Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
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Alexandra Freitag

"Ich weiß nicht wirklich, was ein Jude ist"

Das hellhörige Reagieren auf rassistische Äußerungen in Ungarn
"Genetisch gesehen, bist du doch jüdisch?", fragte mich die hochgewachsene Kunsthändlerin kroatischer Abstammung, eine flüchtige Bekannte, während wir durch die verschneiten Straßen von Budapest stapften. Wir kamen von derselben Party und überquerten gerade den vereisten Innenhof einer neuen Wohnsiedlung. Innerlich erstarrte ich zu einem Eiszapfen.

Wie meinst du das, genetisch? Das hat mit den Genen nichts zu tun", sagte ich, ohne auf ihre Frage zu antworten. Sie zuckte zusammen und ging zur Flucht nach vorn über. Seit 400 Jahren sei ihre Familie in Kroatien ansässig, all ihre Ahnen seien auch schon Kroaten. Sie sei genetisch gesehen also eine reine Kroatin. Ich erwiderte, fast überall auf der Welt seien die Völker durchmischt, auch Menschen mit jüdischer Herkunft. Ungeduldig fragte sie nochmals, ob ich nun jüdisch sei oder nicht.

Unterdessen waren wir beim Eingang eines menschenleeren Einkaufszentrums angelangt. Die Kroatin öffnete die Tür, rutschte auf der vereisten Metallschwelle aus und fiel der Länge nach hin. Sie hatte sich den Arm gebrochen. Ich versuchte ihr zu helfen, sie ließ es nicht zu. Sie schnauzte mich an, sie wolle jetzt allein sein. Wütend stieß sie noch aus, das sei nur passiert, weil sie so angespannt gewesen sei. Ich spürte, dass sie insgeheim mir die Schuld für ihren Sturz zuwies, daher beschloss ich, dass es mir nicht leid tat, dass sie den Arm gebrochen hatte.

Natürlich sagt mir mein nichtjüdischer Freund oft, ich sei zu empfindlich. Ob ich jedoch zu hellhörig auf rassistische Äußerungen reagiere, wage ich zu bezweifeln. Von politischer Korrektheit halte ich nicht viel, denn sie ist meistens nicht ehrlich. Den Ungarn sind aber derartige Feinheiten sowieso fremd. Einmal hörte ich in Budapest afrikanischen Straßenmusikanten zu. Jemand rief: "Seid ihr endlich von den Bäumen runtergeklettert?" Die Afrikaner verstanden kein Ungarisch und spielten weiter. In einem ungarischen Witz sagt X zu Y: Weißt du, was die zwei Dinge sind, die ich am meisten hasse? Der Rassismus und die Zigeuner.

Man ist nicht zimperlich in Ungarn. Nicht mit Zigeunern und auch nicht mit Schwulen. Mit den Juden verhält es sich etwas komplizierter, denn die wehren sich. Sie schreiben Artikel und erinnern an die unrühmliche ungarische Geschichte vor und während des Zweiten Weltkriegs. Die ungarischen Faschisten waren die emsigsten Vollstrecker der schrecklichen Anordnungen ihrer deutschen Besetzer.

In meiner Familie ist Gott seit dem Zweiten Weltkrieg tot. Ich wuchs völlig unreligiös auf. Da wir aus Ungarn in den Westen emigrierten, als ich ein kleines Kind war, hatte ich immer Probleme mit meiner Identität. Im Westen hatten wir keine Heimat mehr, keine Religion, keine Sprache. Ich beneidete andere Kinder, die immer am selben Ort gelebt hatten, die gefirmt oder konfirmiert wurden, die bei den Pfadfindern mitmachten. Wir waren nirgends dabei, denn meine Eltern waren der Meinung, die Pfadfinder seien eine paramilitärische Organisation. Mit den praktizierenden Juden hatten wir auch nichts am Hut. Vor den orthodoxen Juden graute es mir. Jüdisch zu sein war für mich etwas rein Privates, Innerfamiliäres, das niemanden etwas anging und das nur einen Zusammenhang hatte mit der Geschichte unserer Familie. In der Genealogie meiner Familie gibt es Sachsen, Armenier, Schwaben und Zigeuner, natürlich alles Nichtjuden. So ist das bei den meisten jüdisch-ungarischen Familien.

