Bildwortmarke des Deutschen Bundestages . - Schriftzug und Bundestagsadler
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 2000 > Deutscher Bundestag - Blickpunkt 05/2000 >
Mai 05/2000
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

menschen im bundestag

Thema mit Variationen

Christina Neunzig – Solistin im Kammerorchester des Parlamentssekretariats

Frau Neunzig ist ohne Musik nicht zu erklären. Das hat was mit Liebe zu tun oder Leidenschaft. Nach drei Stunden Gespräch mit Frau Neunzig ist man sicher, dass Leidenschaft das richtige Wort ist. Für die Arbeit, für die Musik und für die beiden Begriffe, die die Dinge verbinden: Rhythmus und Zusammenspiel. Das müssen die Macher jenes Handbuches des Deutschen Bundestages geahnt haben, als sie die Kurzdefinition des Parlamentssekretariats schrieben. "Das Parlamentssekretariat ist Eingangs-, Ordnungs- und Vermittlungsstelle für alle Initiativen, Anträge und Aktivitäten, die sich auf das Verfahren im Bundestag beziehen: Gesetzentwürfe, Anträge der Abgeordneten und der Fraktionen, Berichte der Ausschüsse und jegliche sonstige Vorlagen nehmen den Weg durch dieses Referat, um hier redigiert, gedruckt und verteilt zu werden."

Christina Neunzig an einer ihrer Lieblingsstätten, dem Berliner Kulturforum
Christina Neunzig an einer ihrer Lieblingsstätten, dem Berliner Kulturforum

Zum Glück ist Frau Neunzigs erste Leidenschaft nicht das Theater. Dann müsste man jetzt schreiben, die Arbeit im Parlamentssekretariat ist der des Inspizienten im Theater vergleichbar. Das klänge einfach zu prosaisch.

Musik ist besser und passt zu Frau Neunzig. Ihre Stimme im Parlamentssekretariat ist wichtig, von ihrem Einsatz hängt ab, ob Harmonie herzustellen ist. Ein falscher Ton von ihr könnte Verwirrung stiften. Auch das müssen die Handbuchschreiber gewusst haben, denn ihre Definition endet mit dem Satz: "Wesentlich ist dabei die Vorbereitung der Sitzungen des Ältestenrates, der sich mit dem Verfahren des Plenums befasst und darüber Verständigungen zwischen den Fraktionen herbeiführt."

Das ist der Aufgabenbereich, für den Christina Neunzig zuständig ist, und um das zu tun, hat sie 13 Quadratmeter Büroraum zur Verfügung. So fängt die Geschichte an.

Die Solistin

Dreizehn Quadratmeter sind wirklich wenig, und gäbe es nicht gegenüber der Eingangstür die Glastüren, durch die man auf einen Innenhof des Reichstages schauen kann, wären es vielleicht zu wenig. Trotzdem bleibt ein Moment der Überraschung beim Betreten des Büros, nachdem man ein weitläufiges Kreuzgewölbe – den Flur – durchschritten hat. Hier also.

An diesem sitzungsfreien Tag trägt Christina Neunzig Beige und Braun und kleine Ausreißerfarben im Schmuck. Ihre Haare haben diesen weichen Blondton, der so gut mit sonnengebräunter Haut harmoniert – elegant-sportlich würde man vielleicht sagen, mit einer Betonung auf elegant. Das sportlich erklärt sich später. Sie ist in Bayern groß geworden, und Ski fahren, ja das ist auch eine Leidenschaft.

Die Arbeit des Parlamentssekretariats hat viel mit Drucksachen zu tun.

Die Arbeit des Parlamentssekretariats hat viel mit Drucksachen zu tun

Die Arbeit des Parlamentssekretariats hat viel mit Drucksachen zu tun
Die Arbeit des Parlamentssekretariats hat viel mit Drucksachen zu tun

Im Innenhof des Reichstages schallen an diesem Tag die Ahs und Ohs der Besucher. Irgendwie ist das Volk jetzt immer bei der Arbeit dabei.

In Bonn war das Parlamentssekretariat in einem Haus mit Garten untergebracht. "Ich hab' mich am Anfang gefragt, wann die Leute in Berlin eigentlich zum Arbeiten kommen. Hier ist man ja nur unterwegs. Andererseits", sagt sie, "fühle ich mich hier nirgendwo einsam. Selbst wenn ich abends spät mit der S-Bahn nach Hause fahre. Auch wenn ich die vielen Menschen manchmal anstrengend finde – das ist doch wiederum beruhigend."

