auf unserer Seite steht.

   Eine Überarbeitung ist leider kaum noch möglich, da der Antrag in der vermutlich nur noch kurzen Zeit dieser Legislaturperiode durch das Beratungsverfahren gepeitscht werden soll. Sie können daher unser grundsätzlich gemeinsames Ziel einfacher und besser erreichen, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Stimmen Sie unserem Antrag zu, um damit die Bundesregierung, übrigens ganz gleich welcher Couleur, zu einem nachdrücklichen Handeln im Ministerrat aufzufordern und damit den Tierschutz in Europa zu stärken. Lassen Sie uns REACH gemeinsam besser machen und unterstützen Sie unseren Antrag!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.

Doris Barnett (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist ein Thema, das uns immer stärker begleitet, nicht nur bei der Verfassung und den Grundrechten, nein, auch das tägliche Leben und der Arbeitsplatz werden zunehmend europäischer. Wir als Abgeordnete tragen dabei eine große Verantwortung dafür, dass sich dieses Europa für seine Menschen und seine Wirtschaft positiv entwickelt und ein starker, wettbewerbsfähiger globaler Wirtschaftsraum wird. Nur so werden wir es schaffen, dass Europa von seinen Menschen angenommen wird. Deshalb wird auf unser Betreiben hin zum Beispiel auch die Dienstleistungsrichtlinie massiv verändert, sodass Arbeitsmärkte eben keinen Schaden nehmen. – Zumindest so viel zu der unerträglichen Legendenbildung von heute Morgen.

   Jetzt steht ein Thema für Spezialisten auf der Tagesordnung. Aber in seiner Umsetzung betrifft dieses Thema fast jeden. REACH ist, nebenbei gesagt, nicht das Ergebnis von Unfällen mit Kloreinigern, sondern ist auf die großen Rheinunfälle in den 80er-Jahren zurückzuführen, aufgrund deren sich die CDU/CSU verpflichtet fühlte, ein Umweltministerium einzurichten, von dem sie heute nichts mehr wissen will.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Es geht in dem Zusammenhang um Altstoffe! Das ist sachlich falsch!)

Die CDU/CSU ist und bleibt reaktiv, während wir mit dem Problem proaktiv umgehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   REACH als Teil des europäischen Chemikalienrechts hat Auswirkungen auf fast alle Unternehmen in unserem Land. In der deutschen Chemiebranche sind über 465 000 Menschen beschäftigt,

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): So ist das!)

ein großer Teil von ihnen in mittelständischen Unternehmen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ganz genau!)

Die chemische Industrie ist und bleibt ein starkes Stück Deutschland.

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Ihr macht sie kaputt!)

Das ist der Grund dafür, dass wir uns in die europäische Gesetzgebung gerade zu REACH massiv eingemischt haben –

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Das ist gar nicht wahr! – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Wann denn?)

im Interesse unserer Unternehmen, unserer Arbeitnehmerschaft und unserer Verbraucher und Verbraucherinnen; denn das Vertrauen in die Produkte ist doch das A und O auch für Innovationen in den Unternehmen und damit für den Erfolg unserer Unternehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist doch da!)

   Dass diese Einmischung Früchte trägt, sieht man an den Veränderungen, die die Kommission an dem Vorschlag bereits vorgenommen hat. Aber natürlich hat sich auch bei unseren Unternehmen viel getan. So gibt es die Selbstverpflichtung, für die Stoffe einen aussagekräftigen Mindestdatensatz zum Schutz von Mensch und Umwelt und zur Gefahrenabwehr für die Beschäftigten zu erheben, aufgrund dessen auch bei Unfällen schnell und sachkundig reagiert werden kann.

   Deutschland als der größte Chemiestandort in Europa hat erhebliches Interesse an einer Verordnung, die unsere Unternehmen, besonders den Mittelstand, stärkt. Deshalb setzen wir beispielsweise auch darauf, in Europa zu einer Datennutzung zu kommen, wie sie das deutsche Chemikaliengesetz in Bezug auf die Verwertung von Altstudien kennt. Dabei haben wir auch die Unterstützung von Großbritannien und Ungarn, die das Prinzip ?one substance, one registration“ und damit unsere Zielsetzung aufgreifen. Wir wollen allerdings die wirtschaftlichen Belange aller Unternehmen wahren. Die nutznießenden Unternehmen können auf vorhandene Daten zurückgreifen, brauchen den gesamten Prozess also nicht noch einmal zu durchlaufen.

Der wurde von der Mehrheit dieses Hauses abgelehnt.

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Zu Recht!)

