Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Zur Druckversion .
Reinhold Vetter

Ungarns Volkswirtschaft reift heran

Vom Billiglohnland zum Technologie- und Logistikstandort
Nach der Berufung von Tibor Draskovics zum neuen ungarischen Finanzminister meinte der frühere Premier und jetzige konservative Oppositionsführer Viktor Orbán, man habe keine gute Wahl getroffen, da Draskovics Jurist sei. Einer ungarischen Tradition folgend, so Orbán, hätte man einen Ökonomen berufen müssen. Postwendend musste sich der ehemalige Regierungschef in den Medien mangelnde Geschichtskenntnisse vorwerfen lassen. Tatsächlich hieß im Jahre 1848 der erste ungarische Finanzminister der neueren Geschichte Lajos Kossuth. Auch er war Rechtsgelehrter, vor allem aber ungarischer Nationalheld.

Armer Orbán. Bekannt ist auf jeden Fall, dass Draskovics seit langem zu den engsten Vertrauten von Premier Peter Medgyessy gehört. Als wichtigster Berater des Premiers war er seit dessen Amtsantritt an allen relevanten wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen der Regierung beteiligt. Kühl und distanziert dagegen sind seine Beziehungen zu Zsigmond Jarai, dem Präsidenten der Ungarischen Nationalbank. Während Jarai den Konservativen Orbáns nahe steht, zeichnet sich Draskovics durch enge Beziehungen zu den Sozialisten aus, auch wenn ihn die klassischen Linken in dieser Partei als "Neureichen" nicht mögen. Unter Beobachtern in Budapest heißt es, Draskovics sei ein Politiker mit starkem Durchsetzungsvermögen.

Gerade das aber wird er benötigen, wenn es um die anstehende Sanierung der ungarischen Staatsfinanzen geht. Ende 2002, ein halbes Jahr nach der Amtsübernahme durch die linksliberale Regierung von Medgyessy, erreichte das Defizit im Staatshaushalt den stolzen Wert von 9,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Als dieser Wert Ende 2003 immer noch 5,6 Prozent betrug und damit gut einen Prozent über der ursprünglichen Planung der Regierung lag, musste der damalige Finanzminister Csaba Laszlo für Draskovics Platz machen. Der neue Mann soll nun ein Sparprogramm verwirklichen, das die Reduzierung der bislang im Staatshaushalt für 2004 vorgesehenen Ausgaben um 155 Milliarden Forint (etwa 620 Millionen Euro) vorsieht und damit die Senkung des Budgetdefizits auf 4,6 Prozent BIP zum Jahresende ermöglichen soll. Vorgesehen sind insbesondere die Straffung der öffentlichen Verwaltung, die Konzentration auf wesentliche staatliche Investitionen, die Bündelung der Tätigkeit gemeinnütziger Einrichtungen und Stiftungen, sowie Verzicht auf Lohnerhöhungen vor allem im öffentlichen Dienst.

Draskovics betonte, die Einsparungen dürften auf keinen Fall die Erfüllung wesentlicher Aufgaben wie die Gegenfinanzierung von EU-Projekten und die Modernisierung der Infrastruktur des Landes gefährden. Außerdem sollten die Kürzungen der Nationalbank die Möglichkeit geben, die Leitzinsen zum gegebenen Zeitpunkt zu senken und damit einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum zu leisten. Sinken die Zinsen, dann werden auch die Kredite billiger, die Unternehmen zur Finanzierung von Investitionen aufnehmen. Rege Investitionstätigkeit wiederum ist eine wesentliche Grundlage für mehr Wirtschaftswachstum. Aufgrund der defizitären Entwicklung sah sich die Regierung auch veranlasst, ihre ursprüngliche Strategie zur Übernahme des Euro noch einmal zu überdenken. Mitte vergangenen Jahres hatten das Kabinett von Premier Peter Medgyessy und der Währungsrat der Nationalbank beschlossen, dass Ungarn schon im Jahre 2008 der Euro-Zone beitreten solle. In einem solchen Fall müsste das Land die Konvergenz-Kriterien ("Maastricht-Kriterien") bereits 2006 erfüllen. Dazu zählt neben Richtwerten für die Inflation und die längerfristigen Zinsen sowie eine gewisse Währungsstabilität in der Vorbereitungsphase EWS II auch ein maximales Haushaltsdefizit von drei Prozent BIP. Kaum war dieser Beschluss gefallen, häuften sich die Ermahnungen und Warnungen von internationaler Seite. So suggerierte die OECD in ihrem jüngsten Länderbericht über Ungarn, dass die Zeit für einen Verzicht auf den Forint im Jahr 2008 wohl noch nicht reif sei. Bislang ist noch keine Entscheidung darüber gefallen, ob man an 2008 festhalten will oder nicht.

