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August Extra/2000
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Der Kampf um den Platz in der ersten Reihe

von Werner Sonne

An die Medien haben die Abgeordneten des Reichstages sicherlich nicht gedacht, als sie 1916 endlich gegen den jahrelangen Widerstand von Kaiser Wilhelm II. die Inschrift "Dem Deutschen Volke" an der Stirnseite des Parlamentsgebäudes durchsetzten.

Und schon gar nicht vorstellen konnten sie sich damals, wie massiv diese Medien mehr als 90 Jahre später ihren Anspruch durchsetzen würden, neben den Parlamentariern auch Anwalt dieses deutschen Volkes zu sein – nicht gewählt zwar, aber nicht minder selbstbewusst.

Geübt haben die Journalisten das schon einmal am Rhein, 50 Jahre lang. In Bonn entwickelte sich in der jungen Demokratie ein offener Umgang zwischen Abgeordneten und Presse – unter der oft zitierten "Bonner Käseglocke", unter der man eng beieinander saß, eher vertraut als distanziert, oft eher durch Miteinander als durch ein Gegeneinander bestimmt. Man kannte sich, manchmal vielleicht zu gut, man traf sich, man ging entspannt miteinander um.

Vorbei.

Zahlreiche Journalisten warten auf Politiker. Hier: Untersuchungsausschuss "Parteispenden".
Zahlreiche Journalisten warten auf Politiker. Hier: Untersuchungsausschuss "Parteispenden".

In Berlin ist zwar nicht alles anders. Natürlich trifft man immer noch auf viele vertraute Gesichter, auf allen Seiten – bei den Parlamentariern, bei der Bundestagsverwaltung und auch bei den Journalisten. Und dennoch ist das Klima anders. In der Berliner Republik geht es deutlich rauer zu – und zwar auch auf allen Seiten.

Das hat viele Gründe. Die Bundestagsgebäude in Bonn waren überschaubarer, vor allem das umgebaute Plenargebäude war transparent, offen, die Wege waren kürzer, es gab eingespielte Treffpunkte für Politiker und Journalisten – in der Lobby, im Restaurant, selbst an der Bar.

Anders das Reichstagsgebäude. Sicherlich hat Lord Norman Foster Großes geleistet. Seine Glaskuppel ist der Hit, zu Recht die Massenattraktion für inzwischen Millionen von Touristen, auch für unsere Fernsehkameras immer wieder ein lohnenswertes Objekt.

Aber auch Foster konnte nur mit dem arbeiten, was er vorfand. Und der ehemalige Reichstag ist – im Vergleich zum bescheidenen Bonner Bundestag – nun einmal ein monumentales, wuchtiges Gebäude, in dem ein anderer Geist herrscht, und der strahlt auch auf das Verhältnis zwischen Presse und Parlamentarier aus.

Bisher hat sich noch kein neuer Treffpunkt herausgebildet, wo man sich gerne verabreden möchte, das Hauptrestaurant ist eher kühl, die Cafeteria so schlicht, so bar jeder Atmosphäre, dass man sie eher für eine Studentenmensa halten würde.

Äußerlichkeiten, gewiss, und dennoch passen sie ins Bild.

Und dieses Bild ist gekennzeichnet durch einen sehr viel härteren Umgang, zwischen den Medien und den Politikern, aber auch der Medien untereinander.

Natürlich gab es auch in Bonn schon Wettbewerb, was sich vor allem bei den elektronischen Medien niederschlug. Mit dem Aufkommen des Privatfernsehens wuchs auch dort spätestens seit Beginn der neunziger Jahre langsam, aber stetig der Konkurrenzdruck.

Doch in Berlin hat er eine ganz neue Dimension bekommnen. Auch in der provisorischen Bleibe am Rhein gab es unter den Medien so etwas wie eine Rangordnung, aber da sie über die Jahrzehnte gewachsen war, war sie eher selbstverständlich und wurde kaum wahrgenommen.

Nach dem Umzug aus Bonn ging es um nicht mehr und nicht weniger, wer in dieser neuen alten Hauptstadt Berlin die Nummer eins sein würde – und zwar quer durch die Medien.

Ob öffentlich-rechtliches oder privates Fernsehen, ob überregionale Zeitung oder Lokalblatt – sie alle stritten und streiten um diesen Anspruch: Wer ist das wichtigste, das bestinformierte, das schnellste und – nach Möglichkeit – das Medium mit den exklusivsten Nachrichten?

Bonn hatte keine nennenswerte lokale Medienszene, Berlin sehr wohl. Und so ergab sich mit dem Umzug ein beinharter neuer Wettbewerb, der – und das vor allem war ungewohnt – sich auch auf die Tageszeitungen ausdehnte. Noch immer ringen die Berliner Blätter um den Titel, die Hauptstadtzeitung zu sein, und die großen überregionalen Zeitungen haben ebenfalls eigene Berlin-Seiten eingerichtet und unterhalten große zusätzliche Redaktionsstäbe, die in der Hauptstadt Flagge zeigen sollen.