   Doch die bereits zitierte Expertenanhörung im November letzten Jahres hat die Ansicht von CDU und CSU bestätigt, dass es im Zusammenhang mit REACH und Tierversuchen doch noch nicht optimal läuft. Deshalb haben wir im Januar dieses Jahres einen neuen Antrag vorgelegt, den wir heute in zweiter Beratung debattieren. Obwohl Sie ihm in der ersten Beratung ablehnend gegenüberstanden und ihn als überflüssig betrachteten, wurde schließlich doch vorgeschlagen, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu erarbeiten. Aufgrund der vom Bundeskanzler nun angestrebten Verkürzung der Wahlperiode fehlt einfach die Zeit, einen solchen Antrag fraktionsübergreifend und auch innerhalb der Fraktionen ausführlich zu beraten. Wir bedauern das ausdrücklich.

   Dass Sie nunmehr einen eigenen Antrag einbringen, ist ohne Zweifel prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung, doch es fehlt der explizite und zentrale Hinweis auf Risiko und Exposition. Ich habe im Rahmen dieser Rede dargelegt, warum dieser Ansatz so zentral ist und dass auch das Bundesinstitut für Risikobewertung, ohne Zweifel einer der hervorragenden Experten bei diesem Thema, inhaltlich völlig auf unserer Seite steht.

   Eine Überarbeitung ist leider kaum noch möglich, da der Antrag in der vermutlich nur noch kurzen Zeit dieser Legislaturperiode durch das Beratungsverfahren gepeitscht werden soll. Sie können daher unser grundsätzlich gemeinsames Ziel einfacher und besser erreichen, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Stimmen Sie unserem Antrag zu, um damit die Bundesregierung, übrigens ganz gleich welcher Couleur, zu einem nachdrücklichen Handeln im Ministerrat aufzufordern und damit den Tierschutz in Europa zu stärken. Lassen Sie uns REACH gemeinsam besser machen und unterstützen Sie unseren Antrag!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.

Doris Barnett (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist ein Thema, das uns immer stärker begleitet, nicht nur bei der Verfassung und den Grundrechten, nein, auch das tägliche Leben und der Arbeitsplatz werden zunehmend europäischer. Wir als Abgeordnete tragen dabei eine große Verantwortung dafür, dass sich dieses Europa für seine Menschen und seine Wirtschaft positiv entwickelt und ein starker, wettbewerbsfähiger globaler Wirtschaftsraum wird. Nur so werden wir es schaffen, dass Europa von seinen Menschen angenommen wird. Deshalb wird auf unser Betreiben hin zum Beispiel auch die Dienstleistungsrichtlinie massiv verändert, sodass Arbeitsmärkte eben keinen Schaden nehmen. – Zumindest so viel zu der unerträglichen Legendenbildung von heute Morgen.

   Jetzt steht ein Thema für Spezialisten auf der Tagesordnung. Aber in seiner Umsetzung betrifft dieses Thema fast jeden. REACH ist, nebenbei gesagt, nicht das Ergebnis von Unfällen mit Kloreinigern, sondern ist auf die großen Rheinunfälle in den 80er-Jahren zurückzuführen, aufgrund deren sich die CDU/CSU verpflichtet fühlte, ein Umweltministerium einzurichten, von dem sie heute nichts mehr wissen will.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Es geht in dem Zusammenhang um Altstoffe! Das ist sachlich falsch!)

Die CDU/CSU ist und bleibt reaktiv, während wir mit dem Problem proaktiv umgehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   REACH als Teil des europäischen Chemikalienrechts hat Auswirkungen auf fast alle Unternehmen in unserem Land. In der deutschen Chemiebranche sind über 465 000 Menschen beschäftigt,

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): So ist das!)

ein großer Teil von ihnen in mittelständischen Unternehmen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ganz genau!)

Die chemische Industrie ist und bleibt ein starkes Stück Deutschland.

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Ihr macht sie kaputt!)

Das ist der Grund dafür, dass wir uns in die europäische Gesetzgebung gerade zu REACH massiv eingemischt haben –

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Das ist gar nicht wahr! – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Wann denn?)

im Interesse unserer Unternehmen, unserer Arbeitnehmerschaft und unserer Verbraucher und Verbraucherinnen; denn das Vertrauen in die Produkte ist doch das A und O auch für Innovationen in den Unternehmen und damit für den Erfolg unserer Unternehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist doch da!)