Beruhigend für all die, die auf ihre Arbeit angewiesen sind, wird wohl auch sein, dass sie seit fünfzehn Jahren dabei ist. Eigentlich aber schon viel länger, denn sie ist seit 1965 in verschiedenen Positionen irgendwie immer mit der Politik und dem Bundestag in Verbindung gewesen. Sie hat im Bundeskanzleramt gearbeitet, im Bundespräsidialamt, in einer Fraktionsführung. "Aber das hier", sagt sie, "ist Kärrnerarbeit." Das Parlamentssekretariat hält die Rädchen für ein ordnungsgemäßes Funktionieren eines Parlaments am Laufen.

Man kann schon sagen, Frau Neunzig kennt Gott und die Welt – ihr Vorteil, anderer Nutzen. Wer bei ihr anruft, hat fast immer eine Frage und ist überzeugt, sie beantwortet zu bekommen. Von Frau Neunzig, die beim Telefonieren weiche Gesten macht und manchmal die Stirn runzelt, wenn die eigentliche Frage am anderen Ende der Leitung eher vage formuliert ist. "Ah jetzt", ruft sie dann, "jetzt weiß ich, was Sie meinen." Dann beugt sie den Oberkörper nach vorn und erklärt, während draußen ein Fensterputzer den Duft einer Scheibenwischeranlage in den Raum schickt. Welch ein Bild.

Spannung und Entspannung bestimmen den Rhythmus im Raum. Entspannung ist, sich weit im Stuhl zurückzulehnen und eine Geschichte zu erzählen. Die vom Pflichtgefühl zum Beispiel – "ein archaisches Wort, nicht wahr?" – und von ihrer Mutter. "Meine Mutter hat sich als Witwe mit Disziplin durchs Leben gekämpft. Sie hat das Leben in die Hand genommen und von mir erwartet, das auch zu können und zu tun. Ungeduld ist eine Schwäche und eine Stärke von mir. Für mich geht die Arbeit vor. Wenn sie nicht fertig ist, kann ich nicht gehen."

Bis vor fünfzehn Jahren war Christina Neunzig persönliche Referentin zweier Bundespräsidenten. Irgendwann fiel ihr auf, dass sie bei der Arbeit im Bundespräsidialamt ständig den Parlamentskanal laufen ließ. "Ich hab' mich in den Bundestag zurückgesehnt, trotz der spannenden Arbeit, die ich machte." Eines Tages kam ein Anruf. Sie war stark erkältet, hörte die Stimme nur von ganz weit her. "Kommen Sie zurück ins Leben", sagte die Stimme. Eine einfache Geschichte also.

Ein wenig trauriger klingt die Geschichte vom Klavier. Musik, die zweite Favoritin im Leben, und immer hat sie Klavier gespielt. Aber jetzt? Keine Zeit, viel Üben wäre nötig, um den eigenen Ansprüchen wieder zu genügen. Dort wird nicht geklimpert und auf der Arbeit nicht gekleckert.

Also steht das Klavier unbenutzt, und sie hört Musik. Wenn sie abstressen muss, wenn sie traurig ist, wenn es ihr gut geht, wenn sie Zeit hat. Bach zum Beispiel, Mozart, Händel.

"Wenn ich auf eine einsame Insel nur eine Musik mitnehmen könnte? Das geht nicht, das würde mich unglücklich machen." Aber Bach, den liebt sie schon sehr. Vielleicht würde sie sich doch für ihn entscheiden. Bach, über dessen Musik sein erster Biograf schrieb: "Man machte sich in jener Zeit zur Regel, daß jede Vereinigung von Stimmen ein Ganzes machen, und die zur vollständigen Angabe des Inhalts nothwendigen Töne so erschöpfen müsse, daß nirgends ein Mangel fühlbar sey."