Wir sprachen zuhause ungarisch, eine Sprache, die wir alle liebten. Wenn ich meine Eltern mit anderen Leuten Deutsch sprechen hörte, war es mir peinlich, dass sie mit ungarischem Akzent sprachen. Wir hatten zuhause abgemacht, dass wir in der Schule stets sagen würden, wir seien römisch-katholischen Glaubens. Meine Eltern erklärten, mit der jüdischen Herkunft gäbe es nur Schwierigkeiten. Sie erzählten viel vom Krieg, von den Deutschen, den Österreichern und den Ungarn. Von den Waggons, den Todesmärschen, vom Konzentrationslager und den Pfeilkreuzlern.

Jüdischsein war für mich als Kind gleichbedeutend mit Konzentrationslager und Vernichtung. Ansonsten hatte ich keine Ahnung davon, was Juden sind. Auch heute frage ich mich oft, was das eigentlich ist.

Als so genannte Jüdin fühlte ich mich im Westen sehr schlecht in meiner Haut. Allein schon das Wort "Jude" empfand ich als widerwärtig, in meinen Ohren tönte es nach Schlachthof, nach Pornographie, nach Hass. Paradoxerweise passierte es ausgerechnet in Ungarn, dass ich als Mittdreißigerin zum ersten Mal eine Synagoge betrat. Sie ist Europas größter und vermutlich prachtvollster jüdischer Sakralbau. Es gab ein Konzert des Klarinettisten Giora Feidmann, für das mir ein Freund Karten beschafft hatte. Die Synagoge strahlte eine Lebensfreude aus, die ich nicht erwartet hatte. Und die freudig erregten Menschen hatten nichts mit traurigen Ghetto-Insassen zu tun.

Es gibt relativ viele Juden in Budapest, angeblich ist jeder zehnte Hauptstädter jüdischer Abstammung. Die meisten kennen die Geschichte ihrer Eltern, sie verdrängen sie oder haben sie auf die eine oder andere Art verarbeitet. Und sie reden davon. Budapest wurde von jüdischen Ungarn geprägt. Sie haben viele der schönsten Häuser gebaut, den wirtschaftlichen Aufschwung mitgetragen, Politik gemacht, Bücher geschrieben; sie waren Forscher, Ärzte, Anwälte, Arbeiter und Nobelpreisträger. Sie kämpften als assimilierte Patrioten im Ersten Weltkrieg für Ungarn.

Die Tragik der ungarischen Juden ist es, dass diese Assimilation während der faschistischen Ära zerstört wurde. Mein Vater erzählte, dass mein Großvater, ein geachteter Arzt und ehemaliger Offizier, Sonntagvormittag im Kaffeehaus mit dem katholischen Pfarrer, dem Direktor des Gymnasiums und dem Bürgermeister der Vorstadt, in der sie wohnten, Karten spielte. Anschließend wurde der "kleine Gulasch" verzehrt und mit einem Schnaps heruntergespült. Das war vor dem Krieg. In gemischten Ehen in Ungarn nahmen Christen oft die jüdische Religion ihrer Ehepartner an.

Die Debatten um Antisemitismus werden in Ungarn heute offen ausgetragen, roher als im Westen. Ohne gesitteten Deckmantel. In Ungarn konnte ich judenfeindliche Ausfälle hautnah miterleben, auf der Straße, im Taxi, im Laden. Hätte ich offene Gewalt miterlebt, hätte ich vielleicht auch zugeschlagen.

In Ungarn ist Geschichte allgegenwärtig. Im Westen hat man kosmetisch das Meiste in Ordnung gebracht, hier sind die Wunden noch offen. Ich weiß immer noch nicht wirklich, was ein Jude ist.

Alexandra Freitag lebt als Autorin in Budapest.


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