   Dass diese Einmischung Früchte trägt, sieht man an den Veränderungen, die die Kommission an dem Vorschlag bereits vorgenommen hat. Aber natürlich hat sich auch bei unseren Unternehmen viel getan. So gibt es die Selbstverpflichtung, für die Stoffe einen aussagekräftigen Mindestdatensatz zum Schutz von Mensch und Umwelt und zur Gefahrenabwehr für die Beschäftigten zu erheben, aufgrund dessen auch bei Unfällen schnell und sachkundig reagiert werden kann.

   Deutschland als der größte Chemiestandort in Europa hat erhebliches Interesse an einer Verordnung, die unsere Unternehmen, besonders den Mittelstand, stärkt. Deshalb setzen wir beispielsweise auch darauf, in Europa zu einer Datennutzung zu kommen, wie sie das deutsche Chemikaliengesetz in Bezug auf die Verwertung von Altstudien kennt. Dabei haben wir auch die Unterstützung von Großbritannien und Ungarn, die das Prinzip ?one substance, one registration“ und damit unsere Zielsetzung aufgreifen. Wir wollen allerdings die wirtschaftlichen Belange aller Unternehmen wahren. Die nutznießenden Unternehmen können auf vorhandene Daten zurückgreifen, brauchen den gesamten Prozess also nicht noch einmal zu durchlaufen.

Allerdings sind sie dann zur anteiligen Übernahme der Kosten der Datenerhebung verpflichtet. Das bietet Sicherheit, Schnelligkeit und Kostengerechtigkeit – also eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, gerade auch für den Mittelstand.

   Der mittelständische Verwender von chemischen Erzeugnissen der Großindustrie wird Vorteile haben, selbst dann, wenn er mit seiner Zubereitung der Chemikalien von der vorgesehenen Verwendungsmöglichkeit abweichen will. Denn er kann vom Hersteller verlangen, auch diese abweichende Verwendung risikoseitig zu prüfen. Wenn er Bedenken wegen der Geheimhaltung seiner Verwendung hat, kann er diese direkt der zentralen Behörde anzeigen.

   Damit und mit anderen Änderungen hat die EU-Kommission bereits den Versuch unternommen, in möglichst vielen Punkten der betroffenen mittelständischen Wirtschaft entgegenzukommen. Die durch den jetzt vorliegenden Verordnungsvorschlag, der auch alternative Verfahren vorsieht, entstehenden Gesamtkosten können so für einen Zeitraum von circa 15 Jahren auf insgesamt 3 bis 5 Milliarden Euro gesenkt werden, nachdem ursprünglich von weit höheren Kosten die Rede war. Das ist unserer Meinung nach auch von der chemischen Industrie zu schultern.

   Mit dem bereits erwähnten Prinzip ?one substance, one registration“ kann das Registrierverfahren gestrafft und können Doppelmeldungen verhindert werden. Das ist gerade bei Tierversuchen – selbst wenn sie noch so notwendig sind – ein entscheidendes Kriterium. Auch der Vorschlag einer Vorregistrierung von Stoffen ist allgemein auf Sympathie gestoßen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Warum hat der Minister das denn nicht vorgeschlagen?)

   Entscheidend wird nun sein, ob EU-weit eine Einigung über den Inhalt des dazu notwendigen Kundendatensatzes zustande kommt. Wir kennen die Bedenken insbesondere der mittelständischen Unternehmen, die einen zu hohen, wettbewerbsverzerrenden Aufwand bei der Umsetzung von REACH befürchten. Wir sind aber sicher, dass das System Gewinner hervorbringen wird. Das werden diejenigen sein, die flexibel und proaktiv auf die Neuerungen reagieren werden und die Abweichungsangebote des REACH-Systems, zum Beispiel im Einzelfall vom reinen Tonnenmaßstab zu einer mehr risiko- oder expositionsbezogenen Bewertung überzugehen, zu nutzen wissen.

   Unsere Mittelständler, meine Damen und Herren, können sicherlich mit den Regelungen von REACH besser umgehen als mit einer möglichen Alternative,

(Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Sagen Sie einmal, für welchen Antrag reden Sie eigentlich?)

die dann vielleicht so aussehen könnte wie das angloamerikanische Haftungsrecht.

(Birgit Homburger (FDP): Ist doch unglaublich, was hier abgeht! Eine Unterstellung nach der anderen!)

Dort werden am Anfang zwar Kosten eingespart, doch ein Schadensfall kann eine unbezahlbare Lawine auslösen und zum Ruin der Firma führen. Da haben wir in Europa doch viel Besseres zu bieten.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man könnte heute Morgen den Eindruck gewinnen, dass Tierschutz und Strategien der Verbesserung des Tierschutzes im Hinblick auf REACH ausschließlich eine Erfindung der CDU/CSU wären.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist so!)