Das große Loch in der Staatskasse geht auf die ziemlich verantwortungslose Haushaltspolitik in der Spätphase der konservativen Regierung unter Premier Viktor Orbán zurück, die von 1998 bis 2002 im Amt war, und auch auf die Frühphase der folgenden Regierung aus Sozialisten und Linksliberalen unter Premier Peter Mesgyessy. Beide Regierungen betrieben mit hohen Staatsausgaben eine nachfragetreibende Wirtschaftspolitik. Während die konservative Mannschaft auf diesem Wege ihre Wiederwahl sichern wollte, griffen deren Nachfolger zum gleichen Mittel, um ihre versprochenen Wahlgeschenke zu verteilen. So wurden beispielsweise die Gehälter im öffentlichen Dienst beträchtlich angehoben, was zu einem Sog führte, dem sich auch die Privatwirtschaft nicht entziehen konnte. Die Konsequenz war eine Steigerung der Reallöhne um 13,6 Prozent im Jahr 2002. Die daraus resultierenden enormen Lohnkostensteigerungen für die Unternehmen, die weit über dem Produktivitätszuwachs lagen, sowie die unsolide Haushaltspolitik und mangelnde Abstimmung zwischen der Regierung und der Nationalbank über finanz- und währungspolitische Fragen brachten die Makrowirtschaft erheblich aus dem Gleichgewicht.

Andererseits hat die nachfragetreibende Politik natürlich zum Wirtschaftswachstum beigetragen. Wenn das reale Wachstum des ungarischen Bruttoinlandprodukts mit 2,9 Prozent im vergangenen Jahr geringer ausgefallen ist als in den Jahren zuvor (2001: 3,8 Prozent, 2002: 3,3 Prozent), dann war das vor allem auf den Rückgang der Exporte nach Westeuropa zurückzuführen. Dieses Nachlassen des Wachstums hätte noch stärker sein können, wenn es nicht eine regere Inlandsnachfrage gegeben hätte, die eben auf die starke Steigerung der Reallöhne und die höheren Investitionen des Staates zurückging. In diesem Jahr stellt sich die Situation umgekehrt dar. Während der private Verbrauch wegen der stagnierenden Realkommen eher schwächer wird und die öffentlichen Investitionen aufgrund von Haushaltsrestriktionen zurückgehen, wird der Export wegen der konjunkturellen Erholung in Westeuropa stärker. Die Nationalbank prognostiziert inzwischen ein BIP-Wachstum von 3,2 Prozent in diesem Jahr und 3,6 Prozent im nächsten.

Ist Draskovics also der Mann, der Ungarn wieder auf den Pfad der makroökonomischen Tugend zurück-führen kann? Vordergründig spricht alles für ihn. Als Vertrauter von Premier Peter Medgyessy gehört er zu den Ministern mit dem größten politischen Gewicht. Seine altbewährten Kontakte zu den führenden Politikern der sozialistischen Partei erleichtern ihm die Überzeugungsarbeit, wenn es darum geht, die Mitglieder dieser Partei auf den jeweiligen Kurs der Regierung einzuschwören. Und die MSZP ist die entscheidende politische Basis des Kabinetts von Medgyessy, auch wenn der Premier selbst etwas Abstand zur Partei hält. Im unternehmerischen und finanzwirtschaftlichen Establishment Ungarns kennt man Draskovics als Macher, der vieles bewegen kann. Doch sein Erfolg oder Misserfolg wird letztendlich davon abhängen, welche Strategie die Regierung und die MSZP einschlagen werden, um bei den Parlamentswahlen 2006 ihre Wiederwahl zu sichern. Nach dem Systemwechsel vor 15 Jahren war es immer so, dass die jeweilige Regierungspartei im Vorfeld von Wahlen das makroökonomische Verantwortungsbewusstsein vergaß und die Wähler mit Wahlgeschenken lockte, die dann das Loch im Staatshaushalt vergrößerten. Das gilt für die Konservativen um Expremier Viktor Orbán ebenso wie für die Sozialisten.

Im Laufe des Jahres 2003 hat sich in Ungarn auch eine rege Diskussion über die Vor- und Nachteile des Landes als Standort ausländischer Direktinvestitionen entwickelt. Wichtigster Anlass dafür war die Tatsache, dass der Zufluss ausländischen Kapitals 2002 für Ungarn weitaus weniger erfolgreich verlief als für seine ostmitteleuropäischen Nachbarn. Dieser Trend hat sich im vergangenen Jahr fortgesetzt. Während Tschechien in 2003 einen Zufluss von etwa 5 Milliarden US-Dollar verzeichnete, entfielen auf Polen 1,8 Milliarden. Außerdem veranlasste die weltweit eher schwache Konjunktur namhafte Unternehmen, ihre Produktion in Ungarn zu verringern oder gar abzuziehen und in weiter östlich gelegene Länder sowie nach Asien zu verlagern. Dazu zählten besonders Konzerne der Elektronikbranche wie IBM, Kenwood und Phi-lips, aber auch Unternehmen der Leichtindustrie wie Konfektions- und Schuhhersteller.

