Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Zur Druckversion .
Franz Schäfer

Der romantische Traum eines kleinen Volkes

Von der Tschechoslowakei zur Slowakei
Im Jahre 1905 hat der Gründer der späteren Tschechoslowakei, der erste Präsident der CSR Tomá\š Garrigue Masaryk in seinem Aufsatz "Probleme eines kleinen Volkes" alle Merkmale zusammengefasst, die das Wesen einer modernen Nation ausmachen: "Sprache, Gebiet, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, schöngeistige Literatur, Wissenschaft, Philosophie, Moral und Religion."

Mit Ausnahme einer autonomen nationalen Wirtschaft, die nur in einem Nationalstaat realisierbar ist, hat die tschechische Nation bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts alle diese Voraussetzungen erfüllt: Sie lebte auf einem relativ geschlossenen Territorium, verfügte über eine hoch entwickelte Schriftsprache, eine Literatur von europäischem Niveau, ein eigenes Schulwesen. Seit der Errichtung der tschechischen Universität in Prag im Jahre 1882 gab es eine eigene Wissenschaft und Philosophie, aktive gesellschaftliche und politische Organisationen (auch politische Parteien) und eine tschechische religiöse und moralische Identität. Die politischen Führer versuchten sie vom Hussitentum, der Gemeinde der Böhmischen Brüder (Comenius) sowie von den Volksaufklärern aus der Zeit der Aufklärung und Romantik trotz der überwiegend katholischen Gesinnung des Volkes abzuleiten.

Ganz anders sah zu dieser Zeit die nationale Identität der Slowaken aus. Auch sie verfügten bereits über Schriftsprache und schöngeistige Literatur. Aber alle Versuche, eigene kulturelle, wissenschaftliche und politische Institutionen zu gründen, wurden durch gezielte Eingriffe der zentralistischen ungarischen Regierung gebremst oder sogar verhindert.

Die Hoffnung beider Völker, einen eigenen Nationalstaat gründen zu können, war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 irreal und wurde von den politischen Eliten abgelehnt. Diese Situation änderte sich mitten im Weltkrieg, als die tschechischen und slowakischen Exilkreise (die tschechische Gruppe um T. G. Masaryk und die slowakische Gruppe, repräsentiert durch Milan Rastislav Štefánik) begriffen hatten, dass die westlichen Mächte Mittel- und Ostmitteleuropa neu gliedern wollten. Im Exil entstand die Konzeption des zukünftigen gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken. Sie basierte auf folgenden Überlegungen:

Die Schaffung einer selbständigen slowakischen Republik wäre im Hinblick auf die soziologische Struktur der Bevölkerung, die Schwäche der politischen Elite und nicht zuletzt die potentielle Gefahr von seiten des zukünftigen ungarischen Staates mit unkalkulierbaren Risiken verbunden gewesen. Dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren, beweist das Jahr 1919. Die Truppen der kommunistischen Ungarischen Räterepublik besetzten einen Teil der Slowakei. Die Invasion konnte nur mit Hilfe der tschechischen Armee beendet werden. Dazu kam die Tradition der so genannten tschechisch-slowakischen "Wechselseitigkeit". Das Tschechische war seit der Gegenreformation (nach 1620) jahrhundertelang die Schriftsprache der slowakischen Protestanten. Viele Slowaken haben an tschechischen Schulen studiert. Nicht zu vergessen ist, dass einige bedeutende Persönlichkeiten des tschechischen politischen und kulturellen Lebens (auch T. G. Masaryk) aus der Slowakei oder dem mährisch-slowakischen Grenzgebiet stammten, sodass auch eine starke emotionale Note hinzutrat.

Am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakische Republik (CSR) ausgerufen und ein Jahr später international anerkannt. Der neu entstandene Staat blieb bis zu seiner Zerschlagung im Jahre 1938 (das so genannte Münchner Abkommen zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland über den Anschluss des Sudetenlandes, das heißt der von deutscher Bevölkerung bewohnten Grenzgebiete an das Deutsche Reich), eine demokratische Republik. Bis heute umstritten ist nur seine Nationalitätenpolitik. Obwohl die CSR sich als nationaler Staat der "Tschechoslowaken" mit mehreren nationalen Minderheiten verstand, war sie in Wirklichkeit, so wie die Habsburger Monarchie, ein multinationaler Staat. Laut Verfassung und Sprachengesetz war sie zwar ein Staat des "tschechoslowakischen Volkes" mit Tschechoslowakisch als Schriftsprache (Tschechisch und Slowakisch wurden für "Dialekte" erklärt), der, wie es der demokratischen Gesellschaftsordnung entsprach, die kulturellen und politischen Rechte der Minderheiten respektierte. Gleichzeitig hatte sie aber alle Züge eines zentralistischen Staatsgebildes, in dem eine Nation, die Tschechen, den Ton angab. Dies lehnten nicht nur die in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen ab, die nach der Gründung der CSR um die Eingliederung in den österreichischen Nationalstaat kämpften und sich nur langsam an die neue Republik gewöhnten. Unzufrieden waren auch große Teile der slowakischen Bevölkerung, also ein Teil des Staatsvolkes, die davon überzeugt waren, dass ihre politischen Rechte nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dabei übersahen die slowakischen Nationalisten, dass sich ihre moderne Nation erst in der CSR voll entfalten konnte: an der 1919 gegründeten Universität von Bratislava haben tschechische Professoren die erste Generation der slowakischen kulturellen und politischen Elite ausgebildet, die slowakischen Kultur- und Wissenschaftsorganisationen konnten ungestört arbeiten. Andererseits dürfen aber politische Fehler der tschechischen Regierungen, vor allem in der Zeit der Weltwirtschaftskrise (nach 1929) nicht übersehen werden.