– Dem ist mit Sicherheit nicht so.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Hat Herr Trittin doch gerade gesagt!)

Wir haben, gerade was die Entwicklung alternativer Methoden zu Tierversuchen angeht, in Deutschland eine Erfolgsstory geschrieben, die auch international Anerkennung findet. Dass Sie daran nicht ganz unbeteiligt sind, stelle ich gar nicht in Abrede.

   Wir haben 266 Forschungsvorhaben in diesem Bereich durch Investitionen in einer Größenordnung von 86 Millionen Euro aus Haushaltsmitteln unterstützt. Das ist international einmalig.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Das ist wunderbar! Das ist großartig! Das steht in guter Tradition!)

Aus dem Grunde stehen wir auch international in einer entsprechenden Position. So wird auch der große internationale Kongress über Alternativen zu Tierversuchen hier in Deutschland im August stattfinden. Ich kann jeden nur auffordern, daran teilzunehmen. Auch die Experten können sich da vielleicht noch einige Anregungen holen. Das kann man natürlich nicht losgelöst von der Debatte zu REACH sehen. Dass aber heute Morgen wieder einmal versucht wird, den Tierschutz zu instrumentalisieren und hier letztendlich eine Stellvertreterdebatte zu führen, halte ich nicht für angemessen. Ich glaube, es wäre besser, wenn wir auf den Boden der Tatsachen zurückkehren.

   Es gibt einige Probleme, die es zunächst einmal zu bewältigen gilt. Da ist die Frage der Evaluierungsverfahren auf der europäischen Ebene. Die 1991 gegründete europäische Einrichtung ECVAM ist in Bezug auf die Evaluierung von bereits vorhandenen alternativen Verfahren weitestgehend ungeeignet.

Wir haben in Deutschland mithilfe der Förderung aus Steuertöpfen eine ganze Reihe von Verfahren entwickelt, interessante Alternativen, die für die Industrie mit Sicherheit kostengünstiger sind als herkömmliche Tierversuche. Es mangelt aber an der Validierung.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Was hat die Bundesregierung dafür auf europäischer Ebene getan?)

   Selbiges stellen wir im Rahmen der Validierungsverfahren auf der Ebene der OECD in Paris fest. Bereits vorhandene Verfahren in dem Bereich kommen im Augenblick gar nicht zur Anwendung. Dagegen gilt es zunächst einmal etwas zu tun.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Und was tun Sie?)

Dafür müssen wir uns einbringen und unseren Einfluss in Brüssel geltend machen, auch im Rahmen der Debatte über REACH.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Und was tun Sie? Und was tut Ihr Minister?)

   Sie brauchen jetzt nicht davon zu reden, dass hier ein Paradigmenwechsel vollzogen werden soll: Der ist an sich längst vollzogen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Leider nicht! Das müssen wir erst machen!)

In den Köpfen der Beteiligten, der Forscher an alternativen Methoden ist dieser Paradigmenwechsel schon lange vollzogen.

   Schon bei der Debatte im Februar hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, eine relativ große Gemeinsamkeit auch in den Schlussfolgerungen erreicht, gerade im Hinblick auf den Tierschutz. Darum betrübt es mich ein bisschen, dass wir diese Gemeinsamkeit in dem Antrag nicht haben weiterentwickeln können.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Aber warum haben Sie Risiko und Exposition in dem Zusammenhang völlig ausgeblendet?)

Wir brauchen in dem Zusammenhang sicher einen mengenbezogenen Ansatz plus – unter dem Aspekt der Risikobewertung – eine expositionsbezogene Aussage; denn nur beides gemeinsam macht Sinn.

   Wir unterhalten uns hier über Mengen größer als 1 Tonne. Das ist sicherlich relevant. Es wurde festgestellt, dass wir ungefähr 500 000 Tonnen Weichmacher produzieren, die sich bis in das Fettgewebe der Robben in der Antarktis nachweisen lassen. Anhand der Analysen der Duftstoffe, beispielsweise Moschus, in der Muttermilch zum Beispiel kann man genau erkennen, welche Duftstoffe im Augenblick am Markt erkennbar gut verkauft werden.

   Das ist doch eine sehr bedenkliche Entwicklung. Aus diesem Grunde ist die Anforderung an die Unternehmen, die Ungefährlichkeit einer Substanz nachzuweisen, doch richtig. Das ist besser, als hinterher, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und die Schäden aufgrund der Gefährlichkeit, die man dann feststellt, eingetreten sind, diese Substanzen vom Markt zu nehmen.

