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Oktober 09/1999
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Wie alt darf ein Atomkraftwerk werden?

Die Diskussion um den Ausstieg aus der Kernenergie hat durch den japanischen Atomunfall auch in Deutschland zusätzliche Aktualität gewonnen. Atomenergie-Gegner fühlen sich bestätigt, Befürworter müssen Rücksicht auf neu entstandene Ängste nehmen. Bis zum Jahresende will die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für den nationalen Ausstieg aus der Kernenergie mit der Energiewirtschaft vereinbaren. Kommt kein Konsens zustande, soll der ausstieg gesetzlich geregelt werden. Aber die Restlaufzeiten, die den Atomreaktoren zugebilligt werden müssen (oder sollen), sind weiterhin umstritten. Blickpunkt Bundestag lud die energiepolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und Bündnis 90/ Die Grünen, Kurt-Dieter Grill und Michaele Hustedt, zu einem Streitgespräch über das Für und Wider des Atomausstiegs ein.

Michaela Hustedt, B90/GRÜNE im Gespräch mit Herrn Grill

Blickpunkt Bundestag: Frau Hustedt, was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe für einen Atomausstieg?

Hustedt: Wenn einmal ein größerer Unfall passiert - und das ist auch in Deutschland nicht ausgeschlossen -, dann gibt es eine Katastrophe von dramatischen Ausmaßen. Und da wir Alternativen zur Kernkraft haben, sollten wir sie jetzt nutzen - auch zum Schutz der Bürger. Der zweite Grund ist die offene Frage des Atommülls. Weder in Deutschland noch weltweit existiert ein funktionierendes Endlager. Wir wissen also nicht, wo dieser gefährliche Müll über zehntausende von Jahren sicher untergebracht werden kann, sondern überlassen die Lösung des Problems den nächsten Generationen. Das ist unverantwortlich. Schließlich entsteht bei der Wiederaufbereitung überall in der Welt tonnenweise waffenfähiges Plutonium. Niemand weiß, was damit geschieht, ob vielleicht sogar daraus in großem Stil Atomwaffen produziert werden.

Und was spricht gegen den Ausstieg aus der Atomenergie, Herr Grill?

Grill: Mit der Kernenergie sparen wir allein in Deutschland pro Jahr 150 Millionen Tonnen CO2-Emissionen gegenüber dem Einsatz anderer Energieträger. Die langfristigen Risiken fossiler Energieträger - etwa auf das Klima und die Gesundheit der Menschen - sind meines Erachtens deshalb größer einzuschätzen als die der Kernenergie. Die Entsorgung der Kernenergie wird politisch blockiert. Und Plutonium kann man, darüber besteht weitgehende Einigkeit, in Mox-Brennelemente "einpacken", um es nicht mehr waffenfähig zu machen. So gefährlich ist die Kernenergie also nicht, wie es die Bündnisgrünen weismachen wollen.

Andererseits wird seit einem Jahrzehnt in Deutschland und seit zwei Jahrzehnten in den USA gar kein Atomkraftwerk (AKW) mehr geplant ...

Hustedt: Auch für die nächsten zehn Jahre plant niemand ein AKW in Deutschland. Im liberalisierten Energiemarkt ist Atomkraft eine auslaufende Technologie. Sie rechnet sich nicht. Aber die hohen Überkapazitäten werden als Dumpingstrom von den Stromkonzernen angeboten. Es besteht die Gefahr, dass umweltfreundliche Energieerzeugung im freien Markt unter die Räder kommt. Dann aber ist mir allemal lieber, die Überkapazitäten durch Stilllegen von Atommeilern abzubauen als etwa durch Verringerung hocheffizienter Wärmekraftkoppelung. Und was die CO2-Problematik betrifft: Da es keine neuen Atomkraftwerke mehr gibt, müssen wir in innovative umweltfreundlichere Technologien investieren, um die Emissionen in den Griff zu bekommen. Die Überkapazitäten sind dabei ein Investitions- und Innovationshemmnis.

"Wenn die Atomkraft zu teuer werden sollte, wird sie von allein vom Markt verschwinden"

Grill: Einspruch: Dann brauchen wir auch keinen politisch festgelegten Ausstiegsplan. Das regelt sich am besten im Wettbewerb, für den wir beide eintreten. Wenn die Atomkraft zu teuer werden sollte im Vergleich zu anderen Energieträgern, wird sie von allein vom Markt verschwinden. In etwa zehn Jahren brauchen wir dennoch Entscheidungen über den Bau neuer Großkraftwerke. Deshalb sollten wir diese Zeit nutzen um zu sehen, wie weit wir mit dem Energieeinsparen, der Förderung erneuerbarer Energien und z.B. den Brennstoffzellen kommen, die sich mit Sicherheit am Markt durchsetzen werden. Solange können wir doch die bestehenden Kraftwerke laufen lassen. Die Option Kernenergie müssen wir aufrechterhalten. Das ist sinnvoller, als uns ständig über die Zukunft der Kernkraftwerke zu streiten.

Hustedt: Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Wenn der Atomstreit jetzt nach 20 Jahren endlich begraben würde, könnten wir uns viel intensiver um eine effektive und umweltfreundliche Energieversorgung kümmern. Da wir uns über die Atomkraft sowieso nicht einigen können, ist es richtig, wenn die Regierung im Konsens mit den Betreibern Restlaufzeiten festlegt. Dann gibt es Frieden und klar vereinbarte Vorgaben, über die kein Streit mehr lohnt.