1935 ersetzte der frühere Außenminister Edvard Beneš (1884 - 1948) den legendären und integrierend wirkenden T. G. Masaryk im Amt des Präsidenten. Seine Politik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sehr unterschiedlich bewertet. Vor allem die sich radikalisierenden Sudetendeutschen, aber auch die tschechischen und slowakischen rechten Kreise lehnten ihn vehement ab. Die politische Rechte warf ihm unter anderem seine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion Stalins vor. Die Deutschen sahen in ihm einen rücksichtslosen Nationalisten, der an der Überwindung der Folgen der Wirtsaftskrise im Sudetenland nicht interessiert war. Heute wird in der Tschechischen Republik diese Kritik als ungerecht empfunden. Es kann aber nicht bestritten werden, dass Beneš der geistige "Vater" der nationalstaatlichen Lösung war.

Nach einer kurzen "Föderalisierung" der um ihre Grenzgebiete beraubten CSR 1938/39 billigte am 14. März 1939 das slowakische Parlament die Bildung einer Slowakischen Republik von Hitlers Gnaden, des ersten Nationalstaates der Slowaken in ihrer Geschichte. Dieser Ständestaat unter der Führung des katholischen Priesters Jozef Tiso (1887 - 1947, hingerichtet), war ein Vasallenstaat der deutschen Nationalsozialisten, der, nicht anders als das Protektorat Böhmen und Mähren die Nürnberger Gesetze Hitlers übernommen und das Dritte Reich teils wirtschaftlich und teils sogar militärisch unterstützt hat. Ob die Anlehnung an Deutschland eine freie Entscheidung der Slowaken oder durch die Furcht vor dem ungarischen Nachbarn motiviert war, ist umstritten. Die erste selbständige Republik der Slowaken ist zweifellos nicht ein Staat, an dessen Traditionen die demokratische Slowakei anknüpfen könnte. Zwar haben die Slowaken in ihrem "National"-Aufstand im Jahre 1944 versucht, sich aus der nationalsozialistischen Umarmung zu lösen. Die Befreiung brachte ihnen aber erst das Kriegsende. Diesen Staat überlebten nur einige in den Jahren 1939 - 1945 gegründete Institutionen, zum Beispiel die Slowakische Akademie der Wissenschaften.

Nach der Wiedererrichtung der CSR kam es zunächst nicht zu einer von den Slowaken erwarteten Föderalisierung des Landes, was wiederum zur Stärkung der nationalistischen Kräfte führte. Doch erst der Prager Frühling (1968/69) brachte den Slowaken die erwünschte Schaffung einer Föderation. Zu dieser Zeit war die Industrialisierung der Slowakei bereits weitgehend abgeschlossen.

Nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 begann ein Kampf um die tschecho-slowakische "Konföderation", einem lockeren Zusammenschluss zweier weitgehend unabhängiger Republiken, die von großen Teilen der tschechischen politischen Elite abgelehnt wurde. Es dauerte drei Jahre, bis die Slowaken, oder genauer gesagt ihr nationalistischer Teil unter der Führung der "Bewegung für eine unabhängige Slowakei" Vladimír Meciars, begriffen hatten, dass ihre Maximalforderungen nicht durchsetzbar waren. Sie entschlossen sich daraufhin, einen souveränen slowakischen Staat auszurufen. Heute kann die Frage, ob der Zerfall der Tschechoslowakei verhindert werden konnte, nicht eindeutig beantwortet werden. Auf der tschechischen Seite gab es zwei Richtungen, die durch die zwei späteren Präsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel und Václav Klaus, repräsentiert werden. Der erste setzte sich für die von den Slowaken zunächst angestrebte Bildung einer Konföderation ein und verlangte ein Referendum, dessen Ergebnis in anbetracht der Mehrheitsverhältnisse in der Slowakei unsicher war. Der Wirtschaftsfachmann und pragmatische Politiker Klaus, der eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung der tschechischen Teilrepublik anstrebte und alle potentiellen Ursachen für politische Instabilität beseitigen wollte, einigte sich aber mit seinem schon immer separatistisch denkenden Gegner Meciar und überzeugte auch die Mehrheit seiner Landsleute, dass eine Trennung unumgänglich sei. Die chaotische politische Entwicklung in dem jungen slowakischen Staat schien auch lange seine Meinung zu bestätigen. Die Ergebnisse des EU-Referendums der Slowaken und die letzten Parlamentswahlen, die zur Stärkung der Demokratie geführt haben, deuten an, dass auch der geduldigere Havel keineswegs im Unrecht war. In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Teilung der Tschechoslowakei den Slowaken möglicherweise geschadet. Sie war aber auch die lange ersehnte Verwirklichung eines romantischen Traums eines kleinen und Jahrhunderte vergessenen mitteleuropäischen Volkes.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.