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Dagegen sagt doch keiner was! Das ist doch okay!)

   Dieser Grundsatz ist richtig und deshalb gilt es, ihn zielgerichtet weiterzuentwickeln. Das gilt auch und vor allem unter dem Aspekt des vorsorgenden Verbraucherschutzes; denn dieser ist bei vielen mit Blick auf die Produktsicherheit noch nicht in den Fokus der Betrachtungsweise gerückt. Eine Konsequenz aus REACH ist, gerade in dem Bereich einen besonderen Schwerpunkt zu setzen.

   Bei diesem Prozess müssen all die Verfahren und Möglichkeiten, die wir haben – von Strukturwirkungsanalysen über die Alternativverfahren, die bereits entwickelt worden sind oder sich unmittelbar in der Entwicklung befinden –, einbezogen werden. Die vermeintlichen Kosten für die Versuche – das kann man in der EU-Studie nachlesen –

(Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Die können sogar sinken!)

bewegen sich beim Einsatz aller bislang schon bekannten Alternativverfahren in einer Größenordnung von 7 000 bis 12 000 Euro. Das ist eine Größenordnung, die für die Hersteller, auch für die mittelständischen Hersteller, durchaus bezahlbar ist, gerade vor dem Hintergrund, dass es in diesem Bereich erträgliche Gewinnspannen gibt.

   In diesem Sinne appelliere ich an Sie: Kehren Sie zurück zur Gemeinsamkeit und lassen Sie uns die positiven Ansätze, die wir haben, weiterentwickeln! Ich würde mich freuen, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden, weil er letztendlich konsequenter ist.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Wenn Sie heute erst mal unserem Antrag zustimmen, können wir ja nächste Woche noch mal gucken!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5454 mit dem Titel ?Für ein umwelt-, innovations- und mittelstandsfreundliches REACH“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme enthalten? – Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.

   Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17 b. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 15/5686 mit dem Titel ?Alternativen zu Tierversuchen – REACH nutzen“.

Hans-Joachim Hacker (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag, Herr Gehb: Die Union hat sich eines Besseren besonnen und sich unserem Gesetz angeschlossen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Das ist aber witzig! – Daniela Raab (CDU/CSU): Das ist jetzt aber lustig!)

So bleibt mir – ich hoffe, da spreche ich im Namen aller Beteiligten – nur ein Appell an die Länder, im Bundesrat das Ihre zu tun, damit dieses Gesetz in Kraft treten kann. Wenn uns das gelingt, dann sollten wir uns alle darüber freuen. Heute leisten wir unseren Beitrag dazu.

   Bereits nach geltendem Recht sind illegale Graffiti – das wird oft vergessen – keine Bagatelle. Strafrechtlich droht den Sprayern nämlich schon heute eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wegen Sachbeschädigung. Bisher jedoch ist die Beweisführung in Prozessen zur Feststellung der Substanzbeschädigung – das war das eigentliche Problem – oft langwierig und mit kostenträchtigen Gutachten verbunden. Deshalb ist eine Gesetzesänderung sinnvoll, durch die das Gericht dem Verdächtigen die Tat und die Sachbeschädigung besser nachweisen kann. Genau dies bezweckt der von der Koalition eingebrachte Gesetzentwurf. Er erleichtert die gerichtliche Feststellung der Sachbeschädigung. Das Erfordernis aufwendiger Gutachten im Strafprozess wird nun in einer Vielzahl von Fällen entfallen können.

   Mit diesem Gesetz wird außerdem klargestellt, dass künftig nur noch solche Veränderungen keine Sachbeschädigung mehr sind, die ohne Aufwand binnen kurzer Zeit von selbst wieder vergehen oder entfernt werden können, zum Beispiel Verhüllungen, Plakatierungen mittels ablösbarer Klebestreifen oder ein Kreide- bzw. Wasserfarbenauftrag.

   Strafrecht ist allerdings nur ein Instrument von mehreren, die zur Graffitibekämpfung erforderlich sind. Für Strafrecht ist der Bundesgesetzgeber – das sind wir – zuständig. Es liegt also in unserem Verantwortungsbereich und wir müssen hier, wie man so sagt, unseren Job machen.

(Peter Götz (CDU/CSU): Höchste Zeit!)