30 Radiostationen und Fernsehlokalsender sind ebenfalls ständig auf Nachrichtensuche und ergänzen die Szene der auf nationaler Ebene arbeitenden Rundfunk- und Fernsehsender.

Die Folgen sind fast täglich im Reichstagsgebäude – und natürlich überall dort, wo in Berlin Politik gemacht wird – zu besichtigen.

Ist es auch nur halbwegs spannend, rücken dort Dutzende von Fernsehteams an. Auf der Fraktionsebene im 3. Stock finden die Abgeordneten vor den Türen ihrer Fraktionssäle eine geschlossene Wand von Fernsehkameras vor – bis zu 30 und mehr können es durchaus sein, wenn es – wie während der CDU-Parteispendenaffäre – richtig brummt.

Ähnlich das Bild in der Lobby vor dem Plenarsaal. Auch hier lauern die Teams ständig auf den oder die Politiker, die gerade in den Schlagzeilen sind und zu dem entscheidenden politischen Thema des Tages eine Meinung haben oder zumindest haben könnten, oder – wie es im Medienjargon respektlos heißt – irgendwie mit der aktuellen "Sau" zu tun haben, die gerade wieder durchs Dorf getrieben wird.

Beinahe unmöglich ist es inzwischen, irgendwo im Reichstagsgebäude noch einmal in Ruhe mit Mikrofon und Kamera exklusiv ein Interview aufzuzeichnen – sofort kommen die Teams der anderen Fernsehsender gerannt und halten ihre Mikrofone ebenfalls hin. Dabei kann nicht verschwiegen werden, dass darunter nicht eben wenige sind, die nicht einmal wissen, um was es eigentlich gerade geht, geschweige denn, wer da gerade interviewt wird. Hauptsache, man hat den O-Ton auch im Kasten, hat hinterher nichts versäumt, muss sich von der Zentrale keine Vorwürfe machen lassen, man habe eine wichtige Entwicklung verpennt.

Das Gedränge ist so dicht, dass nicht selten ein Geschubse um den besten Platz entsteht. Robuste Ellenbogen sind angesagt. Große Fernsehanstalten, vor allem die öffentlich-rechtlichen, schicken inzwischen mehrere Teams zu einem Ereignis, um immer am Ball bzw. am Abgeordneten dranbleiben zu können, um im richtigen Moment das richtige Bild, das richtige Interview einfangen zu können.

Die Messlatte dafür ist in Berlin deutlich nach oben geschoben worden. ARD und ZDF kämpfen auch untereinander um den Platz in der ersten Reihe, den sie doch ihren gebührenzahlenden Zuschauern immer wieder versprechen.

Und sie haben immer mehr Sendezeit zu füllen, müssen deshalb ihr Angebot an frischen Bildern, frischen Politiker-O-Tönen ständig auf den neuesten Stand bringen, und sie müssen immer schneller sein.

Dazu drängen auch die privaten Fernsehsender mit der Ware Nachrichten immer stärker auf den Markt. Neben dem etablierten Nachrichtensender n-tv ist kürzlich N24 dazugekommen, bei RTL wird ebenfalls über einen eigenen Nachrichtenkanal nachgedacht – die Spirale dreht sich also immer schneller.

Die Medien also Täter und zugleich Opfer einer Entwicklung, die nicht mehr zurückzuholen ist.

Und auf der anderen Seite?

Die geballte Medienmacht hat nach dem Umzug des Parlaments nach Berlin selbst medienerfahrene Abgeordnete überrascht und wohl manchen Bundestagsmitarbeiter unvorbereitet getroffen.

Verunsicherung, Unerfahrenheit und Berührungsängste führten vor allem in den ersten Monaten zu manchem Schlagabtausch. Die Journalisten fühlten sich behindert, falsch verstanden, nicht akzeptiert.

Der Vorstand der Bundespressekonferenz, der Zusammenschluss der in Berlin tätigen politischen Korrespondenten, und das Bundestagspräsidium wurden zu einer besonderen Art von Vermittlungsausschuss, um die Wogen zu glätten.

Seither hat sich vieles zwar eingespielt, die Medien haben sich im Reichstagsgebäude ihren Platz erstritten. Doch die entspannte Selbstverständlichkeit aus den alten Bonner Tagen ist hin.

Aber ist das wirklich ein Verlust?

In der Berliner Republik sind die Trennungslinien zwischen Politik und Medien schärfer, ist der Umgang miteinander härter.

In der Demokratie haben die Medien auch eine wichtige Kontrollfunktion gegenüber der Politik, sie sind nun einmal in die Rolle als vierte Macht im Staate hineingewachsen. Kumpanei kann ihre Sache nicht sein.

Insoweit mag mancher den Bonner Zeiten nachtrauern, für den Bürger kann es eigentlich nur ein Gewinn sein, wenn sich Abgeordnete und Journalisten nicht allzu nahe fühlen.


Werner Sonne.
Werner Sonne.

Werner Sonne,

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bpextra/extr004
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