Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
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Ingrid Scheurmann

Ein Kessel Buntes

Europa schreibt - eine Bilanz

Es ist vielleicht für die viel beschworene Identität Europas bezeichnend, dass sie zwar immer wieder zum Gegenstand von Tagungen und Kongressen, Wissenschaftler- und Künstlertreffen wird, dass sich aber einfassbares "Wir-Gefühl" nicht so recht einstellen will. So berechtigt der Hinweis auf die gemeinsamen Wurzeln von Recht und Religion, Kunst und Architektur auch sein mag, so muss man doch nüchtern konstatieren, dass die Frage der europäischen Identität die meisten Menschen des vormals so genannten Abendlandes nicht wirklich bewegt.

Intellektueller Wunsch und gesellschaftliche Wirklichkeit liegen da noch immer weit auseinander, und das ungeachtet des erfolgreichen Programms der Kulturstädte Europas, des europaweit ausgetragenen Tags des offenen Denkmals oder auch des Literaturexpresses, der im Jahr 2000 unter öffentlicher Beachtung von Lissabon nach Moskau fuhr.

Ambitioniert

Die Körber-Stiftung und das Literaturhaus Hamburg sahen bei ihrem ambitionierten Versuch, namhafte europäische Schriftsteller zu einer Definition Kultur-Europas zu bewegen, in Donald Rumsfelds letztjähriger Pauschalverurteilung des "alten Europa" und den europaweiten Demonstrationen gegen die amerikanische Politik im Irak einen willkommenen Anlass, eine Definition zu wagen, was Europa de facto zusammenhält und was es idealiter zusammenhalten sollte.

"Wann, wenn nicht jetzt wäre es an der Zeit, die Intellektuellen und Schriftsteller Europas ins Gespräch miteinander zu bringen über das, was Europa ist, was es sein könnte, was es sein müsste", so die Herausgeberinnen. Europa, so stellen sie nachdenklich fest, scheint seine Identität derzeit aus seiner Abgrenzung von den Vereinigten Staaten zu beziehen.

Der sorgfältig gemachte Sammelband vereinigt bedeutende Schriftsteller wie Andrej Bitow und Stefan Chwin, Eugenio Fuentes und Durs Grünbein, Adolf Muschg und Robert Schindel. Allerdings gelingt es nur den wenigsten der 33 Repräsentanten zeitgenössischer Literatur, ihren Reflektionen über Europa auch eine eigene literarische Qualität und damit einen über das dokumentarische hinausweisenden Rang zu geben. Zu deutlich prägten die Leitthemen des Symposiums Struktur und Inhalt der Texte, zumal das vorgegebene Sujet doch etwas "aufgesetzt" wirkt.

Literatur lässt sich eben nicht verordnen. Offenkundig treibt auch die meisten Schriftsteller und Übersetzer etwas anderes um als die Frage der europäischen Identität. Die Globetrotter unter ihnen haben sich ohnehin von den tradierten räumlichen und kulturellen Bindungen losgesagt. Andere setzen sich mit Fragen der Sprachenvielfalt, der Übersetzung, der anhaltenden Diskrepanz zwischen Peripherie und Zentrum und der Zugänglichkeit zu den großen Literaturverlagen auseinander.

Assoziationen

Dabei hat die Peripherie ganz unterschiedliche Namen: Für die Vertreter kleiner Länder und selten übersetzter Sprachen kann sie die Begrenztheit eigener Wirksamkeit bedeuten, sie kann aber auch die große politische und ökonomische Diskrepanz zwischen Ländern West- und Osteuropas ansprechen und damit eine Ahnung aufscheinen lassen, dass sich mit dem Wort "Europa" unendliche viele, auch kontroverse Bilder assoziieren lassen.

Beim literarischen Nachdenken über Europa spielen die eigenen Biografien eine große Rolle, ebenso Fragen der Verwurzelung im eigenen Land und in der Muttersprache. Dabei stellt sich schnell heraus, dass die Schriftsteller naturgemäß in ihrem jeweils eigenen Universum leben und denken. So lässt der Band zwar erahnen, wie anregend die einwöchigen Gespräche der Künstler waren, er zeigt aber ebenso deutlich, dass Europa auf dem Weg der Jahrhundertfrage wohl nicht zu einer kulturellen Identität zu verhelfen ist.

Vielleicht lässt sich die Suche nach Identität ja irgendwann wirklich ex negativo beenden, durch eine Klärung des Problems nämlich, wie wir dem Anderen, dem Fremden, begegnen, Vorurteile und Klischees abbauen und ob wir anstelle einer vermeintlichen kulturellen Identität einen Krieg der Kulturen zu gewärtigen haben. Das zumindest ist vielen Schriftstellern ein wirkliches Anliegen. Ingrid Scheurmann Ursula Keller / Ilma Rakusa (Hrsg)

Europa schreibt. Was ist das Europäische an den Literaturen Europas?

Essays aus 33 europäischen Ländern.

edition Körber-Stiftung, Hamburg 2003;

393 S., 18,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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