   Prävention ist und bleibt bei der Graffitibekämpfung vorrangig. Hierbei sind Länder, Städte, Gemeinden, Verkehrsbetriebe, Interessenverbände, Vereine und nicht zuletzt vor allem die Bürgerschaft gefordert. Wir alle wissen, dass es auch Vereine gibt, die sich vor allem in diesem Bereich sehr engagieren. Ich habe in meiner Heimatstadt Schwerin, also in der Hauptstadt des Landes Mecklenburg-Vorpommern, ein solches Projekt angestoßen. Wir machen dort jetzt mobil: Aus der Bürgerschaft heraus kommt eine Initiative zur Umsetzung von Prävention im praktischen Leben.

   Prävention muss bereits im Elternhaus und in den Schulen anfangen:

Lehrer und Eltern müssen über den Wert und Nutzen öffentlicher Einrichtungen sprechen und Respekt vor dem Recht anderer, auch vor dem Eigentumsrecht, vermitteln. Das ist selbstverständlich. Sie müssen deutlich machen, dass illegale Graffiti kein harmloser Scherz sind. Erziehen und aufklären heißt, klipp und klar zu sagen: Unbefugtes Sprayen verletzt anderer Leute Eigentum und ist eine strafbare Handlung.

   Es muss ebenso deutlich gesagt werden, dass es für den Nachwuchs nicht nur strafrechtliche, sondern auch zivilrechtliche Konsequenzen gibt. Kinder und Jugendliche zwischen dem siebenten und dem 18. Lebensjahr sind nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch für verursachte Schäden grundsätzlich verantwortlich. Zivilrechtlich haften Täter für die gesamte Schadenshöhe, die durch das Entfernen der Schmierereien und die daraus resultierende Notwendigkeit der Schadensbeseitigung entsteht. Das kann richtig teuer werden.

   Können die Täter diese Schäden nicht begleichen, kann der Geschädigte einen Schuldtitel erwirken, der 30 Jahre lang durch einen Gerichtsvollzieher vollstreckbar ist. Oftmals geht mit einer solchen Schuldtitelerklärung auch ein SCHUFA-Eintrag einher. Dieser kann zur Folge haben, dass Jugendliche, die Anträge auf die Eröffnung eines Girokontos stellen oder einen Handyvertrag abschließen möchten, in Schwierigkeiten geraten.

   Prävention ist von den Städten und Gemeinden gefordert, vor allem wenn es darum geht, Nachahmungseffekte zu verhindern. Tatsächlich ist die präventive Wirkung einer raschen Beseitigung der Farbschmierereien nicht hoch genug einzuschätzen. Genau an dieser Stelle muss angesetzt werden. So können wir einen Erfolg der Sprayer vereiteln, die im Grunde genommen erreichen wollen, dass ihr Werk von möglichst vielen Menschen gesehen wird. Deshalb müssen Graffiti schnell beseitigt werden. Dadurch wird der Erfolg der Sprayer infrage gestellt oder, noch besser, gegenstandslos.

   Meine Damen und Herren, es gibt zahlreiche Präventionsmaßnahmen, die vor Ort realisiert werden. Nicht zuletzt richtet sich mein Appell an die Bürgerinnen und Bürger; sie müssen sich ebenso verantwortlich fühlen, vor allem dürfen sie nicht wegschauen, wenn jemand öffentliche Einrichtungen oder Privateigentum beschädigt. Sie müssen gemeinsam mit der Polizei und den Ordnungskräften der kommunalen Verwaltung dafür Sorge tragen, dass Graffitisprayer angezeigt werden. Das ist die Konsequenz strafbaren Handelns.

   Es gibt schon etliche kommunale Präventionsaktivitäten, die bei der Verhinderung illegaler Graffiti vorbildlich sind. Dazu gehören Jugendprojekte, Öffentlichkeitsarbeit in den Kommunen und Vernetzungsleistungen in diesem Bereich. Ich möchte alle, zuallererst die Kommunen, ermuntern, in diesen Bemühungen nicht nachzulassen. Sie sind der beste Schutz gegen Graffiti, die mittlerweile die Stadtbilder in einer schlimmen Weise verunstaltet haben.

   Diesem Ziel wird unser Gesetzentwurf gerecht. Wir leisten damit das Notwendige für den strafrechtlichen Bereich, für den – ich sagte es – wir zuständig sind. Offenbar ist endlich auch die Unionsfraktion bereit, auf diesem Weg mitzugehen.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Ach, Herr Hacker, bitte! Sie müssen schon selber lachen!)

Lassen Sie mich abschließend sagen: Ansichten ändern sich durch Einsichten.

(Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Das muss gerade von der Seite kommen!)

Wer sich korrigiert, zeigt, dass er nicht unverbesserlich ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es darf gelacht werden!)

In diesem Sinne wünsche ich den Kolleginnen und Kollegen der Union weiter gute Besserung.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird’s kabarettistisch!)