Das Kammerorchester

Das Parlamentssekretariat agiert, um noch bei Bach zu bleiben, nach polyphonem Prinzip. Also melodische Selbstständigkeit aller gleichzeitig erklingenden Stimmen. Das Zusammenspiel ist entscheidend, die Tempi müssen stimmen, denn sie ändern sich ständig, wie in einer Suite. An ganz seltenen Tagen mäßig schnell wie die Allemande – dann gilt es aufzuarbeiten, vorzubereiten, an Sitzungen teilzunehmen, Pläne zu machen. In Sitzungswochen schnell wie die Gigue, Sechs-Achtel-Takt, da gibt es keine Verschnaufpausen. Das Klingeln des Telefons bestimmt den Rhythmus, und alle müssen in der Lage sein, zwei Sachen gleichzeitig zu machen.

"Das geht", sagt Christina Neunzig. Das muss gehen, denn der Arbeitsrhythmus des Parlaments unterliegt festen Regeln: Der Ablauf der Tagesordnung der Plenarsitzung muss perfekt vorbereitet sein, die Drucksachen müssen fristgerecht vorliegen, wie überhaupt vieles an von der Geschäftsordnung vorgeschriebene Fristen gebunden ist. Gesetzentwürfe, Anträge der Fraktionen, Beschlussempfehlungen der Ausschüsse und sonstige parlamentarische Initiativen werden formal geprüft und für die Plenarberatungen aufbereitet. Eine andere bedeutende Aufgabe obliegt dem Parlamentssekretariat im Bereich Fragewesen. So können einzelne Abgeordnete oder Fraktionen Fragen an die Bundesregierung richten, wenn sie bestimmten Zulassungskriterien entsprechen. Bevor der Ältestenrat die Tagesordnung des Plenums für die nächste Sitzungswoche vereinbaren kann, bedarf es umfangreicher und schwieriger Vorarbeiten. Außerdem werden im Ältestenrat, unterstützt von sieben Unterkommissionen, die inneren Angelegenheiten des Bundestages beraten und entschieden.

Von ihrem Büro aus blickt Christina Neunzig in den nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes
Von ihrem Büro aus blickt Christina Neunzig in den nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes

Es wäre vergebliche Liebesmüh zu entscheiden, was das Wichtigste ist. Jeder Bereich im Parlamentssekretariat ist mal mehr wichtig, mal etwas weniger und mal ausschlaggebend für den Ausgang der Dinge.

Und der Ausgang der Dinge spielt sich in der Öffentlichkeit ab.

Da kommt das Wort "reibungslos" ins Spiel oder die Aufgabe, Dissonanzen zu vermeiden. "Ich muss vorab erkennen, wo es vielleicht Ärger geben könnte. In Gesprächen mit den Fraktionen wird dann versucht, einen Konsens zu finden."

Christina Neunzig erzählt dies alles mit großer Gelassenheit. Sie hat so viel von der Welt gesehen, und dies hier ist eben so eine Welt, in der sie sich auskennt, auch wenn die sich ständig ändert. Sie hat die Souveränität, ihrem Gegenüber im Zweifelsfall zu sagen: "Wissen Sie, da muss ich mich auch erst schlau machen, und dann gebe ich Ihnen die Antwort." 669 Abgeordnete sind potenzielle Fragestellerinnen und Fragesteller, hinzu kommen Ressorts, Landesvertretungen, Botschaften, Verbände, Rechtsanwaltskanzleien, aber auch die Bürgerinnen und Bürger.

Nein, es kann nicht auf jede Frage sofort eine Antwort und für jeden Sachverhalt gleich eine Lösung geben. Aber Antworten und Lösungen müssen kommen.

Irgendwann, wenn Christina Neunzig richtig in Berlin angekommen ist, wird sie ab und zu Zeit haben, dorthin zu gehen, wo die Musik spielt: in die Philharmonie, in die Oper, in die Waldbühne zu lateinamerikanischen Nächten, zum Jazz. Jazz? "Hören Sie, ich liebe Jazz. Und wissen Sie was? In New York habe ich 1967 Duke Ellington kennen gelernt." Das kann man sich dann in dem 13 Quadratmeter großen Büro mit Blick auf den Innenhof vorstellen: Duke Ellington in New York.

Gibt es eigentlich noch den Cotton Club in Harlem? Und wird Jungle Style noch gespielt? Also Duke Ellington in New York. Und Christina Neunzig in New York. Und dann erklingt "Take the A-Train". Welch ein Bild.
Kathrin Gerlofa

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0005/0005014
Seitenanfang
Druckversion