Wenn das denn so kommt, Herr Grill, und die Opposition es nicht verhindern kann, für welche Restlaufzeiten würden Sie dann kämpfen?

Grill: Beim ersten Energiekonsens 1993 hat man sich darauf geeinigt, die Lebensdauer der Kernkraftwerke nicht bis zum Letzten auszudehnen. Das halte ich immer noch für vernünftig. Und dann ist man bei den 40 Volllastjahren, die im Wesentlichen den unbefristeten Betriebsgenehmigungen zugrunde liegen. Die wichtigste Frage ist aber: Was kommt anstelle der Kernenergie? Und da schweigt sich die Bundesregierung beharrlich aus. Ohne eine Antwort ist keine sachgerechte Entscheidung möglich.

Hustedt: Wir sind mitten dabei, die Architektur des Ausstiegs zu entwerfen - gemeinsam mit der Energiewirtschaft. Ich kann Ihnen aber schon jetzt sagen: Der erste große Ersatz ist der Abbau von Überkapazitäten. Dann wird die hocheffiziente Wärmekraftkoppelung - etwa bei Gaskraftwerken - einen Teil des Atomstroms übernehmen. In diese Technologie investiert die Energiewirtschaft schon heute, weil sie sich gegenüber abgeschriebenen AKWs oder Braunkohlekraftwerken bereits jetzt rechnet. Mittel- und langfristig gewinnen auch die regenerativen Energien an Bedeutung. Experten schätzen, dass ihr Anteil an der Stromerzeugung in 30 Jahren weltweit bei 40 bis 50 Prozent liegt. Diesen Zukunftsmarkt müssen wir in Deutschland rechtzeitig fördern und entwickeln.

Grill: Wir sind doch überhaupt nicht auseinander in der Frage, wie die Energieversorgung in 30 bis 40 Jahren aussieht. Da muss die Vorherrschaft der fossilen durch die erneuerbaren Energieträger abgelöst werden. Und deswegen müssen wir dafür mehr Geld für Forschung und Förderung bereitstellen. Aber was passiert, bis der Durchbruch geschafft ist? Da reicht das beim gewünschten schnellen Atomausstieg nicht aus, was uns Frau Hustedt hier vorrechnet. Oder sie setzt darauf, dass wir die Lücke mit importiertem Atomstrom aus Frankreich oder anderswo schließen ...

Macht ein nationaler Alleingang beim Atomausstieg Sinn, wenn jeder europäischer Kernkraftwerk-Betreiber seinen Strom unbegrenzt in Deutschland verkaufen kann?

Hustedt: Jedes abgeschaltete AKW ist ein gutes AKW. Zweitens: Frankreich wehrt sich gegen eine Öffnung seines Marktes doch nur, weil seine noch hoch subventionierte Atomkraft eigentlich nicht wettbewerbsfähig ist. Deswegen wollen wir Frankreich zwingen, seine Grenzen zu öffnen - ich hoffe, Partei übergreifend. Dann werden wir bald sehen, dass Atomstrom so billig nicht ist - und das gilt auch für andere Länder. Drittens: Wenn wir jetzt Wettbewerb auf dem europäischen Strommarkt bekommen, müssen wir bestimmte Sicherheits- und Umweltstandards - für AKWs und fossile Kraftwerke - in Europa festlegen. Wir können nicht akzeptieren, dass z.B. bei der Osterweiterung Atomstrom aus Reaktoren nach Deutschland exportiert wird, deren Sicherheitsstandard selbst die glühendsten AKW-Befürworter in der Union für verantwortungslos halten.

Grill: Da sind wir uns einig. Was Frankreich betrifft, wollen auch wir nicht hinnehmen, dass es seinen eigenen Markt abschottet, aber gleichzeitig seinen Strom weit gestreut exportiert. Zweitens gilt: Wenn wir jetzt einen europäischen Strommarkt haben, dann muss es auch eine europäische Sicherheitskultur geben. Dann kann nicht akzeptiert werden, dass es Wettbewerbsvorteile über Verzicht auf höchstmögliche Sicherheit oder über umweltschädigende Produktion gibt. Aber selbst dann macht ein nationaler Ausstieg aus der Atomenergie keinen Sinn. Denn nicht nur theoretisch könnte es in Deutschland - wegen der Importe - trotz des Abschaltens von AKWs mehr Atomstrom als vorher geben.

"Jedes abgeschaltete AKW ist ein gutes AKW"

Ihre Prognose: Wann geht das erste und wann das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz?

Hustedt: Die ersten werden hoffentlich in dieser Legislaturperiode, die große Masse in 15 Jahren abgeschaltet sein. Setzt sich das Konzept von Umweltminister Trittin durch, könnten dafür wenige neuere AKWs ein paar Jahre länger produzieren.

Grill: Ich halte nur ein Faktum für realistisch: Die Bundesregierung wird keinen Konsens mit der Energiewirtschaft über den Atomausstieg hinbekommen, der unter 30 Jahren Laufzeit liegt. Und sollte das Trittin-Modell Gesetz werden, könnten einzelne AKWs möglicherweise noch bis zum Jahr 2030 am Netz sein. Deswegen muss die Bundesregierung die Entsorgungsfrage jetzt beantworten.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9909/9909010
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