   Zu guter Letzt möchte ich Herrn van Essen ein Wort widmen. Die FDP ist unserem Gesetzentwurf bislang nicht beigetreten. Das sollte sie heute nachholen, heute haben Sie die Chance.

(Jörg van Essen (FDP): Mit Sicherheit nicht!)

Springen Sie über den kleinen Bach. Dann könnten Sie sich auch sehr schnell von Ihrem Vorschlag, der nach wie vor den Tatbestand des Verunstaltens enthält, verabschieden.

(Jörg van Essen (FDP): Wir sind schon längst davon weg! Das wissen Sie doch! – Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Sie sind gar nicht auf dem richtigen Stand!)

Diesen hat die Union richtigerweise mittlerweile aufgegeben.

(Jörg van Essen (FDP): Wir sind mittlerweile davon weg!)

– Wenn das so ist, Herr van Essen, dann stimmen Sie zu. Dann können wir den Gesetzentwurf heute gemeinsam verabschieden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Sie sind in der falschen Legislaturperiode!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.

Daniela Raab (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Hacker, bei Ihrem Eingangssatz, mit dem Sie unsere vermeintliche Einsicht bezüglich der Graffiti begrüßt haben, mussten Sie berechtigterweise selber vor sich hin lachen, wir auch. Es ist nämlich wirklich fast frech, wenn Sie hier sagen, endlich sei die Union zur Einsicht gekommen. Wer hat uns denn jahrelang, wenn nicht sogar jahrzehntelang,

(Jörg van Essen (FDP): So ist es! Genauso ist es! – Zuruf von der CDU/CSU: Da drüben sitzen die Täter!)

im Ausschuss belehrt? Wer hat denn die Graffitibekämpfung blockiert? Das waren doch nicht wir, das waren Sie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es war immer mit der Behauptung verbunden, es gebe in diesem Bereich überhaupt kein Bedürfnis für eine Änderung des Strafgesetzbuches.

Die Grünen haben das Ganze dann immer noch als Bagatelldelikte Jugendlicher hingestellt

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und gemeint, man sollte die Kirche im Dorf lassen. In der Tat, Kabarett ist fast nichts gegen das, was Sie hier aufführen.

   Graffiti sind ganz klar – da sind wir Ihnen Jahre voraus gewesen – kein Kavaliersdelikt, das man kleinreden kann, sondern eine Straftat. Umgekehrterweise begrüßen wir nun Ihre Einsicht auf diesem Gebiet. Wir von der Union und der FDP haben schon immer die Notwendigkeit erkannt, dass der gerichtlichen Praxis ein klar ausformulierter Straftatbestand an die Hand gegeben werden muss. Denn bisher war es gewieften Sprayern immer wieder möglich, sich allzu leicht ihrer Bestrafung zu entziehen. So benutzten sie zum Beispiel für ihre Aktionen schlicht Oberflächen, von denen die Schmierereien mehr oder weniger leicht zu entfernen waren. Damit entfiel die Substanzverletzung an der Sache und somit auch die Strafbarkeit der Tat. Außerdem konnten die Täter aufgrund dessen auch immer davon ausgehen, dass es den Opfern oft zu umständlich und auch zu teuer sein würde, ein Gutachten anfertigen zu lassen, um diese Substanzverletzung, die für eine Bestrafung Voraussetzung war, letztlich zu beweisen.

   Es ist ganz klar, dass durch die Ergänzung des Sachbeschädigungsparagraphen nicht zwingend mehr Sprayer gefasst werden. Es geht uns aber schlicht und ergreifend darum, dass diejenigen, die gefasst werden, eine angemessene Bestrafung erfahren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das kann eine Geldstrafe sein. Wirksamer ist es sicherlich – da sind wir uns sicher einig –, die Sprüher an die Häuserwände zu schicken, die sie vorher besprayt haben, und das Ganze wieder abkratzen zu lassen. In München wurde das schon erfolgreich erprobt.

   Es geht uns auch darum, bereits im Vorfeld eine abschreckende Wirkung durch eine entsprechende gesetzliche Regelung zu erzeugen. Polizeiliche Ermittlungen insbesondere in Berlin ergeben oft, dass die Täter mit der jetzt noch geltenden Rechtslage überaus vertraut sind und ziemlich genau wissen, wann sie bestraft werden können und wann nicht. Außerdem wird uns berichtet – auch dagegen müssen wir uns als Gesetzgeber wehren –, dass sich ganze Graffitibanden bilden, die bereit sind, ihre Sprühreviere, die sie vorher markant untereinander aufgeteilt haben, mit Gewalt zu verteidigen. Lesen Sie dies in der ?Berliner Morgenpost“ vom 26. Mai dieses Jahres nach! So ist es nämlich Ende Mai in Oranienburg geschehen, wo die Polizei eine ganze Sprayergruppe hochgehen lassen konnte.