Wenn quantitativ der Zustrom ausländischen Investitionskapitals nach Ungarn nachgelassen hat, dann geht das vor allem darauf zurück, dass das Land gegenüber einigen anderen künftigen EU-Mitgliedern Ostmitteleuropas an komparativen Standortvorteilen verloren hat. So stiegen die durchschnittlichen Monatslöhne (in Euro) 2001 - 2002 in Ungarn um 49 Prozent, während die Arbeitsproduktivität nur um zehn Prozent zunahm. In Polen und Tschechien betrug der Lohnzuwachs im gleichen Zeitraum etwa 25 Prozent.

Ein weiteres spürbares Hindernis für Neuinvestitionen aus dem Ausland war der verstärkt in Erscheinung tretende Mangel an qualifizierten Fachkräften im gewerblich-technischen Bereich und auch in den kaufmännischen Berufen. Auch bei der Modernisierung des Steuersystems, dessen Struktur und Qualität immer einen starken Einfluss auf Investitionsentscheidungen haben, verlor Ungarn insbesondere gegenüber der Slowakei an Boden.

Es wäre allerdings voreilig, aufgrund des nachlassenden Zustroms ausländischer Direktinvestitionen auf eine sinkende Attraktivität Ungarns für internationale Investoren und damit auf eine grundsätzliche Standortverschlechterung gegenüber anderen künftigen EU-Mitgliedern in dieser Region zu schließen. So war ein beträchtlicher Teil der Investitionen, die in den Jahren 2001 und 2002 nach Tschechien, Polen und in die Slowakei geflossen sind, Ausdruck des dortigen Privatisierungsprozesses, den Ungarn seinerseits bis dahin schon weitgehend hinter sich gebracht hatte. Die anderen Länder holten gewissermaßen nur das nach, was in Ungarn schon erledigt war. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Bewertung eines Landes als Investitionsstandard sind Re-Investitionen. Es spricht für das längerfristige Vertrauen, das ausländische Investoren ihrem Gastland entgegenbringen, wenn sie Erträge nutzen, um ihr Engagement vor Ort quantitativ und qualitativ auszubauen. Dies lässt sich gerade in Ungarn beobachten. Audi, Bosch und Flextronics sind nur einige der internationalen Unternehmen, die bis Ende 2004 beträchtliche Summen in den Ausbau ihrer ungarischen Produktionsstätten investieren wollen.

Von großer Bedeutung ist schließlich, dass sich die Struktur der ausländischen Direktinvestitionen in Ungarn ändert. So entschlossen sich im vergangenen Jahr mehr und mehr internationale Unternehmen, Niederlassungen in Ungarn einzurichten, die als Dienstleistungs-, Logistik- und Distributionszentrale für Südosteuropa oder Ostmitteleuropa fungieren. General Motors, General Electric und British American Tobacco sind nur einige der weltweit agierenden Konzerne, die dem Standort Ungarn zentrale Bedeutung in der Region eingeräumt haben. In Ungarn hat also ein Wandel vom Billiglohnland zur modernen Industriegesellschaft eingesetzt, in der technologieintensive Produktion, Forschung und Entwicklung sowie Logistik und Distribution die verlängerte Werkbank ablösen. Wenn ein führender Investor wie Audi sein Entwicklungszentrum für Motoren im westungarischen Györ weiter ausbaut, dann kennzeichnet das sehr gut die Entwicklung. Die OECD beobachtet eine zunehmende Attraktivität Ungarns gerade für solche privatwirtschaftlichen Forschungszentren. Unter den Mitgliedern der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer wächst der Anteil der Firmen, die sich mit Handel und Dienstleistung befassen, auf Kosten der in der Produktion tätigen Unternehmen. Viele Mitgliedsfirmen der Kammer, sowohl deutsche wie ungarische, berichten weiterhin, dass sie von einer Phase der extensiven Eroberung ihrer jeweiligen Märkte in eine Phase der intensiven Durchdringung eingetreten sind. Das bedeutet nichts anderes, als dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen verfeinern und konkurrenzfähiger machen. Strukturell reift die ungarische Volkswirtschaft heran. Der Ökonom Andras Inotai spricht von einer Phase der wirtschaftlichen Modernisierung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.