   Zu alledem kommt natürlich hinzu – dazu wird Kollege Götz nachher sicherlich etwas sagen –, dass eine gehäufte Ansammlung von Graffiti-Tags an Häuserwänden bei den Bürgern den Eindruck der Verwahrlosung hinterlässt und auch zu einem Gefühl der Bedrohung führt. Auch diesen Aspekt dürfen wir natürlich nicht vernachlässigen. Ganze Viertel verlieren an Attraktivität und vor allem auch an Wohnwert.

   All das kommt Ihnen natürlich bekannt vor. Wir haben es Ihnen vielfach vorgetragen. Auch der Bundesrat hat eine Formulierung vorgelegt, die auf die nicht nur unerhebliche Veränderung einer Sache gegen den Willen des Berechtigten abstellt. Die Sachverständigenanhörung hat ein klares Votum für diesen Wortlaut ergeben,

(Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

dem wir uns von Unionsseite mit einem gleichlautenden Gesetzentwurf angeschlossen haben.

   Ihre Haltung blieb trotz all dieser Fakten, die man nicht von der Hand weisen kann, jahrelang unerschütterlich ablehnend.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In mehreren Ausschussberatungen haben Sie wiederholt eine Abstimmung abgelehnt, während Ihre Frau Ministerin Zypries in Interviews richtigerweise immer wieder betont hat, wie wichtig es sei, eine gesetzliche Regelung herbeizuführen. Ihr Innenminister wollte den Sprayern auch noch Hubschrauber hinterherschicken. Das, glaube ich, brauchen wir hier nicht weiter auszudiskutieren.

   Der letzte Akt zu ?Graffiti und kein Ende“ nahm dann unerwarteterweise eine sehr überraschende Wendung.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): So?)

– Wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, warum wir jetzt so überrascht sind.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Selbst dann wüsste er es nicht!)

Kurz vor der NRW-Wahl hat – dies hat Ihnen aber nicht geholfen – auf Ihrer Seite ein geradezu rasanter Sinneswandel eingesetzt. Plötzlich gab es einen eigenen Entwurf von Rot-Grün.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Das ist ein Wunder!)

– Es war wirklich ein Wunder. Es geschehen also noch Wunder; das stimmt mich hoffnungsvoll. – Man hat jetzt also erkannt: Es gibt in der Tat in der Praxis Probleme bei der Auslegung des Sachbeschädigungsparagraphen. Man schließt daraus Handlungsbedarf: Man möchte fast sagen: ?Auch schon auf?“ und die Frage aufwerfen, ob vielleicht ein paar grüne Kollegen bei dieser Entscheidung gerade nicht im Raum waren.

   Sei es, wie es sei: Ihr Gesetzentwurf wird uns nun als großer Durchbruch verkauft. Strafbar macht sich nach Ihrem Entwurf, ?wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“. Ob sich diese Formulierung in der Praxis bewährt, wird sich zeigen. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass unser Entwurf bzw. der Entwurf des Bundesrates der bessere gewesen wäre,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

weil wir nur mit diesem Entwurf Auslegungsschwierigkeiten weitestgehend vermieden hätten.

   Deshalb bedauern wir immer noch sehr, dass Sie sich nicht dazu durchringen konnten, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Aber Sie wissen ja, wie es manchmal ist: Der Klügere gibt nach; das sind in diesem Fall wir.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Nicht so viel Eigenlob!)

– Immer wieder gern.

   Ihr Gesetzentwurf begeistert uns wahrlich nicht.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Er soll Sie auch nicht begeistern! Begeisterung ist hier nicht gefordert!)

Er ist eine Last-Minute-Lösung. Aber er lässt auf Ihrer Seite Einsicht erkennen. Deswegen stimmen wir ihm heute zu.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Richtig so! Zustimmung statt Begeisterung!)

Das sind wir der Bevölkerung schuldig, die direkt oder indirekt den Großteil der Kosten trägt, die entstehen, wenn die Graffiti wieder entfernt werden müssen, und wir sind es den Betroffenen schuldig, denen zu Recht das Verständnis für die bisherige Rechtslage fehlte. Deshalb – und nur deshalb – stimmen wir Ihrem Gesetzentwurf heute zu.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 182. Sitzung – wird am
Montag, den 20. Juni 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15182
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